Nachrichten & Themen
Mediathek & TV
Audio & Radio
SachsenSachsen-AnhaltThüringenDeutschlandWeltLeben

Housing FirstUmdenken in der Wohnungslosenhilfe: Zuhören statt Bevormunden

17. Januar 2023, 10:00 Uhr

Mehr als 262.000 Menschen waren Anfang 2022 in Deutschland wohnungslos. Das hat der erste Wohnungslosenbericht der Bundesregierung ergeben. Dieser Bericht gehört zu den Maßnahmen, die gemeinnützige Verbände seit Jahren zur Bekämpfung von Wohnungslosigkeit fordern. Denn wie soll man ein Problem lösen, dessen Ausmaß man nicht einmal kennt? Dass es ihn nun gibt, bringt Bewegung in die Wohnungslosenhilfe - Bewegung, die auch in sächsischen Hilfsprojekten und Lösungsansätzen sichtbar wird.

Als wohnungslos gilt in Deutschland, wer keine eigene, mietvertraglich abgesicherte Wohnung hat. Wohnungslosigkeit ist aber nicht gleich Wohnungslosigkeit. Es gibt wohnungslose Menschen, die gar keine Unterkunft haben, also auf der Straße, in ihrem Auto oder in Abbruchhäusern leben. Es gibt auch Menschen ohne eigene Wohnung, die bei Bekannten oder Verwandten unterkommen. Hier wird oft von "verdeckter" Wohnungslosigkeit gesprochen, weil sie weder offen sichtbar noch bei den Behörden statistisch erfasst ist.

Und auch Menschen, die von Kommunen oder freien Trägern untergebracht werden und Menschen, die zum Beispiel in Frauenhäusern oder Haftanstalten leben, also in Unterkünften, die nicht dafür gedacht sind, dauerhaft dort zu wohnen, gelten als wohnungslos. Diese letzten beiden Gruppen lassen sich, im Gegensatz zu den ersten, allerdings ganz gut zählen, weil sie in staatlichen oder freien Einrichtungen untergebracht sind.

Obdachlos oder wohnungslos: Wo ist der Unterschied?

Obdachlos ist ein wohnungsloser Mensch, der keine Unterkunft hat, also zum Beispiel auf der Straße oder in seinem Auto lebt. Alle obdachlosen Menschen sind wohnungslos aber nicht alle wohnungslosen Menschen sind obdachlos. Nach Hochrechnungen des Wohnungslosenberichtes der Bundesregierung sind mehr als 262.000 Menschen in Deutschland wohnungslos, 37.400 von ihnen sind obdachlos.

Wohnungslosigkeit in Sachsen

Wer kein Dach über dem Kopf hat, lebt eine "versteckte Existenz" - so formuliert es der Vorstandsvorsitzende der Diakonie Sachsen, Dietrich Bauer. "Ich habe dann niemanden, der mich begleitet, ich falle aus allen sozialen Zusammenhängen. Und damit werden alle anderen Probleme quasi unhändelbar." Wer keine Adresse hat, verliert in vielerlei Hinsicht den Zugang zur Gesellschaft, kann zum Beispiel nicht an Wahlen teilnehmen oder Sozialsicherung beantragen.

Betroffene können sich an verschiedene Einrichtungen wenden, zum Beispiel an die Diakonie. Bei der Diakonie Sachsen suchten 2022 nach eigenen Angaben mehr als 3.000 Menschen Hilfe, darunter auch 200 Familien mit Kindern. Im bundesweiten Vergleich liegt Sachsen in Sachen Wohnungslosigkeit im unteren Drittel: Auf 1.000 Einwohner kommen 0,4 wohnungslose Personen. Bei Spitzenreiter Hamburg sind es 10,2 wohnungslose Personen je 1.000 Einwohner.

Alles anzeigen

Tagestreff Oase Leipzig

Eine der diakonischen Einrichtungen ist die Oase in Leipzig, ein sogenannter Tagestreff, der täglich von 8 bis 16 Uhr geöffnet ist. Wer Hilfe braucht, findet dort einen warmen Aufenthaltsraum, ein günstiges warmes Essen und Duschen. Wer möchte, kann die Oase auch als seine Adresse angeben und bekommt so die Möglichkeit, Sozialleistungen zu beantragen.

Leiter Benjamin Müller erzählt, man versuche, den Gästen bei der Suche nach einer Wohnung zur Seite zu stehen, doch einfach sei das nicht: "Es gibt keinen geraden Weg von der Straße in eine Wohnung." Das hänge mit dem großen Mangel an Wohnraum zusammen, aber auch damit, dass die Betroffenen neben der Wohnungslosigkeit noch viele andere Nöte mit sicher herumtrügen: "biografische Aspekte, Frustration, seelische Nöte und oft auch Suchtkrankheiten", zählt Müller auf.

Wer aus der Wohnungslosigkeit raus will, muss Müller zufolge zunächst die eigene Problemlage akzeptieren und dann bereit sein, sich Hilfe zu holen. "Es braucht aber auch eine gesellschaftliche Bereitschaft, sich über soziale Schichten hinweg miteinander zu befassen", sagt der Leiter des Tagestreffs. Nur so könne die Gesellschaft offener und zugänglicher für alle werden.

Leipzig: Mehr zuhören, weniger bevormunden

Die Stadt Leipzig hat erst Ende 2022 einen neuen "Fachplan Wohnungsnotfallhilfe" für 2023 bis 2026 verabschiedet. Darin finden sich 29 Maßnahmen, die laut Katharina Krefft von den Grünen "einen Paradigmenwechsel" im Umgang mit Wohnungslosigkeit darstellen. Im Gegensatz zu vorhergehenden Hilfsplänen, setze dieser nämlich eher auf unbürokratische Hilfe statt Bevormundung, bemühe sich um Inklusivität und beziehe auch die Betroffenen in den Prozess mit ein.

Ich glaube, dass wir zu sehr Lösungen vordenken, die vielleicht gar nicht dem echten Bedarf oder aber auch nur den sehr bescheidenen Wünschen der Betroffenen gerecht werden.

Benjamin Müller | Leiter der Oase Leipzig

Zu den beschlossenen Maßnahmen gehören unter anderem:

  • die ganztägige Öffnung von und mehr Barrierefreiheit in Übernachtungshäusern
  • die Verstetigung von Übernachtungsmöglichkeiten für Obdachlose mit Tieren
  • die Verbesserung der Notunterbringung von Frauen und LSBTI*-Personen
  • das Anbieten eines Schulungsangebots zum Wohnen für junge Menschen
  • Möglichkeiten zur Mitbestimmung von Betroffenen in Einrichtungen der Wohnungsnotfallhilfe

*LSBTI ist eine Abkürzung für Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen.

Benjamin Müller von der Diakonie lobt das Vorgehen der Stadt Leipzig: "Die Stadt hat die Entwicklungen der letzten Jahre erkannt und die entsprechenden Schlüsse gezogen." Er sagt aber auch, er befürchte, der aktuelle Fachplan hinke den realen Verhältnissen einige Jahre hinterher.

Müller wünscht sich vor allem ein vorausschauenderes Agieren der politisch Verantwortlichen. Und auch er plädiert dafür, die Betroffenen mehr in die Entwicklung von Lösungen einzubeziehen: "Ich glaube, dass wir zu sehr Lösungen vordenken, die vielleicht gar nicht dem echten Bedarf oder aber auch nur den sehr bescheidenen Wünschen der Betroffenen gerecht werden."

So einer mit bescheidenen Wünschen ist zum Beispiel Heiko, 57 Jahre alt. Er sitzt im Aufenthaltsraum der Oase, trägt Schiebermütze, einen gepflegt gestutzten grauen Bart und ein nettes Lächeln. Heiko geht es besser als vielen Gästen der Oase, denn er hat inzwischen eine Wohnung, 1,5 Zimmer in Schönefeld. Doch das hat eineinhalb Jahre gedauert.

Eine Zeit, in der Heiko sich einfach nur ein bisschen Sauberkeit und Ruhe gewünscht habe: "In der Unterkunft, wo ich war, das war so schmutzig, ich musste da raus. Also hab ich gekämpft", erzählt er. Geschafft habe er es durch die Hilfe der Sozialarbeiter, die sich seines Falls angenommen hätten. In die Oase komme Heiko für das warme Essen und die Gesellschaft. Er sei oft einsam, erzählt der Mann, der die anderen Gäste mit seinen Fragen ständig zum Lachen bringt: "Wie sagt man Postbote ohne O? Briefträger." Fotografiert werden will er nicht. "Da platzt nur die Linse", lacht er.

Housing First in Sachsen

Sozusagen das Kronjuwel der Leipziger Maßnahmen gegen Wohnungslosigkeit ist das Modellprojekt "Eigene Wohnung", das 2021 gestartet wurde und den "Housing-First"-Ansatz erproben soll. "Housing-First bedeutet, man gibt obdachlosen Menschen eine mietvertraglich abgesicherte Wohnung ohne dies an irgendwelche Bedingungen zu knüpfen", erklärt Sindy Görke, Sachbearbeiterin beim Sozialamt und Projektkoordinatorin.

Die Menschen bekommen also erstmal ein Dach über dem Kopf, alles andere folgt später. Also beispielsweise eine Sucht-Therapie oder das Begleichen von Mietschulden. So wurden in Zusammenarbeit mit der kommunalen Wohnungsgesellschaft 25 Wohnungen an wohnungslose Menschen vermittelt, die, wenn sie das möchten, auch durch Sozialarbeiter betreut und unterstützt werden. Finanziert wird der Wohnraum entweder durch eigenes Einkommen oder durch Sozialleistungen.

Diakonie: Mehr Bewerbungen als Plätze bei Modellversuch

Das Modellprojekt läuft bis 2024, wird wissenschaftlich begleitet und evaluiert. Wird am Ende des Modellprojektes "Eigene Wohnung" eine positive Bilanz gezogen, soll der "Housing-First"-Ansatz fester Bestandteil der Maßnahmen gegen Wohnungslosigkeit in Leipzig werden. Der "Fachplan Wohnungsnotfallhilfe" sieht vor, in diesem Fall auf 50 Wohnungen aufzustocken.

Sindy Görke ist schon jetzt überzeugt, dass das Projekt "Eigene Wohnung" vor allem für wohnungslose Menschen mit multiplen Problemen wie Abhängigkeiten, anderen Krankheiten und Mietschulden ein wichtiges Hilfsangebot ist. Auch von der Diakonie wird das Projekt gelobt. Oase-Leiter Benjamin Müller gibt aber auch zu bedenken, dass das Projekt weit hinter dem tatsächlichen Bedarf zurückbleibe: "Allein in der ersten Projektphase gab es 160 Bewerbungen auf 25 Plätze."

Bei diesem Inhalt von Youtube werden möglicherweise personenbezogene Daten übertragen. Weitere Informationen und Einstellungen dazu finden Sie in der Datenschutzerklärung.

Auch in Dresden gibt es ein Housing First Projekt, die ersten Mietverträge wurden 2021 unterzeichnet. Anfang dieses Jahres soll nun entschieden werden, wie es nach der Pilotphase weitergeht.

Die Organisation BettelLobby kritisierte das Projekt wiederholt, weil es zu viele Ausschlusskriterien gebe. So sind etwa Menschen mit "schwerwiegenden" Suchtproblemen von dem Projekt ausgeschlossen. Der Abteilungsleiter des Dresdner Sozialamtes, Christian Knappe, betonte jedoch gegenüber der "Sächsischen Zeitung", dass eine Suchterkrankung kein grundsätzliches Ausschlusskriterium sei, sie dürfe nur die Fähigkeit, Absprachen einzuhalten, nicht erheblich beeinträchtigen." Drei der Wohnungen seien an Menschen mit Suchterkrankungen vermittelt worden.

Mehr zum Thema

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN | MDR SACHSENSPIEGEL | 17. Januar 2023 | 19:00 Uhr

Kommentare

Laden ...
Alles anzeigen
Alles anzeigen