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Wenn Menschen Pflege benötigen, regelt ein Pflegevertrag alles zwischen dem Betroffenen und dem Pflegedienst. Weil Personal fehlt, kündigen Pflegefirmen offenbar immer häufiger von sich aus die Verträge. Und die Betroffenen geraten in Not. (Symbolfoto) Bildrechte: picture alliance / David Hecker/dpa | David Hecker

PflegenotstandPflegedienst kündigt: MS-Kranke aus Dresden sucht verzweifelt Hilfe

10. September 2022, 08:00 Uhr

Von 22 Uhr abends bis morgens um acht allein im Rollstuhl, kein Essen, kein Trinken: So habe sich Nina N. in ihrer Wohnung in Dresden wiedergefunden. Die 41-Jährige leidet an Multipler Sklerose, einer Krankheit, die das zentrale Nervensystem und damit Gehirn und Rückenmark angreift. Laut Vertrag hätte der Pflegedienst für sie da sein sollen, in Eins-zu-Eins-Betreuung, 24/7. "Teilweise haben sie mich alleingelassen", sagt Nina. Dann kündigt der Pflegedienst den Vertrag. Der Grund: Personalmangel.

Nach der Kündigung ihres Pflegedienstes bleibt Nina N. ein Monat, um einen neuen Dienst zu finden. Eigene Familie im Hintergrund, die sie dabei unterstützen könnte, ist nicht vorhanden. Unmöglich, sagt sie: "Ich bin auf die Pflege angewiesen. In einem Monat etwas Neues zu finden, ist hoffnungslos. Die Pflege ist am Ende."

Die Pflege ist am Ende.

Nina N. | Pflegebedürftige, die an MS erkrankt ist

Pflegeschutzbund beobachtet vermehrte Kündigungen durch Pflegedienste

Je nach Bundesland dürfen Pflegedienste ihre Arbeit erst beenden, wenn sichergestellt ist, dass die Pflegebedürftigen von einem neuen Dienst versorgt werden. In Sachsen legt das der Landesrahmenvertrag ambulante Pflege fest. "Allerdings ist die Formulierung recht schwammig", heißt es vom BIVA Pflegeschutzbund auf Anfrage vom MDR SACHSEN. "Eine tatsächliche Pflicht zur Weiterversorgung nach Kündigung des Pflegevertrages ist nicht ausdrücklich geregelt."

Kündigungen durch Pflegedienste nehmen laut BIVA Pflegeschutzbund stark zu. Bildrechte: IMAGO / photothek

Bisher seien Kündigungen von Pflegeverträgen kein großes Thema gewesen, so der BIVA Pflegeschutzbund. In letzter Zeit nehme es allerdings stark zu, dass Pflegedienste ihren Patienten kündigten. Der AOK PLUS für Sachsen und Thüringen liegen währenddessen keine validen Zahlen zu solchen Kündigungen vor. Fälle würden nicht erhoben, heißt es auf Anfrage von MDR SACHSEN bei der Krankenkasse.

Anzeige wegen unterlassener Hilfeleistung

Für Nina N. und andere Betroffene heißt das: Weitersuchen. In der Zwischenzeit zeigt sie die Pflegefirma an, wegen unterlassener Hilfeleistung während der Zeit, in der sie noch hätte versorgt werden sollen. Der Pflegedienst möchte auf Anfrage von MDR SACHSEN keine Stellung zu dem Fall nehmen.

Die Krankenkasse schlägt Nina N. vor, ins Pflegeheim umzuziehen. Wäre das bei einer notwendigen 24-Stunden-Betreuung nicht die beste Lösung? "Ich habe gesagt: Gute Frau, da komme ich gerade her", erzählt die Dresdnerin. 17 Monate lang habe sie in einem Pflegeheim gelebt, aber mit dem Ziel, selbstbestimmt wieder Zuhause einzuziehen.

Was können Betroffene gegen Kündigungen tun?

In Fällen wie bei Nina N. rät der Pflegeschutzbund, die örtliche zuständige Heimaufsicht zu kontaktieren: Die sei zwar eigentlich nicht zuständig, habe aber eine gewisse Wirkung auf die Pflegedienste. "Mehr Einfluss haben die Pflegekassen, mit denen ein Pflegedienst ja einen Versorgungsvertrag abschließt. Letztlich bleibe aber nur die Anrufung des zuständigen ordentlichen Gerichts mit dem Antrag, eine einstweilige Verfügung zur Weiterversorgung zu erlassen", so der Pflegeschutzbund.

Der Fall von Frau N. ist ein absolutes Highlight im negativen Sinne.

Heiko Goldhahn | Pflegeassistent

Unterstützung hat Nina N. derzeit von einer gerichtlich bestellten Betreuerin und einem Einzelassistenten. Vier Mal am Tag kommt die Arbeiterwohlfahrt (AWO) für die medizinische Pflege. Eine zusammengepuzzelte Übergangslösung: "Der Fall von Frau N. ist ein absolutes Highlight im negativen Sinne", sagt ihr Assistent Heiko Goldhahn. Auch er erzählt von Pflegediensten, die vermehrt zeitintensive Leistungen absagen, die sie bisher erbracht hätten, weil die Arbeit nicht mehr zu schaffen sei. "Das geht natürlich komplett zu Lasten der Pflegebedürftigen", sagt Goldhahn.

Zunehmend nähmen Pflegedienste zeitintensivere Leistungen aus ihrem Angebot, meint Heiko Goldhahn. Bildrechte: IMAGO / Westend61

Mangel im Pflegepersonal steigt bis 2030 weiter

Laut Zahlen des sächsischen Sozialministeriums steigt der Pflegebedarf im Land rapide: Bis 2030 werden zwischen 28,6 Prozent mehr Beschäftigte in der ambulanten Pflege und bis zu 39,1 Prozent mehr Beschäftigte in der stationären Pflege gebraucht. Die Krankenkasse Barmer geht in ihrem neuen Pflegereport derweil davon aus, dass in Sachsen bis 2030 etwa 73.000 Pflegekräfte gebraucht werden.

Sozialministerium: Maßnahmenbündel notwendig

Was Heiko Goldhahn einen Pflegenotstand nennt, ist für das sächsische Sozialministerium "eine große Herausforderung". Auf Anfrage von MDR SACHSEN teilt das Ministerium mit, es brauche ein ganzes Maßnahmenbündel, um dem Personalmangel im Pflegebereich zu begegnen. Lösungen seien dabei faire Bezahlung, bessere Arbeitsbedingungen und Ausbildungsmöglichkeiten und das Anwerben von ausländischen Fachkräften.

KSV entscheidet über "persönliches Budget"

Mittlerweile ist Heiko Goldhahn zwischen zehn und zwölf Stunden am Tag bei Nina N. Im Oktober wird er drei neue Beschäftigte einstellen und als 24-Stunden-Pflegedienst für Nina N. einspringen. Bezahlt werden soll das Ganze über das sogenannte persönliche Budget, das vom Kommunalen Sozialverband Sachsen (KSV) bewilligt werden kann. Dieses Budget steht Menschen mit Behinderung zu, mit dem Ziel ihre Selbstbestimmung zu stärken. So soll ihnen eine freie Entscheidung darüber ermöglicht werden, welche Leistungen sie zu ihrer Unterstützung erhalten bzw. einkaufen wollen. Die Verhandlungen über Nina N.s persönliches Budget laufen. "Ich bin gespannt", sagt sie.

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MDR (lst)

Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | EXAKT | 07. September 2022 | 20:51 Uhr