Pandemiefolgen Eltern fordern ehrliche Bestandsaufnahme in Sachsens Schulen

05. April 2022, 15:48 Uhr

Kultusminister Christian Piwarz will in Sachen Bildung wieder Fahrt aufnehmen und stellt klar, dass sich Schule in Sachsen anders gestalten muss als vor der Pandemie. Von einer "verlorenen Generation" mag er im dritten Corona-Jahr allerdings nicht sprechen. Schüler und Lehrer sehen die Entwicklung deutlich kritischer. Sie befürchten, dass die Lücken erst viel später sichtbar werden. Ausbildungsbetrieben fällt es schwer zu beurteilen, ob es coronabedingte Wissenslücken bei Schulabgängern gibt.

Corona hat nach Einschätzung von Kultusminister Christian Piwarz keine "verlorene Generation" von Schülerinnen und Schülern hervorgebracht. Der CDU-Politiker sagte: "Wer die Oberschulen und Gymnasien verließ, hatte vollwertige Abschlüsse in der Tasche." Man habe bei der Qualität keine Abstriche gemacht. "Wegen Corona wurde keine Prüfungsaufgabe verändert", so Piwarz. Eine gezielte Prüfungsvorbereitung habe bei den Abschlussklassen sogar zu einem besseren Notendurchschnitt geführt.

Ziel bleibt: Keine flächendeckenden Schulschließungen

Piwarz vertritt die Meinung: "Wir hätten nur dann eine verlorene Generation produziert, wenn wir etwa ein Notabitur angeboten hätten. Doch das ist nicht geschehen." Er räumte aber ein, dass Corona im Schulsystem wie eine Bremse wirkte: "Umso wichtiger ist es, jetzt wieder Fahrt aufzunehmen." Alle Kultusminister hätten dafür plädiert, die Schulen trotz der Infektionen offen zu halten. Schon seit einem Jahr gebe es keine flächendeckenden Schulschließungen mehr. Dieses Ziel sei nach dem Frühjahr 2021 vereinbart worden.

Es war nach dem Frühjahr 2021 klar, dass wir uns das nicht noch einmal erlauben können - weder mit Blick auf die Kinder und Eltern, noch auf das Schulsystem insgesamt.

Landeselternrat widerspricht Minister

Der Landeselternrat widerspricht dem Minister und stellt hierfür eine ganze Liste von Kritikpunkten auf, vor allem fehle eine Datenanalyse:

  • Es habe bis heute keine Lernstandserhebungen in allen Klassenstufen und bezogen auf jedes Fach gegeben. Man wisse schlicht nicht, wo welches Kind welche Lerndefizite hat.
  • Das finanziell gut ausgestatte und verwaltungstechnisch einfach zu handhabende Programm "Aufholen nach Corona" wird vor diesem Hintergrund ohne Daten als Erfolg dargestellt. Jedoch wisse man nicht, in welchen Fächern wie viele Kinder an welcher Schule unterstützt werden. "Was wir wissen, dass es im ländlichen Raum mancherorts gar keine Unterstützungsangebote gibt, an anderen Schulen managen es die Elternräte - ohne Zuarbeit der Fachlehrer."

Mutter hilft Tochter, die zu Hause Schularbeiten macht
Eltern wurden zu Lehrern, wenn das Schulsystem in der Pandemie versagte und Online-Unterricht anfangs nicht funktionierte. Bildrechte: Colourbox.de


  • Der Abschlussjahrgang 2020 sei mit dem 2021 "gar nicht seriös vergleichbar". Während der Jahrgang 2020 deutlich weniger von der Pandemie betroffen war, sich ohnehin im Prüfungsjahr befand, nehme "die Dramatik von Lerndefiziten zu den Jahrgängen 'nach unten hin' zwangsläufig zu". Der 2021er-Jahrgang hatte schon ein Corona-Jahr hinter sich, als das Abschlussjahr begann.
  • Die zu erbringenden Prüfungsleistungen waren zum Teil angepasst worden, ebenso wurde Lernstoff verringert.
  • In der Betrachtung des Ministeriums fehlen auch die Förderschulen, deren Schüler keinen abrechenbaren Abschluss erlangen. Hier fiel den Eltern die Beschulung zu Hause besonders schwer.
  • Beim Minister fehle der Blick auf die Grundschulen - die 4. Klassen seien "ein wichtiger Indikator, welcher die Situation an unseren Schulen spiegelt". Laut einer Studie der Uni Dortmund gebe es Defizite bei der Lesekompetenz. "Wie es in Sachsen genau und auch in anderen Fächern aussieht, wissen wir nicht", beklagen die Eltern.

Der Landeselternverband fordert "in Sachsen eine ehrliche Bestandsaufnahme, hierzu brauchen wir solide wissenschaftlich und unabhängig erhobene Daten, die belastbare Aussagen über die Qualität des sächsischen Bildungssystems erlauben".

Landesschülerrat verweist auf viele Unzulänglichkeiten

Der Landesschülerrat pflichtet den Eltern weitestgehend bei. Man kritisiere scharf, dass Staatsminister Piwarz, "den Eindruck erweckt, es gebe keine Defizite im laufenden Schuljahr". Corona habe in nun drei Schuljahren "tiefe Lücken in die Schulen gerissen". Nachdem in den ersten Schuljahren diese vor allem durch Homeschooling und Schulschließungen entstanden, so sei das laufende Schuljahr vor allem durch Quarantäneausfälle geprägt.

Ein Mund- und Nasentschutz liegt 2020 im Unterricht auf einem Weltatlas.
Maskenpflicht im Unterricht war für Schülerinnen und Schüler das kleinste Problem in der Pandemie. Bildrechte: picture alliance/dpa | Matthias Balk

Wer nun schon über drei Jahre hinweg mit solchen Einschränkungen lernen musste, verlässt die Schule unter anderen Voraussetzungen als seine Vorgänger.

Lilly Härtig Vorsitzende des Landesschülerrats Sachsen

Es könne "niemand behaupten, Schülerinnen und Schüler hätten keine Defizite oder keine Probleme gehabt. Guter Online-Unterricht war und ist Mangelware, gleichzeitig wurde die Chance vertan, durch engagierte Schutzmaßnahmen mehr Präsenz zu ermöglichen. Die Schülerschaft habe sich "diszipliniert durch Selbststudium gekämpft". Der Landesschülerrat stimmt dem Minister aber in einer Aussage zu: Als "verlorene Generation" verstünden sich auch die Schülerinnen und Schüler nicht.

GEW: Engagement der Lehrer gleicht Defizite aus

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) teilt die Erfahrungen der Schülerschaft. Die guten Prüfungsergebnisse führt die GEW "nicht nur auf die starke Fokussierung auf die Abschlussklassen und den leicht geänderten Prüfungsablauf" zurück, sondern "insbesondere das herausragende Engagement der Lehrerinnen und Lehrer". Ihnen sei es auch zu verdanken, dass aus den Schulabgängern in den Corona-Jahren keine "verlorene Generation" wird.

Dennoch: "Das Schließen von coronabedingten Wissenslücken wird allerdings von Jahr zu Jahr schwieriger." Während der Abschlussjahrgang 2020 nur wenige Wochen von Einschränkungen betroffen war, summierten sich diese bei den Nachfolgenden. "Der diesjährige Abschlussjahrgang blickt inzwischen immerhin auf drei schwierige Schuljahre zurück."

IHK Dresden beklagt fehlende Praktikumsmöglichkeiten

Die Industrie- und Handelskammer (IHK) des Kammerbezirks Dresden pflichtete Piwarz bei, dass man nicht von einer "verlorenen Generation" sprechen könne. Ob es Wissensdefizite bei Absolventen der Schulen gibt, vermochte ein Sprecher nicht einzuschätzen. "Ein belastbares Feedback unserer Unternehmen aus den laufenden Bewerbungsrunden heraus haben wir dazu nicht bekommen, weder in die eine noch in die andere Richtung."

Aus Sicht der Wirtschaft habe sich jedoch für die Berufsorientierung der jungen Leute und die Nachwuchssuche der Unternehmen ausgewirkt, dass Messen, Tage der offenen Tür und Praktika nahezu ausgefallen sind. Online-Angebote seien kein adäquater Ersatz gewesen.

Handwerkskammer und Hochschule zurückhaltend

Die Handwerkskammer Leipzig bestätigt, dass ein Einschätzung über coronabedingte Wissensdefizite der Schulabgänger kaum möglich sei. "Der Wissensstand der Berufsanfänger war bereits vor der Pandemie breit gefächert." Die Betriebe und Ausbilder hätten inzwischen viele Erfahrungen darin, "vermeintlich schwächere Auszubildende zum Abschluss zu führen und zu Fachkräften zu entwickeln", betonen die Handwerker.

Auch die TU Dresden will sich auf keine Einschätzung einlassen. "Der Wissensstand der Studienanfängeinnen und Studienanfänger werde nicht pauschal erhoben", so eine Sprecherin. "Man müsste das für alle 133 grundständigen Studiengänge einzeln abfragen - was sehr (zeit)aufwändig wäre und obendrein fraglich, inwiefern sich das objektiv messen ließe."

Wir brauchen Zeit, genau wie die Kinder Zeit brauchen. Wir können ihnen nicht auf Teufel komme raus etwas eintrichtern. Sie müssen erst wieder an das Lernen und den schulischen Alltag herangeführt werden.

Christian Piwarz Kultusminister Sachsen

Wie weiter nach der Pandemie?

Für die Zeit nach der Pandemie sieht Piwarz viel Arbeit auf alle Beteiligten zukommen. Mit dem Programm "Aufholen nach Corona" sollen Schülerinnen und Schüler angesprochen werden, die unter Corona besonders gelitten hätten. Nicht alles könne sofort funktionieren. "Wir brauchen Zeit, genau wie die Kinder Zeit brauchen. Wir können ihnen nicht auf Teufel komme raus etwas eintrichtern. Sie müssen erst wieder an das Lernen und den schulischen Alltag herangeführt werden."

Zunächst werde untersucht, wie sich Schule besser auf Pandemie einstellen könne. Die Digitalisierung habe Möglichkeiten offenbart. "Wir haben aber auch festgestellt, wie wichtig Präsenzunterricht ist." Nun gehe es darum, außerschulisches Lernen und Unterricht in der Schule zu kombinieren.

"Bildungsland Sachsen 2030" wird gestartet

"Wir müssen den nächsten Schritt gehen und die Vorteile digitaler Lernmethoden besser nutzen", sagte Piwarz. Als Beispiel nannte er intelligente tutorielle Systeme - Systeme, die Schüler bei ihrem Lernen differenziert nach Lerngeschwindigkeit begleiten können. Lehrer bekämen so Kenntnisse von den Lernfortschritten. Er kündigte an, in diesem Jahr mit Bildungspartnern das "Bildungsland Sachsen 2030" diskutieren zu wollen und nächstes Jahr die Öffentlichkeit einzubeziehen. Dabei werde es nicht allein um die Entschlackung von Lernplänen gehen. "Die Lehrpläne sind schon viel entschlackter, als viele meinen", so der Minister. Vielmehr solle der einzelne Schüler mit seinen Bedürfnissen im Mittelpunkt stehen.

Videos und Audios zum Thema Schule in der Pandemie

Anke Langner, Erziehungswissenschaftlerin der TU Dresden 34 min
Bildrechte: MDR/Technische Universität Dresden

MDR (lam,dk)/dpa

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Nachrichten | 04. April 2022 | 06:00 Uhr

1 Kommentar

Reuter4774 am 05.04.2022

Es wurden jetzt 2 Jahre lang die Generationen 60+ " bedient" zu Lasten und auf Kosten aller anderen. Deshalb finden wir ja auch nicht mehr in die Normalität weil diese Vollkasko- Anspruchshaltung unserer überalterten Bevölkerung weiter besteht und das Jammern jetzt groß ist, weil niemand anderer mehr damit gegängelt werden kann. Sondern das wieder Eigenverantwortung ist, weil wir uns das wirtschaftlich und finanziell schlicht nicht mehr leisten können. Ist ja selbst bei der Regierung angekommen.
Aber natürlich darf man das nicht zu offen zugeben welchen Schaden die alte Regierung (65+) angerichtet hat.

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