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Unbegleitete JugendlicheSozialverbände fordern mehr Hilfen bei der Unterbringung von jungen Geflüchteten

30. Oktober 2022, 21:12 Uhr

Geflüchtete Jugendliche, die ohne Familie anreisen, bedürfen besonderer Hilfe bei der Betreuung und Unterbringung. Mehrere Sozialverbände sehen in Sachsen jedoch erheblichen Nachholbedarf bei der Infrastruktur. Für sie ist eine Fehleinschätzung zu Beginn des Ukraine-Krieges eine der Ursachen für das Problem. Der Freistaat reagierte bereits mit einer Absenkung der Fachstandards, um kurzfristig mehr Personal heranzuholen.

Sächsische Flüchtlings- und Sozialverbände fordern eine bessere Infrastruktur, um geflüchtete Kinder und Jugendliche, die ohne Familie anreisen, zu betreuen. Wie die Diakonie Sachsen mitteilt, kommen derzeit pro Monat rund 300 minderjährige Geflüchtete ohne Erziehungsberechtigte im Freistaat an: Zuviel für das aktuelle Personal.

"Derzeit haben wir keine Mitarbeitenden mit fachlicher Qualifikation für Wohneinrichtungen für unbegleitete Jugendliche mehr", schreibt die Diakonie in einer Pressemitteilung. Auf Anfrage von MDR SACHSEN erklärt Christoph Schellenberger, Referent für Kinder und Jugendhilfe bei der Diakonie Sachsen, dass schätzungsweise zehn Prozent der etwa 100 Wohnplätze des Wohlfahrtsverbands für diese spezielle Flüchtlingsgruppe zur Verfügung gestellt wird.

Genaue Zahlen sind nicht bekannt. Im Jugendhilferecht wird bei Wohnungseinrichtungen kein Unterschied gemacht, ob die jungen Menschen auf der Flucht sind oder nicht.

Neben der Diakonie schlägt auch das Projekt "Lesezeichen" des Migrations- und Jugendvereins AGIUA Alarm. "Unsere Kapazität an Plätzen ist nahezu erschöpft, da momentan viele unbegleitete minderjährige Geflüchtete aus Syrien ihren Weg nach Deutschland finden." Das Projekt bietet jungen Migranten und Migrantinnen in Chemnitz Deutsch- und Orientierungskurse an.

Weniger geflüchtete Minderjährige als erwartet

Die geringe Personaldecke kommt unter anderem daher, dass sich im Frühjahr 2022 zu Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine die Behörden offenbar verschätzt hatten. Kommunen und Freie Träger waren dazu angehalten, Wohnungseinrichtungen und Personal für Flüchtlinge aus der Ukraine bereit zu halten. Erfahrungen aus den Flüchtlingsbewegungen von 2015 und 2017 hatten damals gezeigt, dass sich unter den Geflüchteten auch viele unbegleitete Minderjährige befanden.

Doch es kamen weniger als erwartet. Wie das sächsische Sozialministerium auf Anfrage mitteilt, sind dieses Jahr bisher 205 ukrainische Kinder und Jugendliche ohne Erziehungsberechtigte in Sachsen in Obhut genommen worden.

Für die Sozialverbände stellte die geringe Zahl ein finanzielles Problem dar. "Der Freie Träger sieht für eine Einrichtung, die nicht durch das Jugendamt belegt wird, kein Geld", erklärt Schellenberger. "Das kann kein Träger überleben". Daraufhin wurden die Strukturen abgebaut, die nun wieder mit der erhöhten Nachfrage fehlen.

Warum kamen weniger Flüchtlinge aus der Ukraine?

Kaum ein Land in Europa hat so viele Waisenhäuser wie die Ukraine. Rund 100.000 Kinder und Jugendliche leben dort in staatlichen Institutionen. Laut den ukrainischen Kontakten der Diakonie Sachsen fanden einzelne Heime, die im Zuge des Krieges evakuiert werden mussten, bei anderen Einrichtungen im Land Unterstützung. Zudem erhielten diejenigen Geflüchteten, die mit Betreuungspersonal ankamen, in Sachsen den Status "begleitet".      

In der Ukraine leben rund 100.000 Kinder in Waisenhäusern. Bildrechte: IMAGO / Ukrinform

Zusätzlich zu finanziellen Engpässen registrieren Sozialverbände auch ein geringeres Interesse auf Seiten der Zivilgesellschaft, sich einzubringen. "Im Frühjahr 2022 gab es eine große Bereitschaft in der Bevölkerung zu helfen", berichtet Schellenberger. "Diese Welle der Bereitschaft ist ein Stück weit zurückgegangen."

Sachsen senkt Fachstandards

Um den hohen Personaldruck ein wenig abzufedern, entschloss sich das Sozialministerium Anfang Oktober dazu, die Fachstandards bei der Unterbringung von geflüchteten Minderjährigen abzusenken. Diese Entscheidung bezieht sich beispielsweise auf die geforderten Berufsabschlüsse der Fachkräfte oder die räumlichen Voraussetzungen in Wohnunterkünften, die nun auch schneller eine vorläufige Erlaubnis zur Inbetriebnahme erhalten sollen. Diese Regelung gilt befristet bis März 2023.

"Die aktuelle Handhabung der Fachstandards erfolgt mit Augenmaß und unter maßgeblicher Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse der Zielgruppe", sagt das Ministerium. Bereits in den vergangenen Jahren hätte man diese Mittel genutzt und sie seien erprobt, um die aktuellen Herausforderungen zu meistern.

Die Diakonie Sachsen begrüßt die Maßnahme, meint jedoch auch, dass das Ministerium und das Landesjugendamt in der Vergangenheit an der falschen Stelle gespart hätten. Der Kinder- und Jugendring Sachsen e.V. sieht es ähnlich und fordert in einer Stellungnahme, dass "alle Anstrengungen unternommen werden, damit diese Übergangsregelungen wie geplant im Frühjahr 2023 auslaufen."

Nadine Steinhäuser, Projektleiterin des "Lesezeichen", hält die Absenkung für ein "gefährliches Signal". Um jede Verbesserung der Zustände würde jahrelang gekämpft werden, nur um sie dann wieder über Bord zu werfen, so Steinhäuser.

"Dies ist eine Zeit wie jede andere, in der geflüchtete Jugendliche ohne Begleitung zu uns kommen, mit Brüchen und Traumata belastet. Allein die größere Zahl sollte nicht Anlass sein, in ihrer Betreuung und Unterbringung Abstriche zu machen."

Auslastung bei Erstaufnahmeeinrichtungen bei über 70 Prozent

Erstaufnahmeeinrichtungen in Sachsen verzeichnen aktuell wieder steigende Flüchtlingszahlen, ihre Auslastung lag Anfang Oktober bei über 70 Prozent. Neben Geflüchteten aus der Ukraine kommen derzeit auch viele Menschen aus Syrien hierher, weil ihnen in der Türkei eine Abschiebung droht.

Allein die größere Zahl sollte nicht Anlass sein, in ihrer Betreuung und Unterbringung Abstriche zu machen

Nadine Steinhäuser | Projektleiterin "Lesezeichen"

Insgesamt nahm der Freistaat in diesem Jahr über 69.000 Schutzsuchende auf. In Leipzig wird aktuell eine Zeltstadt auf dem Agra-Gelände reaktiviert, um weitere Kapazitäten zu schaffen. In Chemnitz wurde im September eine neue Unterkunft an der Friedrich-Hähnel-Straße für unbegleitete minderjährige Geflüchtete eröffnet, nachdem diese zunächst für ukrainische Minderjährige auf der Flucht vorgesehen war.

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Nachrichten | 30. Oktober 2022 | 18:00 Uhr