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Kommunalwahl 2022Fehlende Frauen in der Politik - eine Spurensuche

29. Mai 2022, 06:00 Uhr

Kommunalpolitik ist eine männliche Domäne. Das zeigt sich in unterschiedlicher Ausprägung in allen Regionen Deutschlands – auch in Sachsen. Nicht nur gefühlt sind Ratsmitglieder und Oberhäupter von Städten und Gemeinden in der großen Überzahl männlich. Studien belegen ganz klar: Frauen sind unterrepräsentiert. Wo das besonders deutlich wird, welche Gründe es dafür gibt und wie sich das in Zukunft ändern könnte? MDR SACHSEN hat nachgefragt.

Lars Holtkamp nennt den Anteil von Frauen in der Kommunalpolitik "katastrophal". Er ist Professor für Politik und Verwaltungswissenschaft an der Fernuniversität Hagen und forscht seit Jahren und in diversen Projekten zum Thema weibliche Kommunalpolitik. In einer Untersuchung hat er mit weiteren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern im Jahr 2017 73 Großstädte deutschlandweit unter die Lupe genommen. Das Ergebnis ist ernüchternd: Nur 8,2 Prozent der Oberbürgermeisterposten sind von Frauen besetzt. Holtkamp fasst zusammen: "Das Bürgermeisteramt ist eine rein männliche Domäne seit Jahrzehnten."

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In Sachsen, Mitteldeutschland und den Ländern der ehemaligen DDR ist die Lage aktuell noch prekärer: In keiner einzigen Großstadt gibt es eine Oberbürgermeisterin – zumindest bis zum 30. Juni. Danach übernimmt in Magdeburg eine Frau die Amtsgeschäfte im Oberbürgermeisterbüro. Etwas ausgeglichener sieht es bei den Posten der Beigeordneten in den ostdeutschen Großstädten aus: Immerhin rund ein Drittel der Stellen ist hier von Frauen besetzt.

Was sind Beigeordnete?

Beigeordnete sind der Leitung einer Stadt oder eines Landkreises zugehörig. Sie sind in der Kommunalverwaltungen beispielsweise für bestimmte Fachbereiche oder Ämter zuständig - Kultur-, Bau-, Wirtschafts-, Sozialamt. Beigeordnete sind beispielsweise Baubürgermeisterinnen oder Kulturbürgermeister. Das Amt des Beigeordneten kann hauptberuflich oder nebenberuflich in einigen Fällen auch ehrenamtlich ausgeführt werden. Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung

Die Studie von Holtkamp und seinen Kolleginnen und Kollegen brachte aber noch weitere Erkenntnisse: So stieg im Vergleich zu vorhergehenden Studien der Anteil von Frauen in Stadträten bundesweit kontinuierlich, allerdings nur um rund 0,5 Prozent in vier Jahren. Die Forschenden der Fernuniversität Hagen kommen zu dem Ergebnis, dass eine paritätische Sitzverteilung in diesem Tempo bis ins Jahr 2145 dauern würde – wenn nichts dazwischenkommt.

Frauen, die sich wagen...

Landrätinnen – eine vergebliche Suche in Sachsen

Bei den Oberhäuptern auf Landkreisebene sind Frauen eine absolute Ausnahme in Sachsen. Derzeit gibt es keine einzige Landrätin in den zehn Kreisen des Freistaats. Bei den aktuellen Landratswahlen bewerben sich fünf Frauen. Dem gegenüber stehen 35 männliche Bewerber.

Der einstigen Landrätin aus dem Landkreis Meißen, Renate Koch, zufolge, war das zu Beginn ihrer politischen Karriere Anfang der 1990er Jahre nicht so: "Es war eigentlich normal, dass auch Frauen angesprochen wurden, Landrätin zu werden", erinnert sich Koch. "Und ich habe nie das Gefühl bekommen, dass jemand hier - zumindest in der ehemaligen DDR - komisch guckt, weil ich eine Frau bin in dieser Position." Das sei ihr im "Westen" ganz anders passiert. Koch war von 1990 bis 2002 im Amt, neben ihr gab es in den vergangenen gut 30 Jahren nur vier weitere Landrätinnen in Sachsen.

Spagat zwischen Familie und Amt

Doch auch früher schon lehnten Frauen Führungspositionen in der Politik ab, erinnert sich die einstige Landrätin Koch: "Auch von 1990 weiß ich noch, dass einige Frauen vorgeschlagen waren, den Landrat zu machen, das aber aufgrund der Familiensituation abgelehnt haben." Es seien Positionen, bei denen man sehr viel Verantwortung habe und nicht immer einen geregelten Feierabend. "Man muss und möchte sich häufig auch bei Abendveranstaltungen sehen lassen", erklärt Koch. "Das ist schwierig zu meistern, wenn man noch kleine Kinder hat - wenn sie nicht einen Partner haben, der sehr hinter ihnen steht."

Übergriffe in der Politik

Hinzu komme der Faktor fehlende Attraktivität politischer Ämter, ergänzt Koch: "Nun ist die Politik nicht so positiv besetzt. Auch das könnte im Hintergrund eine Rolle spielen. Warum soll ich in die Politik gehen, wo ich ständig angreifbar bin? Wenn ich heute höre, wie viele Angriffe gegen Politiker passieren, dann ist es nicht erstrebenswert, an dieser Stelle zu stehen."

Kommunalpolitik - die große Unbekannte?

Für Georg Teichert, den Leiter der Stabsstelle Chancengleichheit, Diversität und Familie an der Universität Leipzig, ist das Problem noch deutlich vielschichtiger: "Unter Kommunalpolitik kann man sich vielleicht wenig vorstellen. Man sieht natürlich in den Medien immer wahnsinnig viel auf der Bundesebene. Kommunalpolitikerin, Stadträtin, Bürgermeisterin oder Landrätin - das ist etwas, was weniger präsent ist und dadurch vielleicht auch weniger im Horizont." Vieles sei hier ehrenamtlich, gerade auf der kommunalen Ebene. Frauen müssten sich eher die Frage stellen, ob sie dafür die nötigen Ressourcen haben. "Kann ich das - neben meinem Job, Care-Arbeit, Kinderbetreuung oder Pflege von Angehörigen?", fasst der Gleichstellungsbeauftragte zusammen.

Selbstkritik - Karrierekiller für Frauen

Doch auch das Thema Selbstkritik und Umgang mit Herausforderungen sei ein Grund dafür, dass Frauen seltener in der Politik zu finden seien. Das zeige sich beispielsweise bei Stellenbesetzungsverfahren, erklärt Teichert: "Frauen gucken ganz genau, was in einer Ausschreibung steht. 'Erfülle ich das zu 150 Prozent? Dann bewerbe ich mich.' Wenn sie nur zwei Drittel oder die Hälfte erfüllen, bewerben sich deutlich weniger. Das ist bei Männern überhaupt nicht so. Viele denken grundsätzlich von sich: 'Ich bin potent, ich kriege das hin.'" Ähnlich sei das beim Thema Kommunalpolitik.

"Männer ziehen Männer nach"

Als weiteren Grund für die Unterrepräsentanz von Frauen nennt Teichert die ohnehin schon "männerlastigen" Parlamente. "Jedes Milieu reproduziert sich selbst, das heißt hier, dass Männer auch Männer nachziehen." Politik-Professor Holtkamp kann das bestätigen: "Wir wissen das aus der sozialpsychologischen Forschung, dass Menschen zu homosozialer Kooperation neigen. Das heißt, man sucht sich die aus, die einem am ähnlichsten sind, weil man denkt, dass man mit denen am besten zusammenarbeiten kann. Und es ist bei Männern so, dass Frauen teilweise eher stören." Letztendlich sei das Vertrauen nicht so groß in das andere Geschlecht.

Studien: Frauen oft kompetenter

Holtkamp spricht in diesem Zusammenhang von sogenannten Old-Boys-Netzwerken - Machtblöcken von Männern, die vorrangig versuchten, junge Männer zu rekrutieren.

Dabei ist der Politik-Professor überzeugt, dass Frauen keineswegs weniger kompetent sind als Männer: "Es gibt Untersuchungen, die zeigen genau das Gegenteil: Dass Frauen kompetenter sind und dadurch mit der Zeit auch kompetentere Männer in die Parlamente reinkommen, weil die sich nicht blamieren wollen." Mehr Frauen in den Führungsetagen von Unternehmen sowie in der Politik seien deshalb erstrebenswert.

Mehr Frauen in Parlamenten und Führungspositionen führen zu besseren Entscheidungen - davon in Forschende überzeugt. (Symbolbild) Bildrechte: Colourbox.de

Neuer Fokus: Frauen und ihre Themen

"Wir haben herausgefunden, dass sich Kommunalpolitikerinnen deutlich stärker für den öffentlichen Nahverkehr einsetzen als Männer", erklärt Holtkamp. "Dafür wollen sie deutlich weniger Geld für Wirtschaftsförderung ausgeben - was ich auch für sehr richtig halte. Denn wir wissen alle, dass das sehr viel symbolische Politik ist." Schließlich seien Unternehmensansiedlungen kommunal kaum zu beeinflussen, erklärt er. Das sei ineffizient. Politikerinnen würden außerdem eher Risiken vermeiden und in der Regel den Nutzen für die Gemeinschaft im Blick haben.

Teichert von der Universität Leipzig ergänzt: "Wir wissen ganz konkret, dass die Perspektive von verschiedenen Geschlechtern, verschiedenen Herkünften und so weiter eine bessere Risikoabwägung und bessere Entscheidungsfindung ermöglicht." Es sei wichtig, dass in der Kommunalpolitik nicht nur viele Rentner sitzen, sondern auch berufstätige Frauen und Mütter, die ihre Perspektive mit einbringen.

Ratsarbeit reformieren?

Weniger Risiken, bessere Entscheidungen für die Gemeinschaft und mehr Kompetenz - vieles spricht laut Forschenden und deren Studien für einen deutlichen Vorteil, wenn mehr Frauen an der Politik beteiligt sind. Doch wie ist das zu schaffen? Teichert ist überzeugt, dass beispielsweise an den Zeiten für Sitzungen für Ehrenamtliche gearbeitet werden müsste: "Wenn ich Sitzungen von 14 bis 22 Uhr habe - also Ratssitzung, Ausschüsse und so weiter - können das normale Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gar nicht leisten in einem Job von 9 bis 17 Uhr." Hier müsse man die Chancen der Digitalisierung nutzen, um asynchroner zu arbeiten.

Frauen in die Politik - mit konkreten Projekten

Ein weiterer Aspekt ist Teichert zufolge das sogenannte Empowerment - gerade für junge Frauen. An der Universität Leipzig gab es gerade erst ein Projekt dazu. "Ziel war es, Frauen in die Kommunalpolitik zu bringen und gezielt bei Studentinnen anzusetzen. Man wollte dort zeigen, wie spannend Kommunalpolitik sein kann, und Frauen dazu ermutigen, sich zu engagieren - auch ohne in eine Partei einzutreten." In Workshops ging es beispielsweise um kommunale Aufgaben, es wurden aber auch Rhetoriktrainings angeboten. Am Ende des Aktionszeitraums hatten alle Teilnehmerinnen ein selbstgewähltes Mikro-Projekt umgesetzt: eine Website beispielsweise oder ein Stadtteilfrühstück waren dabei - aber auch die Sammlung für ein Frauenhaus. "Da sind Freundschaften entstanden. Das ist auch für Frauen sehr wichtig: Netzwerke zu haben, wo sie sich gegenseitig unterstützen und Ratschläge geben können."

Was versteht man unter "Empowerment"?

Empowerment ist ein aus dem Englischen entlehnter Begriff. Er bedeutet ins Deutsche übersetzt Ermächtigung. Unter Empowerment versteht man Maßnahmen und Techniken, die Personen in die Lage versetzen, beispielsweise politische und soziale Selbstverantwortung und Autonomie von Menschen zu verbessern. Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung

Jungen Frauen einen Einstieg in die Kommunalpolitik erleichtern - das ist das Ziel des Empowerment-Projekts "Misch dich ein - Mach Politik vor Ort!" der Europäischen Akademie für Frauen in Politik und Wirtschaft (EAF Berlin) in Kooperation mit der Universität Leipzig. (Symbolbild) Bildrechte: unsplash/Christina Wocientech

Politikwissenschaftler fordert Frauen-Quote

Politik-Professor Holtkamp hingegen sieht nur einen Ausweg aus der Unterrepräsentanz von Frauen in der Politik: eine verbindliche Quote. "Uns ist klar, das kann es nicht mehr freiwillig machen", sagt er vor allem mit Blick auf Parteien wie AfD, CDU und FDP. "Die AfD hat natürlich die niedrigsten Frauenanteile, die Grünen die höchsten - etwas gleichauf mit der Linken." Danach folge die SPD. Allerdings hätten auf dem Gebiet der ehemaligen DDR heute auch die Parteien mit einer internen Quote teilweise Schwierigkeiten, diese zu erfüllen - im Gegensatz zum Westen Deutschlands. Die Gründe dafür müsse man sich in Zukunft genauer ansehen, meint Holtkamp.

Trotzdem ist er überzeugt, dass vor allem in den großen Städten kein Mangel an geeigneten Kandidatinnen herrscht: "Sie finden immer genug, das ist kein Problem! Das haben wir auch in Frankreich gesehen. Da hat man die 50 Prozent Parität eingeführt in den Kommunen - auch in den kleinen. Und wenn die Parteien nicht die 50 Prozent aufgetrieben haben, konnten sie nicht zur Wahl antreten. Was meinen Sie, wie schnell sie die Kandidatinnen gefunden haben?"

MDR

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Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | 05. Juni 2022 | 09:00 Uhr

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