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InterviewEhemalige Landrätin Koch: "Ich würde es nochmal machen"

29. Mai 2022, 06:00 Uhr

Landrätinnen sind in Sachsen eher eine Seltenheit. Insgesamt fünf weibliche Landkreis-Oberhäupter gab es seit 1990 im Freistaat – darunter auch Renate Koch. Die 78-jährige Coswigerin wurde direkt nach der Wende gewählt und blieb bis 2002 Landrätin des Kreises Meißen. Welche Herausforderungen die damalige Zeit mit sich brachte, welche skurrilen Begegnungen sie als Frau in der Politik erlebt hat und warum weite Teile der Politik noch immer von Männern dominiert wird, erzählt sie im Interview mit MDR SACHSEN.

Frau Koch, vor gut 30 Jahren haben Sie sich entschieden, Landrätin zu werden. Sie sind damit schon fast eine Exotin, wenn wir auf die Anzahl der Frauen schauen, die bisher in Sachsen in das Amt gewählt wurden. Was hat sie damals dazu bewogen?

Renate Koch: Es war eigentlich normal, dass auch Frauen angesprochen wurden, Landrätin zu werden. Ich hatte die meisten Stimmen in meinem Wahlkreis bekommen, und da wurde mir von der CDU gesagt: 'Wir schlagen dich vor für den Landrat.' Da habe ich spontan geantwortet: 'Ihr seid verrückt! Ich verstehe das doch nicht.' Aber mein Mann sagte: 'Wer A sagt, muss auch B sagen. Du kannst jetzt nicht kneifen.'

Es war eigentlich die Unterstützung meines Mannes. Und ich habe auch mit dem damaligen Oberbürgermeister von Coswig, den ich in der Zeit 1989 oder 1990 kennengelernt hatte, lange darüber gesprochen. Und der hat mir zum Abschluss gesagt: 'Wem Gott eine Tür öffnet, dem gibt er auch Kraft.' Da dachte ich mir, es wird schon zu schaffen sein. Dann habe ich zugestimmt und wurde vom Kreistag als Landrat bestätigt.

Wie haben Sie die Zeit – gerade zu Beginn – erlebt? Alles war im Umbruch, große Herausforderungen standen an. Wie viel Gestaltungsspielraum hatten Sie?

In den ersten Monaten und den ersten zwei Jahren hatten wir enorm viel Gestaltungsspielraum. Wir haben Gesetze oft erst bekommen, als wir die Dinge schon erledigt hatten. Das war also wirklich eine Aufbruchstimmung. Da hat jeder mitgemacht. Und ich habe nie das Gefühl bekommen, dass jemand hier - zumindest in der ehemaligen DDR - komisch geguckt, weil ich eine Frau bin in dieser Position. Das ist mir im Westen ganz anders passiert.

Was haben Sie da erlebt?

Zum Beispiel, als wir zur Deutschen Landkreistagsversammlung fuhren, die alle fünf Jahre stattfindet. Wir waren fünf Landrätinnen. Drei von uns standen zusammen vor dem Sitzungssaal und unterhielten uns, weil wir uns von Beratungen in Berlin kannten. Und dann kam ein junger Mann auf uns zu und sagte: 'Meine Damen, das Damenprogramm soll beginnen, das ist im Nebenraum. Gehen Sie bitte rein!' Wir haben nicht darauf geachtet, es ging uns ja nichts an. Wir waren ja Landräte.

Und nach kurzer Zeit kam ein älterer Herr, sehr schön weißhaarig und sagt: 'Also meine Damen, ich bitte Sie reinzugehen. Die wollen beginnen!' Und da habe ich mich umgedreht zu ihm und gesagt: 'Dort gehören wir nicht hin, wir sind Landräte.' Er verschwand, wir sind dann in den Raum gegangen und wir haben uns manchmal noch ein bisschen amüsiert, wenn wir uns wiedergesehen haben, weil er nicht richtig wusste, wie er uns bezeichnen sollte. Denn wir waren die ersten Frauen in dieser Herrenrunde.

Kaum zu glauben, dass das vor 30 Jahren noch so war!

Stimmt, es ist heute anders. Heute ist es auch selbstverständlicher geworden, aber diese kritisch aufmerksame Begegnung, wie ich sie in Beratungen im Westen in der Anfangszeit gespürt habe, habe ich bei meinen Kollegen hier in der ehemaligen DDR nie gehabt. Da war es selbstverständlich, dass ich dabei war als Landrat.

Später hatten sich dann die Strukturen verfestigt. Da wusste man auch genauer, wer ist wofür zuständig? Das war vor allen Dingen im ersten Jahr überhaupt noch keine Regelung da: Was haben die Kommunen, also die Städte und Gemeinden, zu erledigen? Was ist Aufgabe des Landkreises?

Mit welchen besonderen Herausforderungen hatten Sie es während Ihrer Amtszeit zu tun?

Das Hauptproblem war die Zerstörung der Wirtschaft. Was habe ich gekämpft, manchen Betrieb zu erhalten!? Aber es war nicht möglich. Die Betriebe wurden in der Regel von westdeutschen Unternehmen aufgekauft. Manchmal wurde die Konkurrenz ausgeschaltet damit. Sie wurden dann noch eine Zeit lang weitergeführt und dann stillgelegt. Das war in den meisten Fällen so. Damit hatten wir eine enorm hohe Arbeitslosigkeit. Und die Sozialgefüge waren noch nicht so, dass man da viel helfen konnte. Man hat das natürlich auch versucht, die Sozialämter entsprechend aufzubauen. Die Arbeitsämter waren, ich würde sagen, fast überfordert, weil sie gar nicht wussten: Wo sollen sie denn die Leute hin vermitteln? Es gab ja keine Arbeitsplätze. Deswegen war auch die Abwanderung so groß.



Was mich nach wie vor aufregt, ist, dass behauptet wird, dass extrem viel Geld in die neuen Bundesländer, wie es bezeichnet wird, geflossen ist. Ja, es stimmt: Es ist sehr viel Geld hierhergebracht worden. Es ist sehr viel gemacht worden. Aber die Gewinne, die die Betriebe (in Westdeutschland (Anm. d.Red.)) hatten, durch die Existenz der hiesigen Betriebe, die sind dort eingenommen worden, nicht bei uns. Und das sind so Sachen. Wenn man schon darüber spricht, dann sollte man das auch klar benennen. Die Treuhand hat nicht immer das Beste entschieden.

Heute sind die Arbeitslosenzahlen deutlich niedriger, die Abwanderung ist aber noch zu spüren.

Die Probleme, die wir damals hatten, gibt es heute nicht mehr. Heute sind es andere. Sie sind aber nicht leichter als damals – nur eben anders.

Eines dieser Probleme könnte sein, dass die Zahl der Politikerinnen auf kommunaler Ebene sehr gering ist. Dabei betonen beispielsweise Forschende immer wieder, wie wichtig weibliche Politik sei. Was meinen Sie: Woran liegt es, dass so wenige Frauen in den regionalen Parlamenten sitzen oder Landrätin werden?

Das ist für mich ein bisschen schwer zu verstehen, warum Frauen in dieser Zeit nicht mehr bereit sind oder daran denken, solche Positionen zu übernehmen. Es sind Positionen, bei denen man sehr viel Verantwortung hat, wo man nicht immer einen geregelten Feierabend hat. Man muss und möchte sich häufig auch bei Abendveranstaltungen sehen lassen. Das ist schwierig zu meistern, wenn man noch kleine Kinder hat - wenn sie nicht einen Partner haben, der sehr hinter ihnen steht. Auch von 1990 weiß ich noch, dass einige Frauen vorgeschlagen waren, den Landrat zu machen, das aber aufgrund der Familiensituation abgelehnt haben.

Nun ist die Politik nicht so positiv besetzt. Auch das könnte im Hintergrund eine Rolle spielen. Warum soll ich in die Politik gehen, wo ich ständig angreifbar bin? Wenn ich heute höre, wie viele Angriffe gegen Politiker passieren, dann ist es nicht erstrebenswert, an dieser Stelle zu stehen.

Das klingt ernüchternd - vorsichtig ausgedrückt. Würden Sie heute noch mal Landrätin werden, wenn Sie 30 Jahre jünger wären?

Ja, ich würde es nochmal machen, obwohl es eine ganz andere Situation ist. Es war eine schöne Aufgabe, wir hatten viel Gestaltungsspielraum, das ist heute nicht mehr der Fall. Trotzdem gibt es viele Möglichkeiten, für den Kreis oder die Region etwas zu tun.

Heute wären es andere Aufgaben - zum Beispiel in Richtung Umwelt- und Naturschutz. Soziale Fragen sind zu lösen. Und wenn jetzt alles teurer wird, gibt es viele Menschen, die sich vieles nicht mehr kaufen können.

Für mich war es nochmal eine Erfüllung meines Arbeitslebens, auch wenn ich zuerst gesagt habe: 'Ich kann das nicht!'

Renate KochRenate Koch war von 1990 bis 2002 Landrätin im Kreis Meißen. Ursprünglich hatte sie eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht und später einen Studienabschluss als Sozialfürsorgerin gemacht. Bereits zu DDR-Zeiten hatte sie sich politisch engagiert.

MDR (kp)

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | 05. Juni 2022 | 13:05 Uhr