Landtag zur Reichspogromnacht vor 80 Jahren Besorgte Töne über antisemitische Tendenzen

08. November 2018, 19:23 Uhr

Sachsen bekommt einen "Beauftragten für jüdisches Leben". Das kündigte Staatskanzleichef Oliver Schenk (CDU) am Donnerstag im Landtag an. Der Beauftragte soll ressortübergreifend die Präventions- und Interventionsarbeit der Regierung koordinieren. Ein solcher Beauftragter war seit Jahresbeginn von den Linken gefordert worden. Die Stimmen über eine judenfeindliche Stimmung in Sachsen mehren sich. Vor wenigen Wochen hatte die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Dresden, Nora Goldenbogen, bei einer Anhörung im Landtag berichtet, dass der Antisemitismus in Sachsen wieder Auftrieb habe. Bisherige Maßnahmen reichten daher nicht aus, obwohl bereits viel getan worden sei.

Antisemitische Parolen auf Demos

Linken-Fraktionschef Rico Gebhardt sagte mit Blick auf den Angriff auf ein jüdisches Restaurant in Chemnitz, dass die Öffentlichkeit erst einige Tage später davon erfahren habe, dürfe keine Normalität sein. "Wenn heute mitten in Sachsen eine Horde vermummter Nazis eine jüdische Gaststätte überfällt, um nur ein aktuelles Beispiel herauszugreifen, ist das nicht einfach irgendein Delikt", sagte Gebhardt. Es sei "etwas besonders Erschreckendes, weil damit in schamloser Weise gegen das 'Nie wieder!' verstoßen" werde.  

Es sei "unerträglich, dass heute bei Demonstrationen antisemitistische Parolen skandiert werden", sagte Petra Zais von den Grünen. Jüdisches Leben sei vielmehr in seiner Vielfalt zu stärken. SPD-Abgeordnete Hanka Kliese hinterfragte zugleich eine "ritualisierte Erinnerungskultur": "Wir müssen schmerzlich feststellen, dass jahrzehntelanges Gedenken nicht mit einer Immunisierung gegen Antisemitismus einhergeht." Sie frage sich oft, wie Menschen bewegt werden könnten, achtsamer zu sein und "was heutzutage tatsächlich noch Herzen berührt". Dann lande ich immer wieder bei Einzelschicksalen und hoffe auf deren Wirkung.

Angst vor erneutem Zivilisationsbruch

In der Debatte geriet mehr und mehr die AfD in den Fokus. Vertreter anderer Parteien fühlten den Abgeordneten der Alternative für Deutschland auf den Zahn und konfrontierten sie mit fragwürdigen Aussagen führender AfD-Funktionäre. Dabei kam Björn Höckes Aussagen über das Holocaust-Mahnmal in Berlin als "Mahnmal der Schande" und seine Forderung nach einer "erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad" genauso zur Sprache wie Alexander Gauland, der die NS-Zeit als "Vogelschiss" in der deutschen Geschichte heruntergespielt hatte.

Manche Äußerung der vergangenen Wochen und Monate habe ihn fassungslos gemacht, sagte Staatskanzleichef Oliver Schenk (CDU): "Wer einer 'erinnerungspolitischen Wende' das Wort redet, der hat nicht nur nichts verstanden. Er verschließt absichtlich die Augen vor seiner individuellen Verantwortung." Die Besorgnis vieler Abgeordneter teilte auch Ministerpräsident Michael Kretschmer: "Wir sind weder immun noch davor gefeit, dass antisemitisches Gedankengut erneut zu einem Zivilisationsbruch führen kann."

Mehr judenfeindliche Straftaten

Der AfD-Abgeordnete Sebastian Wippel wiederholte die Forderung seiner Partei, bei statistischen Angaben zu antisemitischen Straftaten - falls vorhanden - den Migrationshintergrund anzugeben. Wippel machte vor allem muslimische Einwanderer für wiedererstarkten Antisemitismus verantwortlich. Auch das fand Widerspruch. Linke-Politikerin Kerstin Köditz antwortete mit einer Statistik. Im Jahr 2017 seien unter 118 registrierten antisemitischen Straftaten nur zwei gewesen, die nicht von rechten Tätern ausgingen. Im ersten Halbjahr 2018 sind bereits 72 antisemitische Straftaten gemeldet. Im August war die Zunahme der Straftaten um ein Drittel gegenüber dem Vorjahreszeitraum festgestellt worden. Das hatte eine Anfrage der Linken-Fraktion im Bundestag ergeben.

Köditz verlangte auch von Behörden mehr Sensibilität beim diesem Thema. Auf der Kundgebung der islamfeindlichen Pegida-Bewegung am vergangenen Montag in Dresden sei an einem Informationsstand Hilfe für die mehrfach verurteilte Holocaust-Leugnerin Ursula Haverbeck gefordert worden. Laut Köditz hatte die Stadtverwaltung Dresden den Stand genehmigt. Auf Nachfrage habe man ihr mitgeteilt, das sei von der Meinungsfreiheit abgedeckt, weil das Wort Holocaust an dem Stand nicht auftauchte. "Das ist Antisemitismus, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen", sagte die Politikerin.

Auch Sachsen-Anhalt bekommt einen Antisemitismus-Beauftragten. Das hat Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) am Mittwoch angekündigt. Der Beauftragte soll demnach am Aufbau eines bundesweiten Informationssystems mitarbeiten, um judenfeindliche Tendenzen zu erfassen. Außerdem soll er ein Ansprechpartner sein für jüdische Gruppen, den Landtag, für Kommunen, Kirchen- und Moscheegemeinden und Bildungseinrichtungen.

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Quelle: MDR/dpa/st

Dieses Thema im Programm bei MDR SACHSEN MDR SACHSENSPIEGEL | 08.11.2018 | 19:00 Uhr

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