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Welt-Aids-Tag"Rauchen ist heute gefährlicher als HIV"

01. Dezember 2022, 15:00 Uhr

Vergessen Sie den Film "Philadelphia"! Die Zeit ist längst vorbei, in der HIV ansteckend und Aids tödlich sein musste. In Thüringen gibt es nach Schätzung des Robert Koch-Instituts rund 770 HIV-Patienten, die ein normales Leben führen können. Auch wenn die Diganose "HIV-positiv" noch immer eine ernste Sache ist, erlauben Medikamente den Betroffenen zu leben und zu lieben wie Nicht-Infizierte. Ein spürbarer Unterschied sind jedoch die vielen Vorurteile und Stigmata, die ihnen bis heute anhaften.

von Andreas Kehrer, MDR THÜRINGEN

Wenn Medien über AIDS und HIV berichten, nur weil der Welt-Aids-Tag ansteht, dann ist das ein gutes Zeichen. Es bedeutet, dass es keine dringenden Neuigkeiten gibt und kein Grund zur Sorge besteht. Doch diese Form der Aufmerksamkeitsökonomie, die aktuelle und folgenschwere Nachrichten priorisiert, hat auch Nachteile: Themen geraten in Vergessenheit und Betroffene, fühlen sich nicht mehr gehört.

"Seitdem HIV seinen Schrecken verloren hat, kommt in der Presse nichts mehr", sagt Ralf Richter, der Vorsitzende der Thüringer Aids-Hilfe. Wenn es nach ihm ginge, müsste das Thema alle zwei Monate in den Medien sein – allein um die Menschen aufzuklären und die Vorurteile abzubauen. Selbst heute könnten die Leute Aids und HIV nicht auseinanderhalten und viele hätten noch immer das Bild des alten Aids vor Augen - "wie im Film Philadelphia."

Ein Leben für die Aids-Hilfe

Ralf Richter ist 70 Jahre alt und in vielerlei Hinsicht ein bemerkenswertes Thüringer Original. Nicht nur, dass man dem gebürtigen Erfurter sein Alter nicht anmerkt, er redet auch nach 32 Jahren Aids-Hilfe noch voller Elan über die ehrenamtliche Arbeit des Vereins. 1990 war Richter einer der Mitbegründer der Aids-Hilfe in Thüringen, die von einer Gruppe schwuler Männer ins Leben gerufen wurde. Zuvor waren sie in der "Homosexuellen Aktion Erfurt J.J. Winckelmann"* aktiv gewesen, die sich im Jugendklub "Kleiner Herrenberg" 1988 gegründet hatte.

"Es gab 1990 eine sehr große Nachfrage bei Jugendlichen", erinnert sich Richter an die Anfänge der Aids-Hilfe. Doch schon damals gab es auch Gegenwind: "Wenn die Leute gehört haben, wo man sich ehrenamtlich engagiert, dann hieß es: Du überträgst Aids!" Schlimmer als die Vorurteile war damals die hoffnungslose Lage, in der sich HIV-Positive befanden. "Sie starben wie die Fliegen. Es gab damals nur ein Medikament, das AZT. Die Forschung kam nicht weiter und das war für uns als Ehrenamtler deprimierend."

Damals war das Kondom der einzige Schutz gegen das Virus, das seit seiner Entdeckung 1981 schnell zur Todesdiagnose wurde. In der Beratung erklärte Richter seien Klienten damals: "Ihr habt es selbst in der Hand, nehmt ein Kondom, sonst erkrankt ihr vielleicht und sterbt dran."

"Wir waren der Meinung, jetzt bringen wir uns um"

Als 1996 das erste lebensrettende HIV-Medikament auf den Markt kam, war die Erleichterung nur kurz spürbar. Das Problem war, dass es wenig Aufklärung zu den neuen Medikamenten gab. "Es war bei Schwerpunkt-Ärzten zwar bekannt, aber trotzdem hat man noch unwahrscheinliche Angst gehabt, denn die Ansteckungsgefahr war noch sehr groß", erinnert sich Richter. Hinzu kam, dass die Medikamente erhebliche Nebenwirkungen hatten und die Einnahme streng geregelt war.

"Früh um 6 musste man aufstehen und die erste Pille nehmen, nach dem Frühstück um 7 wieder eine und so weiter." Zwischen zehn und dreißig Tabletten seien es am Tag gewesen, sagt Richter. Diese Tortur hat er selbst durchlitten, denn 1997 bekamen sein Lebensgefährte und er selbst die Diagnose: HIV-positiv. "Wir hatten uns gegenseitig angesteckt und wir waren der Meinung, jetzt bringen wir uns um. Man war moralisch völlig am Boden zerstört."

"Rauchen ist heute gefährlicher als HIV"

Im Jahr 2022 ist "HIV-positiv" zwar noch immer eine ernste Diagnose, aber beileibe kein Grund zu verzweifeln - zumindest nicht im wohlhabenden Deutschland, wo die Behandlung kostenfrei ist. Heute können Betroffene "ein Leben wie ein HIV-Negativer Mensch führen", erklärt Dr. Thomas Seidel, der in Weimar als einer von drei Thüringer HIV-Schwerpunktärzten arbeitet. Die einzige Einschränkung dabei sei, täglich eine Tablette einzunehmen oder sich alle acht Wochen zwei Spritzen zu verabreichen.

Die Medikamente führen dazu, dass sich das Virus im Körper nicht vermehrt und sich ein schon angegriffenes Immunsystem erholt. Selbst wenn Aids schon ausgebrochen sein sollte, kann die Erkrankung innerhalb von einigen Wochen oder Monaten gestoppt werden. Zu erwähnen bleibt, dass die modernen Medikamte leichte Nebenwirkungen wie Müdigkeit, Schwindel oder Kopfschmerzern verursachen können, die manche Patienten als Einschränkung der Lebensqualität erleben.

Rund 150 HIV-Patienten behandelt Seidel pro Quartal. Aids-Kranke seien hingegen sehr selten. "Vielleicht ein oder zwei Patienten im Jahr", schätzt der Mediziner. Das größte Problem sei, dass das Virus häufig trotz klinischer Indikatoren von Ärzten zu spät erkannt werde. Die Deutsche Arbeitsgemeinschaft ambulant tätiger Ärzte für Infektionskrankheiten und HIV-Medizin e. V. schätzt, dass das bei jedem zweiten bis dritten HIV-Patienten der Fall ist.

"Eine der ersten Fragen, die ich meinen HIV-Patienten stelle, ist: Rauchen Sie?", sagt Seidel und erklärt, "dass für HIV-Patienten, die sich behandeln lassen, das Rauchen gefährlicher ist als die HIV-Infektion selbst." Durch die Behandlung kann die Virus-Last so weit reduziert werden, dass eine Ansteckung anderer Personen ausgeschlossen werden kann. HIV-Positive, die sich behandeln lassen, können heute ungeschützten Sex haben: Männer können Kinder zeugen und Mütter können Kinder auf natürliche Weise zur Welt bringen.

Hoffnung auf einen mRNA-Impfstoff gegen HIV

Ralf Richter hat nach seiner HIV-Diagnose am Leben festgehalten. Heute fühlt er sich fit und gesund und strahlt eine Lebensfreude aus, die manch miesepetrigen HIV-Negativen guttun würde. Ein wichtiger Hoffnungsschimmer war für ihn die 2008 erschienende Ekaf-Studie, die nachwies, dass HIV-Positive in Behandlung, deren Virus-Last unter der Nachweisgrenze liegt, nicht ansteckend sind. "Für mich war das ein Befreiungsschlag", sagt er heute. Jedes Vierteljahr macht er einen Bluttest, ist die Viruslast gleichbleibend niedrig, weiß er, dass er niemanden anstecken kann.

Weitere Hoffnung schöpfte er zuletzt ausgerechnet in der Corona-Pandemie: Die neuartigen mRNA-Impfstoffe könnten auch die Entwicklung eines Impfstoffs gegen HIV voranbringen. Versuche einen herkömmlichen Impfstoff herzustellen, waren bisher immer wieder gescheitert, weil das mutationsfreudige HI-Virus sogenannte "Fluchtmutationen" ausbildete. Richter ist jedenfalls voller Optimismus: "In den nächsten zehn Jahren ist es bestimmt so weit." Es ist das Vertrauen eines Menschen, der ohne die Wissenschaft schon vor vielen Jahren gestorben wäre.

"Leben mit HIV ist anders als du denkst!"

Es bleibt die Frage: Was zuerst kommt, der Impfstoff oder das Ende der Vorurteile gegenüber Menschen mit HIV? "Zum Teil wird man gefragt: 'Sag mal, darf ich deine Tasse nehmen?' Oder wenn ich mit jemanden im Zimmer sitze: 'Kann da was passieren?'", erzählt Richter. Selbst beim Zahnarzt erlebe er, wie dieser sich vor der Behandlung ein zweites Paar Handschuhe überziehe.

Ein Klient bei der Thüringer Aids-Hilfe, der im Bereich der Essenszubereitung gearbeitet hat, sei aus fadenscheinigen Gründen gekündigt worden, als herauskam, dass er HIV habe. "Das gibt es auch heute noch", sagt Richter. Der Welt-Aids-Tag, der 2022 unter dem Motto "Leben mit HIV ist anders als du denkst" stattfindet, sei deswegen immer noch wichtig, meint er.

Das sieht Dr. Seidel so: "Der Welt-Aids Tag spielt auf alle Fälle noch eine wichtige Rolle. Wenn es ihn nicht gäbe, würde man über das Thema vielleicht überhaupt nicht mehr reden und es würde in der Versenkung verschwinden. Das sollte es nicht, solange es noch diese Stigmata gibt."

  • Hier finden Sie Beratung oder einen kostenlosen HIV-Test in Thüringen

*Anmerkung des Autors: Queere Communitys beziehen sich in vieler Hinsicht auf den wahrscheinlich schwulen Kulturhistoriker Johann Joachim Winckelmann. Trotzdem wird dieser Aspekt seiner Wirkungsgeschichte regelmäßig verschwiegen. Sogar die Winckelmann-Gesellschaft e.V. in Stendal, die in seinem Geburtsort ein Museum betreibt, hat auf Nachfrage von MDR THÜRINGEN die Homosexualität Winckelmanns bezweifelt und verliert kein Wort über seine Wirkung auf die Schwulen-Szene. Dabei besteht womöglich ein Zusammenhang zwischen seiner sexuellen Orientierung und seiner Ermordung im Jahr 1768.

MDR (ask)

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Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | MDR THÜRINGEN JOURNAL | 01. Dezember 2022 | 19:00 Uhr

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