Mitarbeiter und Bagger von Kampfmittelräumdienst im Einsatz
Die Firma Tauber im Einsatz bei einer Kampfmittelräumung in Rudolstadt im März 2025. Bildrechte: Tauber/Michael Heinze

Kampfmittelräumung Blindgänger: Warum die Räumung von Weltkriegs-Munition in Thüringen noch Jahrzehnte dauern wird

09. Mai 2025, 11:13 Uhr

Acht Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs liegen in Thüringen noch Unmengen an Bomben, Granaten und Munition unter der Erde. Wie viel genau, weiß niemand. Die Räumung wird Schätzungen zufolge noch Jahrzehnte dauern.

Fast zwei Tonnen wog sie, die größte Fliegerbombe seit Jahrzehnten, die in Thüringen gefunden wurde. Wäre sie hochgegangen, hätte sie am Teersee in Rositz im Altenburger Land alles im Umkreis von zwei Kilometern dem Erdboden gleichgemacht, sagte Sprengmeister Andreas West nach der Entschärfung damals, im September 2006. Mit dabei war auch Michael Heinze.

Ich gehe davon aus, dass wir in 30 bis 50 Jahren noch Munition finden.

Michael Heinze Kampfmittelräumer

Fast 20 Jahre später zeigt dieser ein Foto vom Einsatz in Rositz: Lächelnd sieht man Heinze darauf direkt neben der entschärften britischen Luftmine vom Typ HC 4.000 aus dem Jahr 1942 stehen.

Kampfmittelräumer Michael Heinze neben einer großen Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg
Michael Heinze neben der britischen Fliegerbombe Bildrechte: Tauber/Michael Heinze

"Ich gehe davon aus, dass wir in 30 bis 50 Jahren noch Munition finden", sagt er heute. Heinze ist Kampfmittelräumer und als Leitender Truppführer bei dem Unternehmen Tauber mit dafür zuständig, Thüringen von den Unmengen an Bomben, Granaten und Munition zu befreien, die sich im vorigen Jahrhundert hier angesammelt haben.

Denn auch 80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wird regelmäßig alte Munition geborgen, oft auf Baustellen und Truppenübungsplätzen, auf Feldern, in Wäldern oder auch beim Umgraben im Garten. So geschehen Anfang April im Erfurter Ortsteil Schmira, als Bewohner im Garten neben ihrem Haus in 20 Zentimeter Tiefe auf ein Panzerabwehrgeschoss aus dem Zweiten Weltkrieg stießen.

1.000 Tonnen Munition in zehn Jahren

Allein im Jahr 2024 wurden in Thüringen laut Angaben des Landesverwaltungsamts gut 61 Tonnen Kampfmittel aller Art entdeckt, entschärft und entsorgt. Die Kosten beliefen sich auf rund 1,2 Millionen Euro. In den vergangenen zehn Jahren waren es fast 1.000 Tonnen, die in Thüringen geräumt wurden. Wie viel genau noch unter der Erde liegt, weiß niemand so genau.

Luftbild von Nordhausen (Zentrum) vom 08.04.1945
Nordhausen (Zentrum) am 08.04.1945. Die Innenstadt ist nach dem Luftangriff zerstört. Bildrechte: GDI-Th, Freistaat Thueringen, TLVermGeo

Laut dem Wissenschaftlichen Dienst des Bundestags werden bundesweit noch 100.000 bis 300.000 Tonnen an Kampfmitteln vermutet. Pro Jahr müssten 5.000 Blindgänger entschärft werden. Viele stammen von den alliierten Luftangriffen in den Jahren 1942 bis 1945, als auch in Thüringen zahlreiche Städte bombardiert wurden und es am schlimmsten die Region Nordhausen traf, wo heute folglich die meisten Blindgänger gefunden werden.

Deutlich mehr reichseigene Munition

In Thüringen machen die alliierten Bomben bei Weitem nicht den Großteil der Gesamtmunition aus. "Im Verhältnis zur alliierten Munition ist die reichseigene Munition bedeutend häufiger", sagt Heinze. Er schätzt, dass mindestens in 60 Prozent seiner Einsätze Munition des Deutschen Reichs entdeckt wird.

In der Endphase des Zweiten Weltkrieges hätten die Deutschen Unmengen an Lagermunition nach Thüringen gebracht und dort etwa in den Bergwerken versteckt. Nach Kriegsende lagerten dort entsprechend Tausende Tonnen an neuer Munition, an Gerätschaften und Bomben.

Vieles davon hätten die Amerikaner und später die Sowjets gesprengt, aber längst nicht alles und oft auch unsachgemäß. Im Jahr 1996 habe das Thüringer Innenministerium einen Kampfmittelräumplan ausgearbeitet, an dem Heinze beteiligt war.

Mehr als 500 Großfundstellen mit Munition von einer Fläche von mindestens einem Hektar seien darauf verzeichnet gewesen.

Geborgene Panzerfäuste und Granaten 1 min
Bildrechte: Tauber/Michael Heinze
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MDR FERNSEHEN Do 08.05.2025 08:39Uhr 00:38 min

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Belastete Flächen sind dokumentiert

Das Land Thüringen kümmere sich seit Jahren darum, die Verdachtsflächen zu räumen. Diese könnten dann dem Forst oder der Landwirtschaft als kampfmittelfrei übergeben werden, sagt Heinze. In Thüringen gibt eine Dokumentationsstelle zur Kampfmittelräumung Auskunft über die belasteten und beräumten Flächen. Die Gebiete sind oft mit "Nicht betreten!"- Schildern ausgewiesen. Oft werden die genauen Standorte aus Sicherheitsgründen aber auch geheim gehalten. Denn alte Munition zieht auch Hobbysammler und illegale Geschäftemacher an.

Kampfmittelräumer Michael Heinze am Schreibtisch
Michael Heinze: "Es ist ein Wettlauf mit der Zeit." Bildrechte: MDR/Sascha Richter

Heinzes Arbeitgeber, das Unternehmen Tauber, ist seit über 60 Jahren im Geschäft und mit über 600 Mitarbeitern in Deutschland und international tätig. In Thüringen sind es 36 Beschäftigte - die meisten davon sind am Sprengplatz Wernrode bei Nordhausen tätig, wo die Munition entsorgt wird, der Rest sitzt am Hauptsitz in Elxleben und an der Außenstelle in Gera.

Tauber darf in Thüringen als einziges Unternehmen Kampfmittel transportieren und entsorgen. 267 Einsätze habe es im vergangenen Jahr gegeben, sagt Michael Heinze. Für die Erforschung und Räumung können aber auch andere Unternehmen engagiert werden. Größere Projekte wie die anstehende, großangelegte Räumung am Alacher See bei Erfurt werden oft auch ausgeschrieben.

Brief mit Warnung vor Kampfmittel 1 min
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Geschütze und Kampfflugzeuge unter der Erde

Die Kampfmittelbeseitiger entfernen nicht nur Munition aus dem Zweiten Weltkrieg. Auch Kampfmittel wie Minen an der innerdeutschen Grenze oder sogenannte Warschauer-Pakt-Munition, die von den Sowjets zurückgelassen wurde, spielen heute noch eine Rolle. Unter der Erde schlummert so ziemlich alles, was Krieg und Militär im 20. Jahrhundert hinterlassen haben: von Patronenhülsen, Granaten und Minen über Splitterbomben, Panzerfäuste, Fliegerbomben bis hin zu Geschützen und Kampfflugzeugen.

Geborgene Kampfmittel auf einem Tisch
Geborgene Fundstücke: Michael Heinze setzt sie auch als Schulungsmaterial ein. Bildrechte: Tauber/Michael Heinze

Spektakulär war der Fund eines deutschen Jagdflugzeugs bei Ballhausen im Jahr 2019. Die "Messerschmitt Me 109" war noch gut erhalten und wurde später von Ehrenamtlichen geborgen. "In den vergangenen 20 Jahren haben wir schätzungsweise 15 Flugzeuge ausgegraben", sagt Bombenentschärfer Heinze. Lediglich auf Panzer und Fliegerbomben mit Langzeitzünder sei er in seinen 40 Jahren als Kampfmittelbeseitiger noch nicht gestoßen.

Bomben mit Langzeitzündern explodieren verzögert, um unter anderem Rettungs- und Bergungsarbeiten zu behindern und zusätzliche Angst zu schüren. Wird so eine Bombe wie Ende April in Hannover entdeckt, wird sie oft vor Ort gesprengt, weil eine Entschärfung zu riskant ist. Bombenentschärfer müssten immer schnell vor Ort entscheiden, wie zu verfahren sei, sagt Heinze dazu.

Mitarbeiter und Bagger von Kampfmittelräumdienst im Einsatz 1 min
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Bei der Suche nach belasteten Gebieten helfen neben alten Aufzeichnungen auch Luftfotos der Alliierten. Aktuelles Beispiel sind die Bauarbeiten für neue Leitungen in Erfurt am Schmidtstedter Knoten. Die Stadt wertet nach eigenen Angaben bei allen Bauvorhaben routinemäßig Luftbilder aus dem Zweiten Weltkrieg aus. Dabei stellte sie fest, dass das Gebiet, in dem die neuen Leitungen installiert werden, zwei Bombenabwurfgebiete tangiert. Die Verdachtsflächen werden dabei nach Stadtangaben bis in eine Tiefe von sechs Metern angebohrt. Metalldetektoren erkunden schichtweise den Untergrund.

Geborgene Sprenggranaten neben einem Handschuh
Zwei 7,5 Zentimeter Sprenggranaten des Deutschen Reichs. Bildrechte: Tauber/Michael Heinze

Kosten für Kampfmittelräumung aufgeteilt

Ziemlich kompliziert gestaltet sich in Deutschland die Übernahme der Kosten für die Kampfmittelräumung. Vereinfacht gesagt kommt je nach Herkunft der Munition nämlich entweder der Bund oder das Land auf. Während die Bergung reichseigener Munition der Bund erstattet, übernimmt das Land in der Regel die Kosten für sämtliche andere hinterlassene Munition wie von den Alliierten oder der Sowjetunion - allerdings nur, wenn es sich um kommunale oder private Gebiete handelt. Wird das Grundstück gewerblich genutzt, müssen die Eigentümer die Kosten für die Kampfmittelräumung tragen.

In der Vergangenheit gab es deshalb schon häufiger Stress. Michael Heinze erwähnt den Fall einer Thüringerin, die ein Stück Wald verpachtete und damit einen kleinen Gewinn erzielte. Zufällig entdeckte man auf ihrem Grundstück mehrere sowjetische Panzergranaten. Die Rechnung für die Räumung ging an sie, auch wenn sie niemanden beauftragt hatte. Heinze zufolge fördert die Regelung, dass Leute die Munition im Zweifel selbst bergen und sich strafbar machen. Denn wer Kampfmittel entdeckt, ist verpflichtet, dies den Behörden zu melden.

Geborgene Magazine für schweres Maschinengewehr 1 min
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MDR FERNSEHEN Do 08.05.2025 08:39Uhr 00:46 min

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Schon mehrmals versuchte der Bundesrat per Gesetzentwurf, die Kampfmittelräumung zu vereinheitlichen, sodass der Bund alle Kosten übernimmt. Auch das Land Thüringen würde dies begrüßen, wie das Innenministerium auf Nachfrage mitteilte. Der Bundestag ging bisher aber nicht darauf ein. Auch im neuen Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD findet sich kein Wort zur Kampfmittelräumung.

"Es ist ein Wettlauf mit der Zeit"

Allerdings zeigen die Zahlen auch, dass der Bund einen Großteil der Gesamtkosten für die Räumung trägt. So erstattete er in Thüringen im vergangenen Jahr 937.000 Euro an Räumungskosten, während das Land Thüringen lediglich 10.933 Euro beisteuerte. Die zwei Beträge veranschaulichen auch, wie viel höher die Bedeutung von Reichs-Munition im Vergleich zur sonstigen Munition in Thüringen ist.

Heinze würde eine einheitliche Kosten-Regelung begrüßen - schon aus Sicherheitsgründen. Sicherheit steht bei ihm ohnehin ganz oben. Bei Einsätzen komme es nicht selten zu haarsträubenden Situationen mit Anwesenden, die den Sicherheitsabstand nicht einhalten oder gar die Munition berühren oder mit nach Hause nehmen. Wer zufällig auf etwas Verdächtiges stoße, solle es liegen lassen, Abstand halten und die Polizei oder das Ordnungsamt verständigen.

Mit der Zeit im Boden werden die Blindgänger auch nicht sicherer: "Korrosionsprozesse schreiten fort, so dass sie handhabungsunsicher und damit von Jahr zu Jahr gefährlicher werden", schreibt der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags. "Es ist ein Wettlauf mit der Zeit", sagt Heinze.

Mehr zum Kriegsende in Europa am 8. Mai 1945

MDR (sar)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Nachrichten | 07. Mai 2025 | 16:00 Uhr

13 Kommentare

Wessi vor 3 Tagen

DA gebe ich Ihnen mal Recht @ Nudel81.Dieses verschämte "hat ja mit uns nichts zu tun" hat sich in die Sprache eingeschlichen.Ein besonders negatives Beispiel ist der Satz "die Nazis den 2.Weltkrieg begonnen", statt klar zu sagen "die Deutschen"...

Alter Merseburger vor 4 Tagen

Nun, da wird noch viel Schrott zu finden sein. Meine Mutter will 1944 beobachtet haben, wie in Merseburg ein Blindgänger in einen Bombentrichter vergraben wurde. Er liegt noch dort

mbo77 vor 2 Tagen

@Nudel81

Gleich zu Beginn in der Zusammenfassung wird dir indirekt widersprochen.

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