Interview "Weder Lockdown noch Schulschließung": Jenaer Infektiologe bewertet Corona-Lage in Thüringen

10. Oktober 2022, 11:45 Uhr

Die kalte Jahreszeit steht vor der Tür und die Corona-Infektionen nehmen zu. Wie ist die aktuelle Lage in Thüringen und was können wir erwarten? Ein Interview mit dem Infektiologen Professor Mathias Pletz vom Universitätsklinikum Jena.

Wie bewerten Sie die aktuelle Corona-Lage?

Also momentan gehen die Inzidenzen wieder nach oben. Und wir sehen auch, dass es mehr Fälle gibt. Also nicht nur asymptomatische Infektionen, sondern wirklich Krankheitsfälle. Allerdings haben wir jetzt - im Vergleich zu der Zeit vor Einführung der Impfung - vor allem ambulante Verläufe. Also wir sehen sehr gut, dass die Intensivstation gar nicht mehr so in Anspruch genommen werden, wie das in der Vergangenheit der Fall war. Auch der Anteil der Patienten auf Normalstation ist deutlich niedriger, als es in den letzten Wellen war. Aber wir sehen eben vermehrt ambulante Verläufe.

Wenn die Inzidenz nicht mehr so ausschlaggebend ist wie früher - auf welche Werte sollten wir schauen?

Das ist eine sehr schwierige Frage, bei der es keine optimalen Lösungen gibt. Am besten wäre, sich die Auslastung der Intensivstationen anzusehen, weil wir von den Patienten, die mit einer Covid-Infektion auf der Intensivstation liegen, in der Regel wissen, dass sie wegen dieser Infektionen auf der Intensivstation liegen. Der Nachteil ist hier, dass wir einen Verzug von etwa drei Wochen haben, weil die Infektionen, die zu einem solch schweren Verlauf führen, vor etwa drei Wochen erfolgt sind. Das heißt, man kann eigentlich nur noch verspätet gegensteuern. Deswegen war die Inzidenz bisher ein sehr guter Marker, weil sie uns gezeigt hat, wie die Intensivstationen in etwa drei Wochen aussehen werden.

Wahrscheinlich wird man sich weiterhin alle drei Parameter ansehen müssen. Aber der Inzidenz kann man sozusagen die geringste Bedeutung beimessen.

Prof. Dr. Mathias Pletz Infektiologe Uniklinik Jena

Dieser Zusammenhang ist jetzt aber gar nicht mehr gegeben, weil die meisten Menschen eine Grundimmunität haben. Sei es durch Impfung oder durch eine Infektion. Und die Verläufe sind sozusagen deutlich leichter, als sie noch vor Einführung der Impfung waren.

Man versucht jetzt, auch die Auslastung der Normalstation oder überhaupt die Krankenhauseinweisungen als Marker zu nehmen. Auch das hat gewisse Probleme, weil mancher nicht immer genau unterscheiden kann, ob der Patient mit oder wegen einer Covid-19-Infektion ins Krankenhaus musste. Also wahrscheinlich wird man sich weiterhin alle drei Parameter ansehen müssen. Aber der Inzidenz kann man sozusagen die geringste Bedeutung beimessen.

Reichen Ihrer Meinung nach die aktuell gültigen Corona-Regeln aus, die wir in Thüringen haben?

Ja, ich glaube, das reicht aus. Man kann sicherlich - wenn die Inzidenzen höher gehen - auch wieder über eine generelle Maskenpflicht in den Innenräumen sprechen. Was wir definitiv nicht mehr brauchen, sind Schulschließungen und Lockdown-Maßnahmen. Das lässt sich nicht mehr rechtfertigen. Wir haben eine Grundimmunität und wir werden auch trotzdem im Winter immer wieder schwere Verläufe sehen. Damit müssen wir auch leben. Das hatten wir auch vor der Pandemie bei schweren Grippewellen.

Ein gut getragener Mund-Nase-Schutz ist immer noch besser als eine inakkurat getragene FFP2-Maske.

Prof. Dr. Mathias Pletz Infektiologe Uniklinik Jena

Das Risiko wird sich nicht auf null herunterfahren lassen. Insofern glaube ich, wenn jeder selber darauf achtet - auf Maske, auf Handhygiene, darauf, dass man zu Hause bleibt und auch testet, wenn man krank ist - dann kommt man damit sehr gut durch den Winter.

Wie ist gegenwärtig die Lage in den Kliniken? Und wie könnte Situation im Winter aussehen?

Also deutschlandweit hatten wir zu Spitzenzeiten der Pandemie etwa 5.800 Patienten, die wegen Covid-19 auf Intensivstationen lagen. Dann gab es bei der Delta-Welle nochmal knapp 5.000 und aktuell sind es nur etwa 1.360. Der Anteil der Intensivpatienten geht zwar etwas nach oben, aber er wird definitiv nicht diese Spitzen erreichen, die wir vorher hatten. Wobei jemand, der sagt, dass er genau weiß, wie der Winter aussehen wird ...da würde ich sagen, der ist nicht ganz seriös. Weil das kann man tatsächlich nicht. Man kann vielleicht zwei, drei Wochen in die Zukunft sehen, aber nicht Monate. Das haben uns die neuen Virus-Varianten gezeigt. Aber ich rechne eigentlich mit einer Saison, wie wir sie auch von mittelschweren Grippesaisons kennen.

Welche Variante des Coronavirus ist zurzeit vorherrschend?

Unser Institut sequenziert auch Virusisolate für Thüringen und wir sehen, dass gerade in Thüringen momentan BA.5 fast ausschließlich unterwegs ist. Das ist auch etwas, das wir aus der Pandemie gelernt haben: Bislang ist keine alte Variante zurückgekehrt. Jede neue Variante hat die alten Varianten komplett verdrängt. Es gab ja auch Diskussionen, ob wir Sorge haben müssen, dass die Delta-Variante zurückkommt mit einer etwas höheren Krankheitsschwere. Aktuell kann man nicht sagen, dass das geschehen wird. Ob das für die nächsten fünf, sechs Jahre so gilt, ob das so bleibt? Das weiß keiner. Aber für die mittelbare Zukunft sehe ich keine Rückkehr von älteren virulenteren Varianten.

Jede neue Variante hat die alten Varianten komplett verdrängt.

Prof. Dr. Mathias Pletz Infektiologe Uniklinik Jena

Würden sie heute noch eine Impfempfehlung ausgeben?

Für verschiedene Menschen macht es durchaus Sinn, sich noch die dritte beziehungsweise vierte Impfung zu holen. Ich glaube auch, dass die Ständige Impfkommission (Stiko) da eine gute Empfehlung gegeben hat. Ich persönlich schätze auch immer die Empfehlung der sächsischen Impfkommission. Im Unterschied zur Stiko haben die gesagt, dass es - wenn man die Wahl hat - sinnvoller ist, sich mit dem auf die aktuell zirkulierende Variante BA.4/5 angepassten Impfstoff impfen zu lassen.

Und es macht Sinn, wenn man im Sommer keine Infektion hatte. Wenn also die letzte Impfung oder die letzte Infektion länger als sechs Monate zurückliegt, dann macht für Menschen ab zwölf Jahren eine dritte Impfung auf jeden Fall Sinn. Und für Menschen über 60 Jahre macht auch eine vierte Impfung Sinn.

Gibt es aus Ihrer Sicht noch etwas anzumerken?

Ja, aus meiner Sicht ist zu überlegen, ob die FFP2-Maskenpflicht in den Krankenhäusern wirklich zielführend ist. Man muss wissen, die FFP2-Maske gilt aus arbeitsmedizinischer Sicht eigentlich als Atemschutzgerät, wo eigentlich nur eine verkürzte Tragezeit zu tolerieren ist. Und dann müssen Pausen gemacht werden. Wir selbst haben mit Untersuchungen gesehen, dass die Übertragung von Patient auf Personal oder von Personal auf Patient sehr selten ist. Viele Krankenhausausbrüche sind entstanden, weil die Übertragung von Personal auf Personal im Pausenraum stattfand. Das haben wir in zwei Publikationen auch zeigen können.

Viele Krankenhausausbrüche sind entstanden, weil die Übertragung von Personal auf Personal im Pausenraum stattfand.

Prof. Dr. Mathias Pletz Infektiologe Uniklinik Jena

Und wenn die Kollegen mit der FFP2-Maske arbeiten müssen, was ein erschwertes Arbeiten bedeutet, und dann wahrscheinlich erleichtert im Pausenraum die Maske absetzen, erreichen wir genau das Gegenteil. Also aus meiner Sicht und krankenhaushygienisch teilen diese Einstellung auch viele Kollegen. Es wäre sinnvoller, dass alle konsequent einen Mund-Nasen-Schutz tragen und die FFP2-Maske nur dann zum Einsatz kommt, wenn man eben Covid-Patienten betreut.

Und wie sieht mit der FFP2-Maske im Fernverkehr aus?

Im Fernverkehr gilt auch die FFP2-Maske. Auch hier muss man sagen, das ist ein deutscher Sonderweg. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) - und ich bin in der Leitlinien-Gruppe der WHO auch vertreten - hat hierzu Umfragen gemacht. Und aus Sicht der WHO ist der Mund-Nase-Schutz im öffentlichen Raum absolut ausreichend. Natürlich hat man mit der FFP2-Maske individuell einen höheren Schutz, aber nur, wenn sie eben richtig getragen wird. FFP2-Masken sind für viele Menschen schwierig zu tragen - etwa was die Passfähigkeit betrifft - und ein gut getragener Mund-Nase-Schutz ist immer noch besser als eine inakkurat getragene FFP2-Maske.

Aus Sicht der WHO ist der Mund-Nase-Schutz im öffentlichen Raum absolut ausreichend.

Prof. Dr. Mathias Pletz Infektiologe Uniklinik Jena

Bemerkenswert ist auch, dass das amerikanische CDC - die Centers for Disease Control - also das amerikanische Robert Koch-Institut, die generelle Maskenpflicht in den Krankenhäusern letzte Woche wieder aufgehoben hat. Die Krankenhäuser können also auf Grund der Inzidenzen und aufgrund der Patienten selbst entscheiden, ob sie eine generelle Maskentragepflicht einführen oder nicht. Aber landesweit ist der Zwang zur generellen Maske im Gesundheitswesen erst mal wieder ausgesetzt.

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MDR (cfr)

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR THÜRINGEN JOURNAL | 07. Oktober 2022 | 19:00 Uhr

22 Kommentare

Silent_John am 09.10.2022

Selten, daß ich mit Astrodon einer Meinung bin, aber hier ist es so.
Sie glauben gar nicht wie ungläubig man angeguckt wird , wenn man nicht panikartig ohne Weiters krank schreibt, wenn jemand hustet und sich bei uns meldet. Ich für meinen Teil erlaube mir , nur dann die AU auszustellen , wenn es üblicherweise auch sonst angemessen ist. So wie ich das sehe, haben wir Ärzte nämlich auch eine Mitverantwortung dafür, wie die Lage in unseren Betrieben, Schulen oder Ämtern ist. Die Krankheitsquote bei Selbständigen liegt übrigens seit vielen Jahren unter 2 % . Woran das wohl liegt und wie es sich erklärt ?
Jeder kann selber denken.

xxy21 am 09.10.2022

Ich habe mich aufgrund bekannter Vorerkrankung Anfang September bei meiner Hausarztpraxis wegen einer BA5-Auffrischungsimpfung erkundigt. Mir wurde gesagt, das Angebot spräche bisher Ungeimpfte an und ich sei mit bisher 4 Impfungen "so ordentlich" wie kaum jemand und brauche das nicht. Zwei Wochen darauf steckte ich mich in einem sehr großen Innenraum (Domkirche) an und bin nun die dritte Woche arbeitsunfähig. Ein "leichter Verlauf" mit immer noch täglicher Atemnot usw. Ich finde einen Ort, um mich nach Ablauf der Karenzzeit noch einmal impfen zu lassen. Ich möchte das NIE wieder erleben müssen.

xxy21 am 09.10.2022

Der Anteil an Menschen, denen die Standard-Ffp2 wirklich passen, dürfte verschwindend klein sein.

Das halte ich für sehr weit hergeholt. Warum sonst gibt es diese Masken und warum gelten sie als Arbeitsschutzmittel?

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