Defensive Architektur Warum Thüringens Innenstädte unbequemer geworden sind
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Unbequeme Bänke und zu wenige Sitzmöglichkeiten - der Aufenthalt in Thüringens Innenstädten ist nicht immer angenehm. Der Grund: Der Einsatz von sogenannter defensiver Architektur. Was das eigentlich ist und welche Bedeutung sie für den öffentlichen Raum und für die Gesellschaft hat - darüber haben wir mit Prof. Dr. Frank Eckardt von der Bauhaus-Universität Weimar gesprochen.

Auf dieser Seite:
- Defensive Architektur als Norm
- Herkunft: Als der öffentliche Raum kommerzialisiert wurde
- Ruf als Anti-Obdachlosen-Architektur
- Breite Bevölkerungsteile betroffen
- Von defensiver zu feindlicher Architektur
- Größere Städte sind defensiver
- Verantwortung und Architektur
- Chancen für Thüringen
Warten ist meist unangenehm - zum Beispiel auf den Bus oder die Bahn. Nicht nur wegen des Wartens an sich, sondern auch, weil die Sitzmöglichkeiten oft stark begrenzt und unbequem sind. Der Grund dafür ist aber nicht, dass Architekten und Stadtplaner nicht wissen würden, wie sich das alles angenehmer gestalten ließe. Tatsächlich liegt es an einer Sache, die in der heutigen Zeit inzwischen normal geworden ist. Die Rede ist vom Einsatz sogenannter defensiver Architektur. Und die sorgt auch in Thüringen für das ein oder andere unbequeme Erlebnis.
Defensive Architektur als Norm
Doch was genau zeichnet diese defensive Architektur eigentlich aus und welchen Zweck besitzt sie? Das haben wir Prof. Dr. Frank Eckardt gefragt. Seit 2008 hat er die Professur für Sozialwissenschaftliche Stadtforschung an der Bauhaus-Universität Weimar inne und forscht unter anderem genau zu diesem Thema. "Defensive Architektur soll verhindern, dass man sich längerfristig an einem Ort befindet oder aufhalten möchte", erklärt er. Dementsprechend sei auch ihre Gestaltung konzipiert. "Sie ist nicht darauf ausgelegt, besonders bequem zu sein, sondern in erster Linie, um kurzweilige Aufenthalte zu ermöglichen."
Defensive Architektur soll verhindern, dass man sich längerfristig an einem Ort befindet oder aufhalten möchte.
Beispiele dafür lassen sich nahezu in jeder Stadt finden. "Es ist heute eigentlich so, dass man gar nicht erwartet, sich an einer Bushaltestelle länger aufhalten zu können. (...) Man erwartet gar nicht, dass man dort eine Bank mit Lehne oder bestimmten Sitzelementen vorfindet, die das Ganze angenehmer machen." Defensive Architektur sei bei der Gestaltung des öffentlichen Raumes in den vergangenen Jahren zur Selbstverständlichkeit geworden. In der Gesellschaft, aber auch in der Ausbildung von Architekten und Stadtplanern, sei sie inzwischen die Norm.
"Das war früher nicht so", sagt er. "Wer sich zurückerinnern kann: In der Architektur hat man lange Zeit über Stadtmöbel geredet, wo man gesagt hat: Man will den öffentlichen Raum möblieren, um ihn nett, ansehnlich und gemütlich zu machen."
Herkunft: Als der öffentliche Raum kommerzialisiert wurde
"Das hat aber in den 1990er-Jahren aufgehört", schließt Eckardt an. Der öffentliche Raum sei mehr und mehr für die gastronomische Nutzung, also für Restaurants und Cafés nutzbar gemacht worden. "Das bedeutet natürlich, dass für nicht-kommerzielle Nutzung eigentlich nicht mehr so viel Bedarf war. Und dementsprechend hat sich die Architektur auch daran angepasst." Laut Eckardt hat die defensive Architektur ihren Ursprung in den USA. Anschließend sei sie auch in England übernommen worden und habe sich Stück für Stück auf dem europäischen Kontinent etabliert.
Ruf als Anti-Obdachlosen-Architektur
Eine weitere Ursache für die Entstehung defensiver Architektur sei, dass ein Teil der Bevölkerung den öffentlichen Raum in dieser Zeit als negativ wahrgenommen habe - als schmutzig und vor allem auch als gefährlich. Darauf sei mit einer neuen Architektur reagiert worden. "Man hat das auch verbunden mit bestimmten sozialen Gruppen, die man gar nicht so gerne im öffentlichen Raum sehen möchte. Ganz auf den Punkt gebracht: natürlich geht es dann um Obdachlosigkeit."
Diese Abtrennung von einzelnen Sitzen ist eigentlich das Grundmerkmal defensiver Architektur.
Deshalb gehört zu den Grundprinzipien defensiver Architektur, dass sie verhindern soll, dass Menschen sich hinlegen. Bänke werden darum etwa so gebaut, dass längere zusammenhängende Flächen vermieden werden und es zwischen den Sitzen zum Beispiel Armlehnen gibt. Damit wird es unmöglich, sich quer über zwei oder drei Sitze zu legen. "Diese Abtrennung von einzelnen Sitzen ist eigentlich das Grundmerkmal defensiver Architektur."
Breite Bevölkerungsteile betroffen
Der Einsatz von defensiver Bauweise richtet sich aber nicht nur gegen Obdachlose. "Ein Großteil der Bevölkerung ist gar nicht angesprochen durch diese Architektur", sagt Eckardt und ergänzt: "Eigentlich betrifft das mehr oder weniger die Hälfte der Bevölkerung." Gerade ältere Menschen hätten oft Probleme mit tiefen Sitzschalen, aus denen es sich gar nicht so leicht und schnell aufstehen lässt, wenn zum Beispiel der Bus kommt. "Deswegen meiden viele Seniorinnen inzwischen solche Sitze", führt der Stadtforscher aus.
Eigentlich betrifft das mehr oder weniger die Hälfte der Bevölkerung.
Aber auch für Jugendliche und Kinder sei diese Art von Sitzgelegenheiten nicht sonderlich attraktiv. "Mal auf einer Bank langzulaufen und vielleicht von einer zur anderen zu springen, geht mit Holzbänken ja noch ganz gut. Aber mit solchen Metallkonstruktionen ist das schwierig", sagt Eckardt. Auch Skateboardfahrer würden damit ferngehalten. "Wenn man alle Gruppen mal so zusammen zählt: Jugendliche, Kinder, Senioren, Familien - dann ist man eigentlich nur noch bei denen, die mobil, agil und single sind. Denn zu zweit da nebeneinander zu sitzen, macht auch keinen Spaß."
Von defensiver zu feindlicher Architektur
Noch einen Schritt weiter geht die feindliche Architektur. "Während defensive Architektur versucht, es einfach ungemütlich zu machen, will feindliche Architektur verhindern, dass sich Menschen irgendwo aufhalten", erklärt Eckardt. Dafür werden dann Gestaltungselemente wie Zacken oder Spitzen verwendet, die durchaus schmerzhaft sein können, wenn versucht wird, sie zu ignorieren. In der Erfurter Innenstadt lassen sich dafür gleich mehrere Beispiele finden, etwa Spitzen auf den Lehnen von Bänken...
...oder Metallkonstruktionen in Fensterbänken. Die Botschaft ist in beiden Fällen klar: Hier ist Aufenthalt unerwünscht.
Dass Anwesenheit an bestimmten Orten nur bedingt oder gar nicht gewollt ist, kann aber auch anders signalisiert werden als durch feindliche Architektur - nämlich durch das schlichte Weglassen von genügend Sitzmöglichkeiten. "Es ist auch zum Teil nicht gewünscht, dass sich viele Menschen hinsetzen", führt der Stadtforscher aus.
"Man sieht das sehr oft, zum Beispiel auch in Weimar. An den großen Plätzen sind nur relativ wenige Sitzgelegenheiten. Die Leute setzen sich dann auf den Fußboden." Das habe mit der Idee von Sauberkeit und Sicherheit zu tun - aber auch mit Sichtachsen. Laut Eckardt legen viele Städte Wert darauf, dass die Sicht auf bestimmte Gebäude frei ist, etwa um für Touristen oder Investoren attraktiv zu sein.
Größere Städte sind defensiver
Eine genaue Aufschlüsselung darüber, wo und wie viel defensive oder feindliche Architektur in Thüringen verbaut ist, gibt es nicht. Auch bei der Recherche hieß es: Losgehen und schauen, was zu finden ist. Daraus ergab sich die These: Je größer die Stadt, desto mehr defensive Architektur. Aber geht diese Rechnung auf?
Professor Eckardt tendiert zum Ja: "Weil man in einer größeren Stadt mehr Angst hat, Risiken einzugehen. Da gibt es oft wesentlich längere und umfangreichere Planungsprojekte, als wenn man einen kleinen Platz gestalten muss. Beim Theaterplatz in Weimar kann man beispielweise nicht dauernd neue Konzepte realisieren. Das heißt, im Zweifelfalls keine Risiken eingehen - eher defensiv."
So gehen Erfurt, Jena und Gera mit defensiver Architektur um
Die drei größten Städte in Thüringen - Erfurt, Jena und Gera - gehen mit der Thematik ähnlich um. Das Erfurter Amt für Stadtentwicklung und Stadtplanung teilt auf Anfrage beispielsweise mit: "Es ist grundsätzlich unser Ziel, allen Personen den öffentlichen Raum möglichst ohne Beschränkungen im Rahmen des Gemeingebrauches zugänglich zu machen." Lediglich im Rahmen des Vandalismusschutzes spiele defensive Architektur eine Rolle. Als Beispiel führt die Stadt die Noppen auf den Bänken am Anger an: "Ohne diese Vorkehrung wäre das Mobiliar nach kurzer Zeit beschädigt und nicht mehr als Sitzmöbel nutzbar gewesen."
Es ist grundsätzlich unser Ziel, allen Personen den öffentlichen Raum möglichst ohne Beschränkungen im Rahmen des Gemeingebrauches zugänglich zu machen.
Auch der Jenaer Stadtverwaltung ist das Konzept der defensiven Architektur bekannt. Bei der Gestaltung öffentlicher Räume spiele sie aber keine Rolle und aktuell seien auch keine baulichen Maßnahmen in diese Richtung bekannt: "Die Stadt Jena setzt aber vielmehr auf präventive Maßnahmen und den Ansatz, für alle Bedarfe entsprechende Flächen und Räume zur Verfügung zu stellen", heißt es auf Nachfrage gegenüber MDR THÜRINGEN.
Die Stadt Jena setzt aber vielmehr auf präventive Maßnahmen und den Ansatz, für alle Bedarfe entsprechende Flächen und Räume zur Verfügung zu stellen.
Kurz und knapp fällt dagegen die Antwort der Stadt Gera aus. Hier gebe es bisher keine bewusst eingesetzte defensive Architektur und es sei auch keine in Planung.
Verantwortung und Architektur
Für Professor Eckardt ist die Diskussion darum, welche Gestaltungsprinzipien im öffentlichen Raum gelten sollen, von großer Bedeutung - vor allem unter den Architekten selbst. Denn in der Regel gibt es bei Aufträgen für den öffentliche Raum Ausschreibungen. Architekten reichen dann Beiträge ein und eine Jury, die meist ebenfalls mit Architekten besetzt ist, entscheidet darüber, an wen der Auftrag geht. "Da schließt sich sozusagen ein Zirkel", erklärt Eckardt.
Das ist schon auch ein Stück weit Verantwortung, die eigentlich die Architektur auf sich nehmen müsste. Aber das Bewusstsein ist leider in der Architektur nicht vorhanden.
"Wir bilden in der Architektur Menschen so aus, dass sie sauber und sicher als richtig und selbstverständlich empfinden. Und wenn sie die Universität verlassen haben, reichen sie solche Beiträge ein, die dann von anderen Architekten angenommen werden, die ebenfalls so unterrichtet wurden. Das ist schon auch ein Stück weit Verantwortung, die eigentlich die Architektur auf sich nehmen müsste. Aber das Bewusstsein ist leider nicht vorhanden." Und das führe eben auch zur Entfremdung von den Entscheidungsträgern und zur Unzufriedenheit mit der Gesellschaft.
Chancen auf Vorreiterrolle für Thüringen
Damit der öffentliche Raum in Thüringen künftig wieder bequemer oder zumindest nicht noch defensiver wird, wünscht sich Prof. Eckardt beispielsweise einen Gestaltungsbeirat auf Landesebene, in dem nicht nur Architekten, sondern diverse zivilgesellschaftliche Gruppen vertreten sind; beispielsweise Senioren- und Schulvertreter sowie Sozialverbände.
"Da könnte Thüringen tatsächlich eine Vorreiterrolle spielen", meint Eckardt abschließend. Vor allem Kleinstädte, von denen es gerade in Thüringen viele gebe, seien manchmal überfordert. In einigen Fällen gebe es nur einen Stadtplaner, der für die gesamte Gestaltung des öffentlichen Raumes zuständig sei. Deshalb könne es gut sein, wenn ein solcher Beirat als Ansprech- und Diskussionspartner bereit stünde. "Das würde, glaube ich, vielen Kleinstädten helfen."
MDR
Alina Adrena am 03.06.2022
Also der Artikel lässt mich fassungslos zurück. Nicht deswegen, weil es so etwas wie defensive oder gar feindliche Architektur gibt, das wusste ich schon vorher. Sondern der Grund, WARUM diese Form des Unbequemmachens des Aufenthaltes im öffentlichen Raum überhaupt notwendig ist. Daß Bänke wegen Obdachloser unbequem gemacht werden müssen, halte ich für einen Mythos. Nach meiner Erfahrung lagen da früher Menschen aller Couleur und meist jüngeren Alters, die nicht gelernt haben, daß Füße nicht auf eine Bank gehören (kann man übrigens auch gut im ÖPNV beobachten!). Und DAS ist der Grund: wir leben in einer rücksichtslosen/respektlosen Zeit, in der das eigene Bedürfnis oft zu sehr im Vordergrund steht und sofort befriedigt werden muß. Wenn wir wieder lernen, mehr Rücksicht auf andere zu nehmen, und mehr Respekt voreinander und vor Dingen (Bänken zb) zu haben, verschwinden vielleicht auch die Auswüchse defensiver Architektur wieder.
Matchmaker am 02.06.2022
Also ich habe noch in Kindheitszeiten gelernt, dass man sich nicht auf Lehnen setzt und sich auf Bänken nicht hinlegt. Schließlich will sich keiner die Hose schmutzig machen, weil ein anderer die Schuhe auf der Sitzfläche stellt. Es geht also nicht darum, andere auszuschließen, sondern wie man sich in der Öffentlichkeit zu benehmen hat.
Defensive Architektur: sehr gut! Vielleicht bringt so die Menschen dazu, ein klein wenig Anstand zu wahren.
Christine55 am 02.06.2022
Daß man die Obdachlosen mit dieser "Architektur" davon abhalten will, auf einer Bank zu schlafen, ist schon fast zynisch zu nennen. Viele sind unverschuldet in diese Lage geraten. Und
Es werden immer mehr. Vielleicht sollte man stattdessen Mal über eine ordentliche Unterbringung dieser Menschen nachdenken. Für Zugewanderte, Flüchtlinge usw. Ist das offensichtlich überhaupt kein Problem.