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AnalyseFachkräfte-Mangel: Chemiebranche mit stärksten Jobverlusten

21. Juli 2022, 12:50 Uhr

In Thüringen haben die Reisebranche, der Chemiesektor sowie Messe- und Vermietungsfirmen mit den größten Verlusten an Fachpersonal zu kämpfen. Doch einige Branchen gewannen im Corona-Jahr 2021 auch Beschäftigte dazu.

von Robert Mailbeck, MDR THÜRINGEN

Im Corona-Jahr 2021 haben einige Thüringer Branchen gegen den allgemeinen Trend mehr Personal gewonnen. Nach Daten der Landesarbeitsagentur profitierte vor allem der Bereich Forschung und Entwicklung. Dort wuchsen die Beschäftigungszahlen um knapp fünf Prozent.

Mit dem stärkstem Rückgang an Fachpersonal hatten neben dem Chemie- und Textilsektor auch die Reisebranche sowie der Messe- und Vermietungsbereich zu kämpfen. Ebenso kehrten im Corona-Jahr 2021 auch viele Beschäftigte der Glasherstellung sowie bei Versicherungen ihrer Branche den Rücken zu. Das geht aus Daten und Prognosen der Regionaldirektion Halle der Agentur für Arbeit hervor.

Verlierer: Kleinere Wirtschaftsbereiche

Zu den größten Verlierern gehörten dabei nicht die Branchen-Schwergewichte wie Einzelhandel oder der Gesundheitssektor, sondern vor allem kleinere Wirtschaftsbereiche mit oft nur wenigen Tausend Beschäftigten.

Aber auch das unter coronabedingten Schließungen leidende Thüringer Gastgewerbe mit mehr als 20.000 Angestellten musste bis Ende 2021 auf mehrere Hundert Beschäftigte verzichten. Dirk Ellinger vom Hotel- und Gaststättenverband sagte MDR THÜRINGEN, in Corona-Zeiten seien die Betriebe von Schließungen oder anderen Auflagen betroffen gewesen. Viele Mitarbeiter hätten sich daher Jobs mit sicherer Bezahlung gesucht. Die Beschäftigten seien vor allem in die Gesundheitsbranche und in den Handel abgewandert. Ellinger geht davon aus, dass es für die Gastro-Branche sehr schwer sein wird, diese ehemaligen Mitarbeiter zurückzuholen.

Immer weniger Menschen arbeiten im Thüringer Gastgewerbe. Bildrechte: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Jens Büttner
Beschäftigungsentwicklung in Thüringen
BrancheEntwicklung der Beschäftigten 2021 (Prognose)Beschäftigte Ende 2020Beschäftigte Ende 2021(Prognose)Beschäftigte Ende 2022

(Prognose)
Kokerei und Mineralölverarbeitung, chemische Erzeugnisse-9,7 Prozent3.3883.0593.027
Sonstige Dienstleistungen (Vermietung, Reise, Messe)-6,1 Prozent8.1947.6917.836
Herstellung von Textilien, Bekleidung und Lederwaren-6 Prozent2.6182.4602.396
Herstellung von Glas, Keramik, Verarbeitung von Steinen und Erden-4,8 Prozent10.3179.8229.745
Versicherungsdienstleistungen-4,6 Prozent2.3002.1952.098
Land- und Forstwirtschaft, Fischerei-3,3 Prozent12.59112.18112.037
Überwiegend persönliche Dienstleistungen-2,6 Prozent9.0458.8078.795
Herstellung von Kraftwagen und Kraftwagenteilen-2 Prozent15.90015.58215.361
Herstellung von Möbeln-1,9 Prozent2.9552.8992.817
Herstellung von pharmazeutischen Erzeugnissen-1,4 Prozent1.9831.9561.969

Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Herbst 2021

Die Folgen des Ukrainekriegs und der steigenden Energiepreise sind in den Daten der Arbeitsagentur noch nicht berücksichtigt. Ebensowenig geht aus den Zahlen der Arbeitsagentur hervor, ob Mitarbeiter gekündigt haben beziehungsweise Unternehmen schließen mussten.

Andere Daten aus Sachsen-Anhalt

In Sachsen-Anhalt gab es einen anderen Verlauf: Dort wuchs die Beschäftigung im Vorjahr laut Berechnungen der Arbeitsagentur am meisten im Bereich Unternehmensberatungen (+7,9 Prozent) und bei den Versicherungen (+4,8 Prozent). Die Branche um Architektur- und Ingenieurbüros sowie Labore verlor dagegen im Verhältnis die meisten Beschäftigen (-3,1 Prozent).

"Unsere Analyse von Berufen mit einem Engpass an Beschäftigten umfasst jedoch immer mehr Branchen", erläuterte Judith Wüllerich, Geschäftsführerin der Regionaldirektion Sachsen-Anhalt-Thüringen der Arbeitsagentur. Die Lage in den einzelnen Thüringer Betrieben ist dabei sehr unterschiedlich.

Stellen in Thüringen am längsten frei

Thüringens CDU-Fraktionschef Mario Voigt verwies unlängst darauf, dass Thüringen deutschlandweit auf dem letzten Platz bei der Wiederbesetzung von Stellen liegen würde. "Es dauert mittlerweile durchschnittlich 124 Tage bis es gelingt, einen freien Arbeitsplatz in Thüringen wieder zu besetzen."

Es dauert mittlerweile durchschnittlich 124 Tage bis es gelingt, einen freien Arbeitsplatz in Thüringen wieder zu besetzen.

Mario Voigt, Chef der CDU-Fraktion im Thüringer Landtag

Perspektivisch scheint klar, dass die größeren Branchen im Fokus stehen, Fachkräfte zu gewinnen. Die Arbeitsagentur erstellt eine jährliche Engpass-Analyse, in welchen Branchen es die wenigsten Bewerber aus der Arbeitslosigkeit beziehungsweise aus einem Job heraus (arbeitssuchend) auf eine Stelle gibt.

In Thüringen ist die Not in diesen zehn Berufsfeldern am größten:

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In Sachsen-Anhalt ist die Not in diesen zehn Berufsfeldern am größten:

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Zwischen 22.000 und 23.000 offene Stellen gibt es inzwischen in Thüringen und ebenso in Sachsen-Anhalt. Und die Zahl steigt. Das Problem besteht in ganz Deutschland. Im März 2022 erreichte der Stand an offenen Stellen einen neuen Rekordwert: Fast jede zweite offene Stelle konnte in Deutschland nicht besetzt werden, hat das Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung am Institut für Weltwirtschaft in seinem Fachkräftereport berechnet.

Mehr Mitarbeiter im Gesundheitssektor

Trotzdem gab es auch große Branchen, die Ende 2021 und trotz der Corona-Einschränkungen unter dem Strich mehr Mitarbeiter einstellen konnten. So arbeiteten im Thüringer Gesundheitssektor Ende 2021 rund 500 Mitarbeiter mehr als noch ein Jahr zuvor. In dem Bereich waren zum Jahreswechsel über 65.000 Mitarbeiter beschäftigt.

Und die Arbeitsagentur geht davon aus, dass Ende 2022 noch einmal einige Hundert Beschäftigte mehr in Krankenhäusern, Arztpraxen oder Reha-Kliniken arbeiten werden. Auch im Einzelhandel und im damit verbundenen Lebens- und Genussmittelbereich wuchs die Zahl der Beschäftigten in der Pandemie jeweils um 1,7 Prozent auf fast 60.000 beziehungsweise fast 22.000 Angestellte.

Gewinner auf dem Arbeitsmarkt: der Gesundheitssektor. Bildrechte: imago images/ingimage

Größter Beschäftigungszuwachs bei Forschung und in der IT

Den höchsten Beschäftigungszuwachs errechnete die Arbeitsagentur im Vorjahr jedoch für den oft von staatlicher Förderung abhängigen Sektor Forschung und Entwicklung (+4,9 Prozent) sowie für die IT- und Kommunikationsunternehmen (+4,3 Prozent). Aber auch im Bereich Architektur, Ingenieurbüros oder Labore (+3 Prozent) gab es Ende 2021 laut Arbeitsagentur mehr Jobs, ebenso bei der Reparatur und Installation von Maschinen oder Ausrüstungen (+2,8 Prozent) sowie im sonstigen Fahrzeugbau (+2,7 Prozent) und im Grundstücks- und Wohnungswesen (+2,4 Prozent).

Thüringen rechnet aufgrund der immer älter werdenden Bevölkerung damit, dass sich der Fachkräftemangel im Freistaat weiter stark verschärfen wird. Vor allem aufgrund der vielen in den nächsten Jahren in Rente gehenden Thüringer müssen dann jährlich knapp 25.000 Mitarbeiter in Betrieben, Krankenhäusern, Schulen oder Verwaltungen ersetzt werden.

Gesundheits- und Sozialbranche sucht 80.000 Mitarbeiter

Im Gesundheits- und Sozialbereich sowie im verarbeitenden Gewerbe werden bis 2030 schon allein jeweils rund 80.000 Fachkräfte gesucht. Die Zahl der Arbeitskräfte soll in den Betrieben dabei in etwa gleich bleiben. Auch die Verkehrs- und Logistikbranche sucht nach Angaben des Landes bis 2030 mehr als 45.000 neue Mitarbeiter.

In der Pflege und im Gesundheitsbereich kommt noch ein Problem dazu. Hier müssen nicht nur die in Rente gehenden Mitarbeiter ersetzt werden, sondern es werden aufgrund der älter werdenden Thüringer Bevölkerung darüberhinaus noch viele neue Beschäftigte gesucht. Gegenwärtig ist annähernd jeder vierte Thüringer im Rentenalter.

"Inzwischen bewerben sich Arbeitgeber oft bei den Bewerbern", fasst Arbeitsmarkt-Expertin Wüllerich die immer schwieriger werdende Lage auf dem Arbeitsmarkt zusammen. In den nächsten Jahren komme auf einen Thüringer oder Sachsen-Anhalter zwei Rentner-Stellen.

Inzwischen bewerben sich Arbeitgeber oft bei den Bewerbern.

Judith Wüllerich | Geschäftsführerin der Regionaldirektion Sachsen-Anhalt-Thüringen

Das Land Thüringen, die Industrie- und Handelskammern und die Arbeitsagentur versuchen, dem Trend mit einer besseren Qualifizierung zumindest teilweise entgegenzusteuern. In Suhl oder Dessau wurden Weiterbildungszentren eröffnet. Weitere sind geplant, um Berufstätige im Job weiter zu qualifizieren oder auch möglichst Hilfskräfte zu Facharbeitern weiterzubilden. Daneben sollen mehr Jugendliche für eine Ausbildung interessiert und Fachkräfte aus dem Ausland vermehrt in Arbeit vermittelt werden, etwa durch die Agentur für Fachkräftegewinnung.

Arbeitsagentur sucht Fachkräfte in El Salvador, Mexiko und Kolumbien

Aber auch die Arbeitsagentur suche derzeit etwa in El Salvador nach Pflegekräften, in Mexiko nach Mitarbeitern für die Gastronomie und in Kolumbien Mechatroniker und Elektroniker, sagte Judith Wüllerich MDR THÜRINGEN.

Deutschland brauche jedes Jahr rund 400.000 ausländisch Beschäftigte, um den Fachkräftemangel wirkungsvoll zu begegnen, schätzte Deutschlands oberster Arbeitsagentur-Chef Detlef Scheele. Wüllerich überschlägt, dass davon in Thüringen und Sachsen-Anhalt wohl rund zehn Prozent benötigt würden.

Doch obwohl die Zahl der ausländisch Beschäftigten zumindest in den vergangenen Jahren in Thüringen und Sachsen-Anhalt spürbar stieg, reicht die Zahl bei Weitem nicht aus. Aber immerhin: Hatten im Jahr 2016 in Thüringen noch etwa 30.000 Beschäftigte aus dem Ausland gearbeitet, waren es Ende des Vorjahres bereits knapp 58.000 Menschen.

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Sogar eine der letzten Reserven am Arbeitsmarkt, die Zahl der rund 20.000 Thüringer Langzeitarbeitslosen, sank zuletzt um gut 400. Die Quote derjenigen in Thüringen, die länger als ein Jahr ohne Arbeit waren, fiel unter 40 Prozent, heißt es im Juni-Bericht der Agentur.

Fachkräfte-Mangel bremst Wachstum aus

Das Problem drängt immer mehr. Wenn Fachkräfte fehlen, können Unternehmen weniger Aufträge annehmen, verlieren Umsatz und zahlen nicht zuletzt weniger Steuern. Der Fachkräfte-Mangel sorgt inzwischen schon in Thüringen für ein niedrigeres Wirtschaftswachstum, wobei das Land dies nicht genau beziffern kann.

Trotzdem lag im Freistaat das Wachstum in den vergangenen Jahren unter dem Bundesschnitt. Doch zumindest einen kleinen Lichtblick gibt es dabei. Die Arbeitsproduktivität wächst in Thüringen weiter. Mit anderen Worten: Die Thüringer arbeiten immer effizienter.

MDR (rom)

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Dieses Thema im Programm:MDR THÜRINGEN - Das Radio | Nachrichten | 20. Juli 2022 | 08:00 Uhr

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