DDR-Geschichte Kopenhagen wollte 1988 keinen Ärger: Warum Dänemark Thüringer der Stasi auslieferte
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Im September 1988 drangen 18 Thüringer in die dänische Botschaft in Ost-Berlin ein, um ihre Ausreise in den Westen zu erzwingen. Entgegen allen Absprachen unter westlichen Partnern ließen die Dänen die Thüringer durch die Stasi aus der Botschaft abführen. Nun freigegebene Dokumente legen nahe, dass Dänemarks hoch geachteter Ministerpräsident Poul Schlüter damals dazu die Anweisung gegeben hat.

Aus verschiedenen Richtungen kommen die Thüringer nach Berlin. Die einen aus ihrer Heimatstadt Ilmenau, die anderen aus dem Urlaub oder von Reisen irgendwo in der DDR. Es ist der 9. September 1988 um 11 Uhr morgens. Unbehelligt laufen sie an dem Volkspolizisten vorbei, der in der Straße Unter den Linden 41 postiert ist.
Hier befinden sich die Büros der Komischen Oper wie auch die der dänischen Botschaft. Die Thüringer glauben, den schwierigsten Teil ihres Plans gemeistert zu haben.
Ich habe mir gedacht, die größte Hürde ist, in diese Botschaft reinzukommen. Wenn ich das geschafft habe, bin ich sicher, da kann mir nichts mehr passieren.
"Ich habe mir gedacht, die größte Hürde ist, in diese Botschaft reinzukommen. Wenn ich das geschafft habe, bin ich sicher, da kann mir nichts mehr passieren", sagt Cornelia Küpper heute. Sie war eine der 18 Ilmenauer - sieben Männer, sechs Frauen und fünf Kinder. Sie alle hatten Jahre zuvor Ausreiseanträge gestellt und in der Zwischenzeit Drangsalierung und Ausgrenzung erdulden müssen.
Staatsbesuch als scheinbar geeigneter Zeitpunkt
Den Zeitpunkt für Ihre Aktion hatten die Thüringer bewusst gewählt: Vier Tage später, am folgenden Dienstag, sollte der dänische Ministerpräsident Poul Schlüter zu seinem ersten Besuch in die DDR kommen. Der Ausbau der Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern und Fischereirechte sollten besprochen werden. Die Ilmenauer hofften auf besondere Aufmerksamkeit für ihre Anliegen.
Von der Stasi aus der Botschaft geholt
Doch es kam anders. Nach zermürbenden 15 Stunden wurden sie durch die Staatssicherheit aus den Räumen der Botschaft geführt. Die Erwachsenen landeten in Gefängnissen, die Kinder in Heimen. Der Staatsbesuch des dänischen Ministerpräsidenten hingegen verlief ohne Zwischenfälle und zur Zufriedenheit beider Länder.
Erst als die Presse später von der Geschichte Wind bekam, wuchs der Druck: In Dänemark, in der Bundesrepublik Deutschland und auch in der DDR. Die Thüringer wurden freigelassen und konnten ein halbes Jahr später ausreisen.
Botschafter übernahm die Verantwortung
Warum die Dänen so handelten und wer dafür die Verantwortung hatte, wurde nie final geklärt. Das dänische Parlament setzte einen Untersuchungsausschuss ein. Dessen offizieller Bericht enthält zwar Lücken. Er schrieb jedoch dem damaligen Botschafter in der DDR, Erik Krog-Meyer, die Hauptverantwortung für das Geschehen zu. Krog-Meyer erhielt eine Rüge und wurde nach Helsinki versetzt. So die offizielle Version der Dinge. Doch die muss möglicherweise umgeschrieben werden.
Kam die Anweisung vom Ministerpräsidenten?
Denn mittlerweile freigegebene Akten des Auswärtigen Amtes legen nahe: Dänemarks Ministerpräsident Schlüter selbst soll seine Diplomaten angewiesen haben, die DDR-Behörden um die Räumung der Botschaft zu bitten.
Das jedenfalls haben westdeutsche Diplomaten bereits im September 1988 erfahren: "Nach all dem, was wir wissen und was uns gesagt worden ist, war das eine Weisung des Ministerpräsidenten an seinen Botschafter", sagt der damalige Staatssekretär Dr. Jürgen Sudhoff nun im Interview. "Und ich glaube, dass der Botschafter, dass der ein Opfer dieser ganzen, dieser ganzen überstürzten Entscheidung war."
Hinter den politischen Kulissen entspann sich ein diplomatischer Eklat, in den sich auch der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl einschaltete. Er selbst, so heißt es in einem Dokument, "werde die Angelegenheit gegenüber MP Schlüter ansprechen". Kohl gab außerdem die Weisung, die Sache zu "kalmieren", also zu beruhigen.
Film versucht, den Fall zu klären
Der MDR hat gemeinsam mit dem RBB in dem Film "Verrechnet oder verraten?" die Ereignisse vom Herbst 1988 nachgezeichnet und zeigt erstmals die neu zugänglichen Dokumente des Auswärtigen Amtes zu dem Fall.
Der dänische Historiker Prof. Thomas Wegener-Friis bezeichnet den Fall "gewissermaßen [als] die Erbschuld des dänischen Außenministeriums" und fügt hinzu: "Man hat in Dänemark nie diese Geschichte richtig aufgearbeitet."
Auch die beteiligten Familien aus Thüringen wissen bis heute nicht genau, wie und warum sie damals zum Spielball politischer Interessen zwischen Ost und West wurden.
MDR (gh)
Dieses Thema im Programm: Das Erste | Go West Go East - Verrechnet oder verraten? Flucht über die Dänische Botschaft | 16. Mai 2022 | 23:35 Uhr
DER Beobachter vor 1 Wochen
Ilse, ist Ihr Kommentar Ironie auf die Genannten (diese Ironie würde ich teilen) oder glauben Sie das wirklich? Ich tippe nach Ihren bisherigen Kommentaren auf Letzteres...
Ilse vor 1 Wochen
Der Beobachter
Für die Genannten steht nicht an erster Stelle der eigene Egoismus. Die Gemeinsamkeit verbindet alle, eine "erstrebenswerte" Gesellschaftsidee, zu haben.
DER Beobachter vor 1 Wochen
Poul Schlüters damalige Regierungskoalition war eine aus seiner sagen wir rechtskonservativen (schon damals "rechter" als Kohl) Partei und der rechtsäußeren Venstre. Warum verstehen sich die Rechtsäußeren eigentlich immer so super mit eigentlich Kommunisten, Stalinisten und Zarenverstehern... ?