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NachkriegszeitJeder Vierte in Thüringen hat bis 1950 eine Flucht- und Vertreibungsgeschichte

01. November 2024, 17:52 Uhr

Ab 1944 wird Thüringen zur Drehscheibe für mehrere Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aus dem Osten des Deutschen Reiches. Fast 700.000 von ihnen finden in Thüringen eine neue Heimat. Das stellt Einheimische und Ankommende vor große Herausforderungen.

von Dagmar Weitbrecht, MDR THÜRINGEN

Die Beschlüsse der Alliierten regeln, wie Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aussehen soll. In der Folge müssen zwölf Millionen Menschen ihre alte Heimat verlassen. Schon Ende 1944 beginnt ein Massenexodus aus dem Osten des Deutschen Reiches. In Thüringen sind aber schon Tausende Ausgebombte aus den Ballungszentren untergebracht, ebenso Tausende Kinder, die durch die sogenannte Kinderlandverschickung nach Thüringen gebracht wurden.

Elsa Wedrich erlebte die Vertreibung aus dem Sudetenland als Fünfjährige. Bildrechte: MDR/Dagmar Weitbrecht

Zu den Flüchtlingen kommen später die vertriebenen Deutschen aus Polen und Tschechien, später dann auch heimkehrende Wehrmachtssoldaten. Die Menschenmassen kommen zu Fuß, mit Fuhrwerken, mit den wenigen Zügen, die fahren, und sie brauchen Unterkunft, Essen und medizinische Versorgung.

Die wilden Vertreibungen aus Tschechien und Polen

Elsa Wedrich ist fünf Jahre alt, als die Aufforderung kommt, ihre Heimat Teplitz-Schönau im Sudetenland zu verlassen. Obwohl der Sommer 1945 warm ist, muss sie ihren Wintermantel anziehen. Sie nimmt die neue Puppe mit und stopft drei Äpfel in die Brottasche. Das ist alles.

Am Sammelpunkt werden Mutter und Tochter von den ehemaligen tschechischen Nachbarn gefilzt. Die Mutter verliert Dokumente und Sparbücher, Elsa wird die Puppe weggenommen und auf einen Haufen mit Spielzeug geworfen. "Tränen hätten da nichts gebracht", sagt die heute 85-Jährige.

Der Flüchtlingsausweis von Elsa Wedrichs Mutter Anna. Bildrechte: MDR/Dagmar Weitbrecht

Eingebrannt hat sich bei dem Mädchen der Anblick des zerstörten Dresdens. Dort bekommt Elsas Mutter von russischen Soldaten einen Passierschein ausgestellt. Nach mehreren Stationen kommen Elsa und ihre Mutter nach Neustadt an der Orla. Dort wird Elsa eingeschult und findet eine neue Heimat. Die ganze Geschichte von Elsas Flucht, die in Neustadt an der Orla endet, schildert sie in der MDR THÜRINGEN-"Kulturnacht".

Vom Quarantänelager zur ersten Unterkunft

Um Seuchen einzudämmen und die Menschenströme einigermaßen zu steuern, werden sogenannte Quarantänelager errichtet. In Neustadt an der Orla sind es allein drei. Zuerst werden die Ankommenden entlaust und bekommen die Gelegenheit ihre Kleidung zu waschen. Sie werden medizinisch versorgt und bekommen etwas zu essen.

Wir wollen nicht weiter, du musst krank sein.

Die Mutter von Elsa Wedrich

Die fünfjährige Elsa bekommt von ihrer Mutter die Ansage: "Wir wollen nicht weiter, du musst krank sein." So hat sie Bauchweh, Ohrenschmerzen und die Ärzte bescheinigen das auch. Das verschafft erst einmal Zeit.

Das Eichsfeld wird zum Nadelöhr

Im Norden Thüringens herrscht eine besonders prekäre Lage. Tausende Menschen wollen in Richtung Westen zum Durchgangslager Friedland. Im Eichsfeld grenzen die russische, britische und amerikanische Besatzungszone aneinander. Innerhalb weniger Monate queren zweieinhalb Millionen Menschen den Landstrich. Historiker Torsten Müller sagt: "Das war für die Bevölkerung kaum auszuhalten."

Es gibt viele Eichsfelder, die großherzig geholfen haben. Aber es gibt auch Eichsfelder, die den Vertriebenen die letzte Mark aus der Tasche geholt haben.

Torsten Müller | Historiker

Es gab Lager in Heiligenstadt, Kirchengandern und Teistungen, aber die konnten die Menschenmassen nicht fassen. "Es gibt viele Eichsfelder, die großherzig geholfen haben. Aber es gibt auch Eichsfelder, die den Vertriebenen die letzte Mark aus der Tasche geholt haben, weil sie ihre Handwagen zu Verfügung gestellt haben, die die letzte Habe der Menschen zur Grenze transportiert haben", beschreibt Müller die Situation.

Das Melderegister von Jützenbach, in dem auch Flüchtlinge und Vertriebene erfasst worden. Bildrechte: MDR/Dagmar Weitbrecht

Das Eichsfelder Dorf Jützenbach bringt einen Transport von 171 Menschen aus Schlesien unter und bietet ihnen eine Heimat auf Zeit. Die Dorfgemeinschaft räumt die beiden Gasthaussäle und das Obergeschoss der Zigarrenfabrik. Für viele Neuankömmlinge finden sich Zimmer im Dorf. Einige Familien wohnen aber noch monatelang in den Sälen, hat Martina Monecke recherchiert.

Mehr dazu können Sie in der MDR THÜRINGEN-"Kulturnacht" am Sonntag, 3. November nach 22 Uhr im Radio hören oder hier.

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MDR (co/gh)

Dieses Thema im Programm:MDR THÜRINGEN - Das Radio | Kulturnacht | 03. November 2024 | 22:00 Uhr

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