Alternative zum Gas Strom für Thüringens Glasindustrie: Ramelow sprudelt vor Ideen, Partner skeptisch

02. Juli 2022, 05:00 Uhr

Bisher befeuert Erdgas die Wannen, mit denen in Südthüringen Glas geschmolzen wird.
Für eine sichere Zukunft muss die Branche auf andere Energieträger umsteigen. Der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow lässt prüfen, wie weit seine Ideen für eine Umstellung auf Strom tragen. Bisher reagieren die meisten Beteiligten, die er für seinen Plan braucht, zurückhaltend, skeptisch - oder gar nicht.

Dekarbonisierung der Thüringer Glasindustrie: Kaum ein anderes Stichwort ist in der Thüringer Politik zuletzt so oft gefallen wie dieser sperrige Begriff. Wirtschaftsminister Wolfgang Tiefensee (SPD) führt ihn im Munde, auch die grüne Energieministerin Anja Siegesmund oder Infrastrukturministerin Susanna Karawanskij von den Linken. Aber zuletzt hat niemand häufiger öffentlich damit hantiert als Ministerpräsident Bodo Ramelow.

Nur eine Glaswanne wird mit Strom beheizt

Dekarbonisierung meint den Umbau der Energieversorgung weg von kohlenstoffhaltigen Energieträgern, bei deren Verbrennung Kohlendioxid entsteht, hin zu klimafreundlichen Quellen der Erzeugung. Für die Thüringer Glasindustrie ist dieser Prozess in den verganganen Monaten zu einer existenziellen Frage geworden. Die Branche ist im Moment auf Gedeih und Verderb auf Erdgas angewiesen: Von ihren 41 Thüringer Glaswannen wird im Moment nur eine mit Strom geheizt.

Bei der Suche nach elektrischen Alternativen zu den Gasbrennern versucht der Thüringer Ministerpräsident gerade, sich an die Spitze der Bewegung zu setzen. Ramelow hat der Glasindustrie, seinen Koalitionspartnern und auch der CDU ein Bündel von Ideen präsentiert. Der Regierungschef wirbelt, verteilt Aufträge und stellt Anfragen, um prüfen zu lassen, was davon machbar ist.

Ramelow-Idee: Gleichstromleitung Südlink anzapfen

Eine dieser Ideen lautet: Die geplante Gleichstromleitung Südlink anzapfen, wenn die Glaswannen auf Strom umgestellt werden. Den Regierungschef regt es seit Jahren auf, dass die unterirdische Stromleitung von Schleswig-Holstein nach Süddeutschland durch Thüringen führen soll, das nicht auf dem direkten Weg liegt. Ramelow beteuert, dass er diesem Ärgernis die beste Seite abgewinnen möchte: Mit dem Präsidenten der Bundesnetzagentur habe er vereinbart, dass die Behörde prüft, ob und wie man kurz vor der thüringisch-bayerischen Grenze Strom von Südlink abzweigen und direkt zu den acht Standorten der Thüringer Glasindustrie leiten kann.

Die Idee ist deshalb unkonventionell, weil das geplante Gleichstrom-Erdkabel nicht einfach ins deutsche Wechselstrom-Netz einspeisen kann. Eine Verbindung wäre möglich, aber derart teuer, dass sie einfach nicht in Frage kommt. Ramelow stellt sich deshalb vor, die Thüringer Glasindustrie direkt mit Gleichstrom zu versorgen. Weil es Gleichstromnetze in Deutschland bisher nicht gibt, hat Ramelow die Uni Ilmenau ins Boot geholt. Er bat Professor Dirk Westermann, der das Fachgebiet Elektrische Energieversorgung leitet, die Landesregierung zu beraten.

Uni-Professor will Ramelows Idee untersuchen lassen

Angesprochen auf Ramelows Idee, gibt Westermann an, inhaltlich könne er zu dieser Idee noch gar nichts sagen. Er wolle die von Ramelow gestellten Fragen am Institut tiefgründig untersuchen lassen. "Zu vermaschten Hochspannungs-Gleichstromnetzen forschen wir in Ilmenau seit Jahren: Wie baut man so ein Netz auf, wie betreibt man es, wie schützt man es?" Die Uni habe dazu theoretische Konzepte in der Schublade. Ein Pilotprojekt vor der Haustür könnte ein Leuchtturm werden, um sich international zu positionieren. Nur: Ob und wie die Idee funktioniert, sei völlig offen.

Südlink-Betreiber fürchten um ihren Zeitplan

Tennet und TransnetBW als Planer und künftige Betreiber von Südlink reagieren dagegen frostig auf Ramelows Idee. Auf Anfrage erfährt MDR THÜRINGEN: Mit beiden Netzbetreibern gab es bisher keine Gespräche. Man habe von den Plänen aus der Presse erfahren und stehe für Gespräche jederzeit bereit. Im Kern fürchten beide Unternehmen um den Zeitplan für Südlink, sollte Ramelows Idee ernsthaft in Erwägung gezogen werden.

Die Verfahren würden seit vielen Jahren laufen, aktuell sei man mit den Planfeststellungsverfahren mitten in der Detailplanung. Eine Änderung würde die Genehmigung und damit Bau und Fertigstellung der Leitung verzögern – die für Versorgungssicherheit und Energieunabhängigkeit in Deutschlands dringend gebraucht werde. Tennet und TransnetBW richten noch nach Erfurt aus: Wenn sich Thüringen sicher sei, dass es beim Leitungsbau zusätzlichen Bedarf gibt, müsse das Land dieses Anliegen in ein neues gesetzliches Verfahren einbringen.

Auch der Idee an sich können Tennet und TransnetBW wenig abgewinnen: "Ein vermaschtes Gleichstromnetz gibt es in Deutschland nicht, stattdessen ist das bestehende Wechselstromnetz historisch gewachsen. Stromintensive Betriebe, wie beispielsweise Aluminiumhütten in Nordrhein-Westfalen, sind üblicherweise an das stark verzweigte Wechselstromübertragungsnetz angeschlossen, welches hervorragende Bedingungen bietet", schreiben die Unternehmen. Sie lehnen auch eine Kostenabschätzung ab.

Variante 2: "Thüringer Strombrücke" ausbauen

Ramelow lässt verschiedene technische Lösungen parallel untersuchen. Eine andere wäre es, Thüringens Glasindustrie über das bestehende Wechselstromnetz zu versorgen. Der geplante Bau eines Teilabschnittes von Südlink durch Thüringen regt den Ministerpräsidenten auch deshalb so nachhaltig auf, weil an anderer Stelle potentielle Kapazitäten brachliegen: Die 380-kV-Leitung "Thüringer Strombrücke" ist von Erfurt über den Thüringer Wald so genehmigt und gebaut worden, dass ihre Kapazität mit überschaubarem Aufwand verdoppelt werden kann. Konkret sind die Masten so stabil errichtet worden, dass zusätzliche Querträger angebracht und weitere Leiterseile daran befestigt werden können. Ramelow und Umweltministerin Siegesmund werden nicht müde zu wiederholen, dass der Ausbau dieser Leitung in Bayern blockiert wird.

Ein ICE T fährt auf einer Hochgeschwindigkeitstrasse neben einer Autobahn
Könnte doppelt so viel Strom übertragen: Die "Thüringer Strombrücke" - hier gebündelt mit der A71 und der ICE-Trasse nahe Arnstadt. Bildrechte: imago images/Jochen Eckel

Lösung würde Netzengpässe vermeiden helfen

Erste Gespräche mit "Strombrücke"-Betreiber 50Hertz seien geführt, versicherte Ramelow zuletzt. Das Unternehmen kann dieser Idee einiges abgewinnen. Vor allem, weil die vor wenigen Jahren mit halber Kraft in Betrieb gegangene Leitung nicht alle Engpässe im deutschen Wechselstromnetz zwischen Norden und Süden beheben konnte. Je mehr Strom in den Süden geleitet werden muss, umso deutlicher machen sich diese Nadelöhre bemerkbar.

Ein zusätzlicher Verbrauch in Thüringen würde […] Netzengpässe reduzieren, da der Erneuerbare-Energien-Strom lokaler verbraucht wird und nicht so weit transportiert werden muss.

"Strombrücken"-Betreiber 50Herz auf Anfrage von MDR THÜRINGEN

Die Thüringer Glasindustrie mit ihren acht Standorten wäre als Großverbraucher eine Entlastung. "Ein zusätzlicher Verbrauch in Thüringen wird […] Netzengpässe reduzieren, da der Erneuerbare-Energien-Strom lokaler verbraucht würde und nicht so weit transportiert werden muss", schreibt 50Hertz auf Anfrage von MDR THÜRINGEN. Und weist noch darauf hin, dass die Hürden für eine Erweiterung der "Strombrücke" nicht sonderlich hoch sind: Die vom Thüringer Landesverwaltungsamt 2012 und 2015 ausgestellten Baugenehmigungen für die Trasse gelten unbegrenzt weiter.

Idee 3: Glasbetriebe produzieren Strom selber

Ein weiterer Punkt auf der Ramelowschen Prüfliste: Die Glasbetriebe produzieren ihren Strom selber. Für die immer stärker gefragte Zertifizierung einer möglichst klimaneutralen Produktion müssen die Betriebe selbst Möglichkeiten erschließen, Strom aus erneuerbaren Energien zu erzeugen. Ramelow sagt, mit der Thüringer Energie- und Greentec-Agentur sei vereinbart, dass sie mit den Betrieben die Potentiale von Wind, Sonne und anderen erneuerbaren Energiequellen ermittelt.

An dieser Stelle bringt der Mininsterpräsiden einen seiner Lieblings-Aufreger ins Spiel: Thüringens Pumpspeicher. Während norwegischer Wasserstrom ökologisch zertifiziert sei, sei es der aus Thüringens Pumpspeicherkraftwerken nicht. Der Ministerpräsident stellt sich vor, eine mögliche Eigenstrom-Produktion der Glasbetriebe mit den Pumpspeichern zu verknüpfen und so eine kontinuierliche Versorgung zu sichern.

Oberbecken des Pumpspeicherkraftwerkes Goldisthal, 2009
Das Oberbecken des Pumpspeicherkraftwerkes Goldisthal in Südthüringen. Bildrechte: Pumpspeicherwerk 28193266.jpg

Pumpspeicher-Betreiber Vattenfall überrascht

René Kühne als Leiter Produktion des Geschäftsbereichs Wasserkraft bei Vattenfall Germany überrascht diese Idee. Gegenüber von MDR THÜRINGEN will er weder bestätigen noch dementieren, dass der Ministerpräsident mit Vattenfall gesprochen hat. Sein Vorgesetzter, der so ein Gespräch hätte führen können, sei noch im Urlaub. Der Vergleich von Pumpspeicher-Strom mit norwegischem Wasserkraft-Strom hinke allerdings.

Wir erzeugen in unseren Pumpspeicherwerken keinen grünen Strom, weil wir keinen Strom produzieren.

René Kühne, Leiter Produktion des Geschäftsbereichs Wasserkraft bei Vattenfall Germany

"Wir erzeugen in unseren Pumpspeicherwerken keinen grünen Strom, weil wir keinen Strom produzieren. Wir speichern einen Strom-Mix, den wir günstig an der Börse kaufen und ihn später wieder verkaufen - zu höheren Preisen. Und dieser Strom ist nicht grüner und kann nicht grüner sein als der Mix im Netz", so Kühne. Er hält es für möglich, die Rolle seines Unternehmens für die Dekarbonisierung der Glasindustrie zu prüfen. Mehr möchte er dazu vorläufig nicht sagen.

Glasindustrie zieht öffentlich den Kopf ein

Vor allem aber äußert sich die Thüringer Glasindustrie im Moment nicht. Auf die Bitte von MDR THÜRINGEN um eine erste Einschätzung der Initiative von Bodo Ramelow antworten sowohl Wiegand-Glas als auch Heinz-Glas, sie würden sich – unter anderem wegen der Urlaubszeit – in nächster Zeit nicht in der Lage sehen, Fragen zu beantworten. Der Ministerpräsident sagt, er habe das beschriebene Prüfverfahren für die künftige sichere und klimaneutrale Energieversorgung der Glasindustrie mit den Firmen so verabredet.

Neben den Koalitionspartnern ist der Plan auch mit der CDU besprochen. Die führt das Vorhaben in ihrem Energieplan für Thüringen unter Punkt 4 auf - als ein Modellprojekt auf dem Weg zur Energieunabhängigkeit von Thüringen. Da steht auch der Satz: "Die Versorgung der Glasindustrie mit Strom muss über die überregionalen Stromtrassen wie die 380 kV-Spange und gegebenenfalls Südlink gesichert werden." Dass die Union das so mit Bodo Ramelow verabredet hat, steht dort nicht.

MDR (seg,log,ask) | Erstmals veröffentlicht am 2. Juli 2022

170 Kommentare

martin am 03.07.2022

@micha_muc: Kriegbeschädigte Verdichterstationen sind nun einmal weniger bis gar nicht mehr leistungsfähig. Da braucht es keine Turbine-in-Kanada-Ausrede.

Übrigens: D hat seine Gasrechnungen bisher meines Wissens immer vertragsgerecht gezahlt. Allerdings hat irgendeine Gazprom-Tochter anscheinend "ein kleineres technisches Problem" - oder so.

martin am 03.07.2022

@knarf2: Klar, haben wir das billige Öl und Gas aus RU gern genommen. Hat unsere Wirtschaft doch gut gebrauchen können. Die Dollarzeichen in den Augen haben nur leider den Blick für die Realitäten "ein wenig getrübt"....

martin am 03.07.2022

@freiesmoria: Ach so, die AKW Betreiber sind alles Lügner und wollen kein Geld mehr verdienen, Sie kennen die Hersteller von Brennelementen, die Lieferanten der Rohstoffe und haben das Fachpersonal in der Hinterhand, das die Betreiber nicht mehr haben, weil seit Jahren mangels Bedarf kein Nachwuchs mehr ausgebildet wird.

Schon klar.

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