Analyse Nach dem Wechsel der Grünen-Minister: Quo vadis, Thüringen?!

10. Januar 2023, 14:29 Uhr

Die Entscheidung der Grünen, ihre Minister in der Thüringer Landesregierung anderthalb Jahre vor der Landtagswahl auszutauschen, könnte massive politische Konsequenzen im Land haben. Vor allem nach der Wahl.

Moderator Lars Sänger
Moderator Lars Sänger Bildrechte: MDR/Marco Prosch

Der Thüringer Landtag ist so fragmentiert wie nie: Aktuell sitzen fünf Fraktionen im Parlament. Dazu eine Reihe an - inzwischen wieder - fraktionslosen Abgeordneten. Doch dieser Zustand wird sich vermutlich spätestens nach der Landtagswahl - wann auch immer sie stattfindet - auflösen. Denn nach der Minister-Rochade der Grünen und den daraus resultierenden, möglichen Folgen sowie wegen der anhaltenden Schwäche der FDP könnte das nächste Parlament aus nur noch vier Parteien bestehen. Jedenfalls scheint schon jetzt ziemlich klar: Die Entscheidung der Grünen droht, kurz- und langfristig massive politische Konsequenzen im Land zu haben.

Minister-Rochade: Kurzfristig ein Bärendienst fürs Land

Mit Anja Siegesmund hat die populärste Grüne freiwillig ihren Rückzug aus dem Kabinett Ramelow erklärt und damit die Position ihrer Partei geschwächt. Zum 31. Januar legt die Jenaerin ihr Amt als Ministerin für Umwelt- und Naturschutz nieder. Doch Siegesmund war mehr als nur das. Sie war auch Energieministerin und damit in der schwersten Versorgungskrise der jüngeren Vergangenheit verantwortlich für die Energiesicherheit im Land. Blackouts, der prognostizierte heiße Herbst und übermäßig lautes Klagen der stark von Energiepreis-Explosion und Inflation betroffenen Wirtschaft blieben bislang aus.

Ein gutes Zeugnis für Siegesmund, das ihr perspektivisch möglicherweise bei der Bewerbung um einen Posten im politischen Berlin nutzt. Siegesmund gilt als gut vernetzt mit Wirtschaftsminister und Parteikollegen Robert Habeck. Und apropos: Weil die Themen Energie und Wirtschaft in diesen Krisenzeiten an vielen Stellen Hand in Hand gehen, war Siegesmund auch ein häufiger Gast im Thüringer Wirtschaftsministerium bei Wolfgang Tiefensee (SPD). Tiefensee lobt, seine Grüne Kollegin sei eine verlässliche, akribische und vor allem fachkundige Partnerin gewesen. Diese Partnerin fällt ihm jetzt allerdings weg.

Allein die Einarbeitung Stengeles und Denstädts wird Monate dauern. Zeit, die die Grünen und vor allem das Land in seiner prekären, politischen Lage eigentlich nicht haben.

Stengele: Keine Erfahrung inmitten der Energiekrise

Und nun? Bernhard Stengele wird - in der schwersten Versorgungskrise der jüngeren Vergangenheit - Energieminister. Unbestritten beherrscht der 59-Jährige die Kernthemen der Grünen, wie Umwelt- und Naturschutz. Auf dem Feld der Energiepolitik allerdings hat sich Stengele bislang kaum hervorgetan. Welche Folge das fürs Land haben wird, muss sich zwar erst noch zeigen. Kurzfristige Erfolge sind vom Grünen Minister-Novizen Stengele und der zweiten Neuen, Justiz- und Migrationsministerin Doreen Denstädt, jedoch nicht zu erwarten.

Der Grund: Beiden fehlt es an jeglicher Erfahrung im Parlaments- und Regierungsbetrieb. Ein Umstand, der keinen Akzeptanz-Vorschuss in den Belegschaften der Ministerien vermuten lässt. Allein die Einarbeitung Stengeles und Denstädts wird Monate dauern. Zeit, die die Grünen und vor allem das Land in seiner schwierigen politischen Lage eigentlich nicht haben.

Die Thüringer Grünen pulverisieren sich

Bekanntheit ist eine entscheidende Währung in der Politik. Die Formel lautet recht einfach: Wen die Bürger kennen, den wählen sie auch. Anja Siegesmunds Bekanntheitsgrad war im Laufe der Jahre zwar kontinuierlich gewachsen. Im Sommer 2022 wussten dennoch nicht mal zwei von drei Thüringern, wer Siegesmund ist. Und von denen, die sie kannten, war nur jeder Vierte mit der Arbeit der Grünen-Ministerin zufrieden. Eine Konsequenz: In den Umfragen konnte die Thüringer Landespartei nie vom Höhenflug der Bundespartei profitieren. Die Grünen bangten schon mit dem vergleichsweise populären Duo Siegesmund und Dirk Adams um den Wiedereinzug in den Landtag.

Denstädt und Stengele starten bei Bekanntheitsgrad null und haben bestenfalls bis Mitte 2024 Zeit, populär zu werden. Oder anders ausgedrückt: Was das Duo Siegesmund/Adams über Jahre nicht geschafft hat, soll dem Duo Denstädt/Stengele in wenigen Monaten gelingen. Statt Neuanfang droht den Grünen der Absturz in die Bedeutungslosigkeit.

Was das Duo Siegesmund/Adams über Jahre nicht geschafft hat, soll dem Duo Denstädt/Stengele in wenigen Monaten gelingen. Statt Neuanfang droht den Grünen der Absturz in die Bedeutungslosigkeit.

Das mögliche Trauma nach der Wahl

Wie groß der Schaden jedoch wirklich sein könnte, den die Grüne Minister-Rochade anzurichten droht, offenbart erst der Blick auf die Zeit nach der nächsten Landtagswahl. FDP und Grüne könnten den Wiedereinzug in den Landtag verpassen - diese Gefahr bestand für beide Parteien schon vor dem Personalwechsel der Grünen. Das Landesparlament bestünde dann sehr wahrscheinlich aus nur noch vier Parteien. Das wiederum würde entscheidende Auswirkungen auf die Verteilung der Stimmen und die daraus resultierende Zusammensetzung des Landtags haben.

Und noch gravierender: Die etablierten und nicht vom Verfassungsschutz beobachteten Parteien Linke, SPD und CDU hätten dann zusammen keine Zwei-Drittel-Mehrheit mehr.

Denkbar ist: Die AfD wird stärkste Kraft und - auch das mittlerweile ein mögliches Szenario - erhält mehr als ein Drittel der Sitze. Das würde bedeuten: Erstmals in Deutschland könnte die AfD als stärkste Kraft im Parlament Anspruch auf den Posten des Landtagspräsidenten stellen.

Und noch gravierender: Die etablierten und nicht vom Verfassungsschutz beobachteten Parteien Linke, SPD und CDU hätten dann zusammen keine Zwei-Drittel-Mehrheit mehr. Verfassungsänderungen wären nur noch mit Zustimmung der rechten Partei möglich.

Hinweis der Redaktion: Zu diesem Thema kann unter den Beiträgen "Grünen-Minister gedemütigt: Ramelow entlässt Adams gegen seinen Willen" und "Grüne wechseln ihre beiden Minister in Thüringen aus" kommentiert werden.

MDR (rom)

Mehr zur Thüringer Landespolitik

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN | MDR THÜRINGEN JOURNAL | 09. Januar 2023 | 19:00 Uhr

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