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Thüringer Regierungskrise 2020"Ich war nicht vorbereitet" - Wie Thomas Kemmerich seine Wahl zum Ministerpräsidenten erlebte

05. Februar 2023, 15:30 Uhr

Am 5. Februar 2020 löste der FDP-Politiker Thomas Kemmerich eine Regierungskrise aus, als er Bodo Ramelow überraschend als Thüringer Ministerpräsidenten ablöste. Vom "Dammbruch" und "Pakt mit Faschisten" war die Rede, weil ihn die Stimmen der AfD ins Amt hievten. Über seine Wahl, die Proteste und die politischen Folgen hat Kemmerich bis heute seine eigene Sicht.

von Andreas Kehrer, MDR THÜRINGEN

"Probleme sind nur dornige Chancen." - Christian Lindner

Die Thüringer Landtagspräsidentin Birgit Pommer (damals Birgit Keller) war sichtlich um Fassung bemüht, als sie, der parlamentarischen Gepflogenheit folgend, erneut das Wort ergriff: "Ich frage Herrn Abgeordneten Kemmerich: Nehmen Sie die Wahl zum Ministerpräsidenten an?" Kurz zuvor hatte sie das Wahlergebnis verlesen, das viele überrascht, manche schockiert und einige verzückt hatte. Der Abgeordnete Kemmerich gehörte zu den Überraschten.

"Da steht jemand dann vor dieser Frage - damals im Alter von 54 -, der 30 Jahre unternehmerische Erfahrung hat, der sechs Kinder großgezogen hat… Da musst du was entscheiden", erinnert sich Kemmerich an diesen Moment vor drei Jahren. "Und da entscheidet ein unternehmerisch geprägter Mensch wie Thomas Kemmerich mit: Ja! Der sagt sich, jetzt nehmen wir diese Chance an und machen was draus!"

Es wurde nichts daraus. Auch weil er - und das wird er im Interview mehrfach einräumen – "nicht vorbereitet war". Kemmerich hatte sich zur Wahl gestellt, ohne Koalition, ohne Regierungsprogramm, ohne die Warnungen vor der AfD ernst zu nehmen. Als er dann gewählt wurde und Pommer ihn fragte, entschied er ohne politische Weitsicht, aber mit jeder Menge unternehmerischer Chuzpe: "Ich nehme die Wahl an!" Es waren diese fünf kleinen Worte, die Thüringen am 5. Februar 2020 in eine Regierungskrise stürzten.

Eine unlösbare Aufgabe

Das Ergebnis der Ministerpräsidentenwahl war im Februar 2020 nicht einfach vom Himmel gefallen. Das Unheil hatte sich bereits bei der Landtagswahl am 27. Oktober 2019 abgezeichnet, als die Wähler die Thüringer Politik vor eine unlösbare Aufgabe stellten.

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Es gab drei Optionen, eine schlechter als die andere. Zum einen war da der Status Quo: Rot-Rot-Grün. Allerdings hatte die Regierung Ramelow ihre bis dato knappe Mehrheit im Landtag verloren und "war abgewählt", wie Kemmerich sagt. Eine Minderheitsregierung schien schwierig, weil weder CDU noch FDP die Linkspartei dulden wollten. Rechnerisch möglich wäre eine Koalition aus Linkspartei und CDU gewesen oder das Bündnis Blau-Schwarz-Gelb. Beide Optionen scheiterten an den "politischen Brandmauern", die CDU und FDP bis heute gegenüber der Linken und der AfD gezogen haben. 

Trotzdem unterbreiteten Bodo Ramelow (Linke) und AfD-Parteichef Björn Höcke Angebote, die zumindest die Brandmauern der CDU ins Wanken brachten. Sie fielen aber nicht. FDP-Chef Kemmerich hatte noch eine weitere Idee: "Ich habe relativ schnell gesagt, eine Minderheitsregierung kann auch eine andere Konstellation haben: Schwarz, Gelb, Rot - was auch immer." Trotz Gesprächen mit CDU, SPD und sogar den Grünen kam diese Option nie über den Ideen-Status hinaus, weil selbst einem Viererbündnis sieben Stimmen zur Mehrheit gefehlt hätten.

Politpoker

Drei Monate gingen nach der Landtagswahl ohne nennenswerten Fortschritt ins Land, da fasste die rot-rot-grüne Noch-Regierung am 20. Januar einen Entschluss. Sie setzte alles auf eine Karte und strebte eine Minderheitsregierung an. Gewählt werden sollte am 5. Februar. Linke, SPD und Grüne hofften, dass Abgeordnete von CDU oder FDP doch für einen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow stimmen könnten oder sie ihn spätestens im dritten Wahlgang allein durchbringen würden - wenn nach Paragraph 47 der Geschäftsordnung des Thüringer Landtages nur noch eine einfache Mehrheit benötigt wird. Es war ein Pokerspiel, bei dem sie sich am Ende verzocken sollten.

"Es gab keine Not in die Wahl zu gehen", sagt Thomas Kemmerich rückblickend. Eine Teilschuld der Regierungskrise sieht er deshalb auch bei Rot-Rot-Grün: "Die haben die Lage nicht ausreichend eingeschätzt."

Am Pokertisch saß auch die AfD. Björn Höcke kündete am 22. Januar an, einen parteilosen Gegenkandidaten aufzustellen, der eine "bürgerliche Mitte" hinter sich versammeln könnte. Das forderte die CDU und die FDP heraus: Einen "bürgerlichen Kandidaten" der AfD wollten sie nicht unwidersprochen lassen. "Wir wollten einen bürgerlichen Kandidaten aufstellen, um ein Zeichen zu setzen", erinnert sich Kemmerich.

Beide Parteien berieten deshalb über einen eigenen bürgerlichen Kandidaten. Mike Mohring, der damalige CDU-Vorsitzende, lehnte ab. "Er fürchtete wohl, nicht alle Stimmen seiner eigenen Partei zu bekommen", erklärt Kemmerich. Also ließ sich der FDP-Mann auf das Spiel ein. Am 2. Februar 2020 erklärte er, in einem möglichen dritten Wahlgang anzutreten. Unterstützt wurde er dabei auch vom FDP-Landesparteirat, dem zweithöchsten Gremium der FDP Thüringen. "Es war kein Alleingang", betont Kemmerich. Was er damals nicht wusste: Die AfD würde ihm im letzten Wahlgang einen Trumpf unterschieben, der das Blatt zu seinen Gunsten wenden sollte.

Die Wahl und der "nützliche Idiot" auf der Empore

Als parteilosen Kandidaten stellte die AfD Christoph Kindervater auf. Als ehrenamtlicher Bürgermeister der 360-Seelen-Gemeinde Sundhausen war er bisher politisch kaum in Erscheinung getreten. Bekannt war aber, dass er im Internet mehrfach AfD-Positionen vertreten hatte. Wie sich nach der Wahl zeigen sollte, hatte er sich freiwillig zum sogenannten nützlichen Idioten der AfD in einem politischen Ränkespiel gemacht, dessen Ziel es war, Bodo Ramelows Wiederwahl zu verhindern.

Am Vormittag des 5. Februars - dem Tag der Wahl - saß Kindervater auf der Empore des Landtags. Sein Gegenkandidat Bodo Ramelow hatte unten im Plenum Platz genommen und war guter Dinge: 42 der 90 Stimmen hatte er durch die Abgeordneten von Linke, SPD und Grüne sicher. 46 brauchte er. Doch schon der erste Wahlgang sorgte für eine kleine Überraschung: Kindervater erhielt 25 Stimmen, drei mehr als die AfD Abgeordnete hatte. Ramelow erhielt 43 Stimmen. Auch der zweite Wahlgang brachte keine Entscheidung: Kindervater 22 Stimmen, Ramelow 44. Zum dritten und letzten Wahlgang trat nun auch Thomas Kemmerich an. Jetzt reichte eine einfache Mehrheit zum Sieg.

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Die TV-Kameras haben an diesem Tag viele bemerkenswerte Szenen eingefangen. Unter anderem waren da die sieben Wahlhelfer, die sich nach der Auszählung des dritten Wahlgangs ungläubig anschauten. Sie zweifelten sichtlich, beratschlagten und zählten ein weiteres Mal. Erst dann übergaben sie der Landtagspräsidentin den Umschlag. Eine andere Szene zeigte Christoph Kindervater auf der Empore: Als Birgit Pommer verlas, dass er keine einzige Stimme im dritten Wahlgang bekommen hatte, feixte er.

Kurz nach der Wahl lachte auch Stefan Möller, der parlamentarische Geschäftsführer der AfD, in die Kameras. Im Interview erklärte er den Plan mit Kindervater: "Das war Sinn der ganzen Strategie. Wir haben versucht, Herrn Kemmerich als Gegenkandidaten aufs Podium zu locken. Das hat er gemacht. Und dann haben wir ihn planmäßig gewählt." 

Die Fehler des Thomas Kemmerich

"Ich hatte keine Vorstellung, wie viele Stimmen von der CDU kommen und ich habe es ausgeschlossen, dass die AfD nennenswert für mich stimmt", sagt Thomas Kemmerich drei Jahre später im Interview mit MDR THÜRINGEN. In seinem Wahlkampf habe er sich immer klar gegen die AfD positioniert. 

Hätte ihm nicht klar sein müssen, dass der AfD ein Ministerpräsident Kemmerich bei Weitem lieber wäre als Bodo Ramelow von der Linkspartei? "Wenn man das heute betrachtet, ist das nachvollziehbar", antwortet Kemmerich und weicht dann aus: "Wenn man mal in die Geschichte der Republik zurückschaut, dann ist es bis jetzt einmalig, dass jemand einen Kandidaten aufstellt und ihn dann mit null Stimmen nach Hause schickt."

Er habe in keiner Weise mit dieser Wahl gerechnet? "In keiner Weise ist falsch, aber die Chance, die man dem gegeben hat, war gering: vielleicht fünf Prozent", meint Kemmerich.

Hat er die zahlreichen Warnungen vor der Wahl nicht ernst genommen? "Die Warnungen haben wir natürlich mitbekommen", sagt er und bemüht lieber ein "wir", welches seine Partei einschließt. Weil viele Warnungen aber aus dem rot-rot-grünen Lager gekommen wären, hätten sie diese nicht ernst genommen: "Wir haben das als unbedingten Willen interpretiert, mich von der Kandidatur abzuhalten." Dass er auch von CDU-Landeschef Mike Mohring und FDP-Bundeschef Christian Lindner gewarnt wurde, erwähnt er nicht.

Wir waren weder ausreichend vorbereitet, noch haben wir eine ausreichende Auszeit zwischen der Verkündung des Wahlergebnisses und der Annahme der Wahl genommen.

Thomas Kemmerich, FDP-Landtagsabgeordneter

Kam in den Gesprächen zur Kandidatur nie der Gedanke auf, eine mögliche Wahl abzulehnen, weil man ja nicht vorbereitet war? "Nein, die Diskussion gab es nicht, das muss man so ehrlich sagen", gibt Kemmerich zu. "Wir waren weder ausreichend vorbereitet, noch haben wir eine ausreichende Auszeit zwischen der Verkündung des Wahlergebnisses und der Annahme der Wahl genommen."

Drei Jahre nach der Thüringer Regierungskrise sind es diese beiden Fehler, die sich Thomas Kemmerich eingesteht: Er war nicht vorbereitet und er hätte eine Auszeit beantragen sollen.

Autopilot

45 Stimmen erhielt Kemmerich im dritten Wahlgang - eine mehr als Ramelow. Zusammen mit ihm schauen wir die TV-Bilder von damals an. Sie zeigen, wie sein Vergangenheits-Ich schwer ausatmet. Normalerweise sind frisch gebackene Ministerpräsidenten glückselig oder zumindest erleichtert. Kemmerich ringt damals um Fassung. Glücklich wirkt der Mensch auf dem Bildschirm nicht. 

Es vergehen nur sieben Sekunden, dann fragt Landtagspräsidentin Birgit Pommer, ob der Abgeordnete Kemmerich die Wahl annehme. Der Kemmerich im Bild flüstert etwas. "Kann man eine Auszeit nehmen, habe ich gesagt", kommentiert er drei Jahre später. Doch sein Vergangenheits-Ich sagt es mehr zu sich selbst, als dass ihn irgendwer erhören, oder besser gesagt, erlösen könnte. Dann fasst sich der Unternehmer Thomas Kemmerich ein Herz, er steht auf, knöpft das Sakko zu und nimmt die Wahl an. Es ist schließlich auch eine Chance.

Als er die Szenen drei Jahre später auf einem Laptop-Monitor betrachtet, sind sie ihm wohl etwas unangenehm. Er knetet seine Hände und räuspert sich jetzt wesentlich häufiger vor seinen Antworten. Es sei keine Zeit gewesen, über die Stimmverhältnisse nachzudenken, meint er. Er erinnere sich kaum noch, wie er den Weg von seinem Platz nach vorne gegangen ist, um die Eidesformel zu sprechen. Die Zeremonie habe er wie im Autopilot-Modus erlebt. Hände schütteln, nicken, sich bedanken. Selbst den Blumenwurf von Linken-Fraktionschefin Henning-Wellsow habe er kaum wahrgenommen, aber ein "Störgefühl" dabei empfunden, kommentiert Kemmerich. Dann folgt Höcke, der ihm zum Gratulieren die Hand schüttelt. Auch ihn habe er kaum wahrgenommen.

Der Sturm

"Man hat aus diesem Foto eine Menge gemacht und Vergleiche zu schlimmen Zeiten angestellt. Das ging einfach zu weit", sagt Kemmerich heute. Kurz nachdem das Foto von ihm und Höcke beim Handschlag im Netz war, machte ein Bild die Runde: Es zog den historischen Vergleich zum Handschlag von Hindenburg und Hitler. Dieses Meme wurde auch deshalb so bekannt, weil Bodo Ramelow - der Verlierer der Wahl, auf dessen Reaktion ganz Deutschland an diesem Tag wartete - es auf Twitter teilte. 

Zu diesem Zeitpunkt waren die Vergleiche zur Machtübernahme der Nazis und zum Mustergau Thüringen schon in aller Munde. Erst war vom "Dammbruch" und "Pakt mit Faschisten" die Rede, dann wurde auch Kemmerich zum Faschisten und Nazi deklariert. Benjamin-Immanuel Hoff von der Linkspartei machte ihn bei Twitter sogar zum Holocaust-Kollaborateur und bescheinigte Kemmerich, ein "Ministerpräsident von Gnaden derjenigen" zu sein, "die Millionen ermordet haben". Längst hatten die historischen Bezüge jedwedes Augenmaß verloren.

Der Sturm, der in den Sozialen Medien damals tobte, ist ein wichtiges Puzzlestück zum Gesamtbild der damaligen Regierungskrise. Denn das Netz trieb die Demonstrationen an, die noch am Nachmittag vor dem Landtag und am Abend vor der Staatskanzlei in Erfurt stattfanden. Begleitet wurden sie von landesweiten Protesten, insbesondere vor FDP-Büros und Parteizentralen. Die Entrüstung schlug zum Teil in blanken Hass um.

Sippenhaft

Am 5. Februar belagerten Demonstranten auch Kemmerichs Wohnhaus in Weimar. Einige versuchten sogar das Grundstück zu betreten, was Sicherheitskräfte verhindern konnten. Die Polizei riegelte das Grundstück ab und flutete den Vorplatz mit Scheinwerferlicht. "Mein Sohn war damals elf, meine jüngste Tochter 14", erzählt Kemmerich heute. "Als ich am nächsten Morgen in die Augen meiner Kinder geschaut habe, wusste ich, hier läuft etwas schief. Die haben das nicht verstanden und gefragt: Was hast du denn gemacht?"

Als "völlig unverhältnismäßig" empfand Kemmerich die Proteste. Hier vor Staatskanzlei in Erfurt am 5. Februar 2020. Bildrechte: MDR/Michael Frömmert

Die Tage nach der Wahl haben sich der Familie ins Gedächtnis eingebrannt, weil sie für Kemmerichs Entscheidung in Sippenhaft genommen wurden. Seine Frau Uta wurde in der Öffentlichkeit bespuckt und mehrfach attackiert. Der Sohn wurde am Tag nach der Wahl mit dem Schriftzug "Kemmerich jämmerlich" auf dem Schulhof empfangen und von älteren Mitschülern drangsaliert. Auch die Tochter erlebte die zwei verbleibenden Tage bis zu den Winterferien in der Schule als Spießrutenlauf. "Da fühlt man sich als Vater verantwortlich", sagt Kemmerich betroffen.

Wie sich die bürgerliche Koalition in Luft auflöste

Verantwortlich war Kemmerich nach der Wahl plötzlich auch für Thüringen. Schon in der zweistündigen Sitzungsunterbrechung, in der ihm Parteikollegen die Antrittsrede schrieben, versuchte er Gespräche mit SPD, Grünen und CDU auf den Weg zu bringen - erfolglos. Die Grünen hatten sich dem Lager der Gegendemonstranten angeschlossen, die SPD lehnte die Gespräche konsequent ab und auch Mike Mohring war vorerst nicht zu sprechen. Hoffnung machten Kemmerich aber einige euphorisierte CDU-Abgeordnete. Tatsächlich waren Teile der Thüringer CDU-Fraktion nach der Abwahl Ramelows in Feierlaune. Viele verkannten den Ernst der Lage für die eigene Partei.

Für Thomas Kemmerich wurde der 5. Februar länger und länger. Die Schwere der Aufgabe sei ihm im Minutentakt bewusster geworden, resümiert er heute. Statt eine Regierung zu bilden oder Minister zu ernennen, stand er vor Kameras und Mikrofonen. Bis in die Nacht hinein gab er Interviews. Live im ZDF Heute Journal wirkte Kemmerich müde und abgekämpft, trotzdem wiederholte er, was er den ganzen Tag schon erzählt hatte: Es gab keine Zusammenarbeit mit der AfD und wird auch keine geben. Die Wahl war ein demokratischer Vorgang. Ziel sei es, eine bürgerliche Minderheitsregierung zu bilden.

Tatsächlich hatte sich seine bürgerliche Wunsch-Koalition da schon in Luft aufgelöst. Die SPD-Spitze in Berlin nutzte die öffentliche Entrüstung über die Wahl in Thüringen zum Angriff auf die CDU: Die habe den Dammbruch mitzuverantworten. Wenn Kemmerich mit Hilfe der CDU im Amt bliebe, wäre das das Aus für die Große Koalition in Berlin, hieß es aus der SPD. Dadurch sollte Kemmerich sogar die CDU als möglichen Partner verlieren.

Dominoeffekt

Am 6. Februar setzten die Parteispitzen in Berlin einen Dominoeffekt in Gang. Auf Druck der SPD machte die CDU-Bundesparteispitze ernst. Erst gab Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem Auslandsbesuch in Südafrika ein Statement ab. Sie nannte die Wahl einen "unverzeihlichen Vorgang", erklärte, dass das Ergebnis rückgängig gemacht werden müsse und dass die CDU mit diesem Ministerpräsidenten nicht zusammenarbeiten werde. In einem Telefonat setzte sie FDP-Chef Christian Lindner unter Druck, der daraufhin nach Erfurt fuhr. Auch die Parteivorsitzende der CDU, Annegret Kramp-Karrenbauer, reiste nach Erfurt, um ihre Parteikollegen von Neuwahlen zu überzeugen - was ihr allerdings nicht gelingen sollte.

Als Lindner in Erfurt eintraf, wusste auch Kemmerich, dass sich die Lage zuspitzte: "Mir war klar, er kam nicht zum Gratulieren. Aber dass er mir eindrücklich nahelegen würde, das Amt niederzulegen, das war mir noch nicht klar", erinnert er sich. In einem langen Gespräch erklärte Lindner Kemmerich die Lage: Er habe keine politischen Partner für eine Regierung. Schlimmer noch: Die CDU drohe, die Koalitionen mit der FDP in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein platzen zu lassen, sollte Kemmerich im Amt bleiben. Das hätte zur Folge, dass womöglich auch Lindner zurücktreten würde.

Kemmerich lenkte ein. "Ich habe dem Druck nachgegeben", sagt er heute. Kurz nach 14 Uhr trat er vor die Presse und erklärte, das Parlament auflösen und den Weg für Neuwahlen frei machen zu wollen. Weil viele Thüringer Politiker aber eine Hängepartie befürchteten und auch die Berliner SPD noch nicht zufrieden war, ließ er am 8. Februar eine Pressemitteilung folgen, die seinen Rücktritt unmissverständlich erklärte. Der letzte Dominostein war gefallen. "Dass diese regionale Wahl solche Auswirkungen haben würde, hat uns verwundert und beeindruckt", bilanziert Kemmerich heute.

Demokratisch legitim

Ob die Annahme der Wahl ein Fehler war? "Nein." Kemmerich ist bis heute überzeugt, nicht falsch gehandelt zu haben. Es gebe viele, die das genauso sehen, meint er. "Wenn ich mich durch Thüringen bewege - das mache ich oft und inzwischen ganz ohne Personenschutz - sagen die Menschen, dass sie den Blumenstraußwurf unmöglich fanden und dass es eine demokratische Wahl war."

"Es war demokratisch legitim." Diesen Satz trägt der gelernte Jurist wie einen Schild vor sich her, wenn es um die Regierungskrise geht. Auch deshalb hält er die Proteste bis heute für "völlig unangemessen", denn es hätte auch einen demokratisch legitimen Weg gegeben, ihn aus dem Amt zu nehmen. "Wenn ein Ministerpräsident nicht gewollt ist, gibt es parlamentarische Wege. Dafür gibt es in unserer Verfassung das konstruktive Misstrauensvotum", sagt er.

Bedenklich findet er nach wie vor, dass sich CDU, SPD und Grüne damals jeglichen Gesprächen verweigert haben. "Klar hat sich hinterher herausgestellt, dass die Chance eine Regierung zu bilden viel, viel geringer war, als ich in diesen wenigen Sekunden hatte einschätzen können. Aber warum soll die SPD die Situation nicht nochmal neu bewerten?" Demokraten müssten mit Demokraten sprechen, meint er, gerade in schwierigen Situationen: "Wenn man dann nicht zueinanderkommt, gut. Dann hätten sie immer noch sagen können: Na Herr Kemmerich, war zwar demokratisch legitim, aber trotzdem eine blöde Idee."

Quellenhinweis des Autors: In diesen Artikel sind auch die ausgiebigen Recherchen von zwei geschätzten Kollegen eingeflossen. Interessierten Lesern seien deshalb ihre Bücher empfohlen: "Demokratie unter Schock" von Martin Debes und "Die Wiederkehr" von Patrick Bahners. Während Debes die Rollen von CDU und Linke in der Thüringer Regierungskrise sehr genau beleuchtet, geht Bahners in dem Kapitel "Testfall Thüringen" sehr ausführlich auf Kemmerichs Rolle ein.

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MDR (ask)

Dieses Thema im Programm:MDR THÜRINGEN | THÜRINGEN JOURNAL | 05. Februar 2020 | 19:00 Uhr

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