Aufkleber Rotzfrech Cinema
Rotzfrech Cinema bringt seit knapp zehn Jahren Jugendsubkulturen auf die Kinoleinwänden. Nun wird aus dem einstigen Nischenkino-Projekt ein professioneller Filmverleih - der einzige in Thüringen. Bildrechte: MDR/Christian Franke

"Rotzfrech Cinema" Thüringens einziger Filmverleih bringt Jugendsubkulturen auf die Kinoleinwände

03. Juni 2022, 14:59 Uhr

Kino kann auch anders. Seit knapp zehn Jahren zeigt "Rotzfrech Cinema" Filme über Jugendsubkulturen. Es geht um Hip-Hop und Graffiti - aber auch um Verdrängungsprozesse und den Kampf dagegen. Ein Besuch bei Thüringens einzigem Filmverleih.

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Ende April versammeln sich rund 1.000 Menschen auf dem Jenaer Marktplatz. Nicht, um zu demonstrieren. Zusammengebracht hat sie etwas anderes. Sie alle wollen den Film "Nichtstadt - Portrait eines Fortschritts" von Pablo F. Mattarocci sehen. Mit seinem Team hat der Regisseur die Saalestadt etwa drei Jahre lang begleitet und erzählt fünf Geschichten von Projekten, Vereinen und Menschen, die zwischen Wachstum und ökonomischen Erfolgskriterien keinen richtigen Platz mehr im "Leuchtturm des Ostens" zu haben scheinen.

Auf die Leinwand haben den Film drei Freunde gebracht: Tom Urban, Sven "Kubi" Kubeleit und Sebastian Lind. Zusammen sind sie "Rotzfrech Cinema" und Thüringens einziger Filmverleih. Mit zwei der Gründer haben wir gesprochen - über Hip-Hop, über Graffiti und natürlich darüber, was ihr Projekt so besonders macht.

Viele Menschen schauen auf dem Jenaer Marktplatz auf eine Leinwand
Zur Vorführung des Films "Nichtstadt" Ende April auf dem Jenaer Marktplatz kamen rund 1.000 Zuschauer. Bildrechte: Arth Design/André Helbig

Hip-Hop-Kultur trifft Kino

"Ich bin gar nicht so ein klassischer Cineast, würde ich sagen. Ich kenne auch nicht mega viele Filme, gehe aber gerne mal ins Programmkino. Kino ist für mich ein geiler Ort, wo Leute zusammenkommen und der mehr ist als 'Ich schaue einen Film'", sagt Tom über sein Verhältnis zum Lichtspieltheater.

Schon 2013 hat sich der heute 40-Jährige dieses Verständnis zum Anliegen gemacht und damit begonnen, unter dem Namen "Rotzfrech Cinema" kleine Kinoveranstaltungen zu organisieren. "Wir hatten damals eine Veranstaltungsreihe ins Leben gerufen, im Café Wagner in Jena, die hieß Rotzfrech", erinnert sich der studierte Soziologe und Erziehungswissenschaftler. "Die lief relativ gut, da war dann drei, vier, fünfmal im Jahr Hip-Hop. Das war mir irgendwann aber ein bisschen zu wenig und ich dachte, dass es nett wäre, noch ein bisschen Kultur einzuspeisen."

Daraufhin sei die Idee entstanden, immer am Mittwoch vor den Hip-Hop-Veranstaltungen "Kino zu machen" - im kleinen Rahmen, als Nischenveranstaltung für zehn bis 20 Leute. "Und weil es an die Hip-Hop-Veranstaltungen angelehnt war, hab' ich es einfach "Rotzfrech Cinema" genannt", blickt Tom zurück. Oft dabei war auch der Zweite im Bunde: Sven "Kubi" Kubeleit, 32 Jahre und eigentlich Geograph. "Kennengelernt haben wir uns, glaube ich, durch die Liebe zur Stickerei und zu Aufklebern", überlegt er. "Dann hab ich bei Rotzfrech immer mal Einlass gemacht und so bin ich da mit reingerutscht", sagt Kubi und lacht. Die Partyreihe gibt es heute nicht mehr - das Kino aber ist geblieben.

Vom Nischenkino zum Filmverleih - aus Versehen

"Von 2013 bis 2018 haben wir eigentlich wie so ein kleines Kino agiert", überlegt Tom. Damals habe er einfach Filme gesucht, die interessant sein könnten und dann geschaut, wer die Verleiher und die Rechteinhaber sind. "Dann haben wir die angeschrieben und den Film gebucht, auch mit Unterstützung des Wagner e.V. und des Fonds Soziokultur." So seien die ersten Filme auf die Leinwand gekommen. "Klassisch sind wir alle im Hip-Hop sozialisiert und da ging es natürlich viel um Graffiti. Heißt, das Thema war lange ein ganz starker Strang in den Filmen", erzählt Tom. Im Jahr 2018 habe sich das ganze Konzept dann aber gedreht - vor allem durch den Film "Pixadores".

Worum geht es bei "Pixadores"?

Der Film "Pixadores" dreht sich um vier junge Männer aus São Paulo: Djan, William, Biscoito und Ricardo. Sie sind arbeitslos oder haben Gelegenheitsjobs und kämpfen sich durch ihren Alltag. Trotz aller Umstände haben sie eine gemeinsame Leidenschaft. Ihre Herzen schlagen für Pixação, eine besondere Graffitibewegung, die ihren Ursprung in São Paulo und mit der hiesigen Graffitiästhetik nur wenig gemein hat. Die Maler dieser Bewegung beschränken sich fast nur auf einfarbige, meist sehr kryptische Taggs, die faktisch an jedem nur denkbaren Ort hinterlassen werden und für Leute außerhalb dieser Subkultur kaum auszulesen sind. Brücken, Hochhäuser, Balkons und Dächer - es gibt keine Grenzen. Und keine Art von Sicherung. Wer fällt, ist schwer verletzt oder tot. Pixação ist aber noch mehr. Denn Pixação versteht sich auch als Revolte, als Rebellion gegen die Gesellschaft, als Schrei derer, die abgehängt am Stadtrand leben und vergessen wurden. Ihre Leben und Existenz lässt sich aber nicht vergessen. Dafür sorgen ihre Buchstaben und Taggs, die sich unübersehbar und wie ein Netz über die gesamte Stadt ziehen.

Regisseur des Films ist Amir Arsames Escandari. 1986 im Iran geboren, flüchtete der jungen Mann in den 90er-Jahren mit seiner Familie zunächst nach Jugoslawien und von dort - im Zuge des Jugoslawienkrieges - nach Finnland.

Quelle: Rotzfrech Cinema

Pixação Graffiti São Paulo
Pixação an einer Brücke in São Paulo. Bildrechte: IMAGO / Fotoarena

"Dann waren wir kein Kino mehr, sondern eher ein Verleih - ohne, dass wir wussten, dass wir ein Verleih sind", sagt Tom. Dass er ein sehr emotionales Verhältnis zu "Pixadores" hat, ist ihm anzumerken. Und das hat auch seine Gründe: "Ich habe dutzende E-Mails nach Finnland geschrieben, wo die Produktionsfirma und der Verleih sitzen. Die haben sich immer mal gemeldet, mal nicht und nirgendwo lief dieser Film." Irgendwann - nach über drei Jahren Hin und Her - habe er das Werk des finnischen Regisseurs Amir Arsames Escandari aber in den Händen gehalten. Zunächst nur für zwei Aufführungen - in Jena und in Erfurt. "Dann habe ich gedacht: Krass, der ist so geil, der kann nicht einfach wieder zurück in dieses finnische Filmarchiv und dann wieder nicht gezeigt werden. Dann hab' ich die vollgequatscht und gesagt: Ich brauche mehr Screening-Termine", erinnert sich Tom.

Ich bin da so ganz organisch reingewachsen.

Tom Urban Rotzfrech Cinema

Nach langen Verhandlungen habe das schlussendlich auch geklappt und es sei die Idee entstanden, mit dem Film auf Tour zu gehen. "Was völlig abstrus war, weil wir das noch nie gemacht haben", erzählt er. Das Konzept habe hinten und vorne niemand so richtig verstanden, aber das sei bereits die Verleihtätigkeit gewesen: "Dass man einen Film hat, für den man sich selber verantwortlich fühlt - ohne, dass wir die Rechte daran hatten. Trotzdem haben wir den Film ins Kino gebracht. (...) Ich bin da so ganz organisch reingewachsen."

Inzwischen sind die drei Herren vom "Rotzfrech Cinema" immer auf der Suche nach neuen Filmen, führen Vertragsverhandlungen und organisieren Filmrechte. Ein besonderer Erfolg dabei: "Nach sieben Jahren, wo ich mich mit dem Film 'Pixadores' auseinandersetze, haben wir es jetzt geschafft, dass die Produktionsfirma den bestehenden Vertrag aufkündigt und wir ab nächsten Monat die weltweiten Rechte an dem Film haben", erzählt Tom voller Freude.

Filmplakate des Films "Pixadores"
Das damalige Poster zum Film "Pixadores" - wegen Überlänge obere und untere Hälfte nebeneinander. Bildrechte: MDR/Christian Franke

Jugendsubkulturen auf der Leinwand

Aber was macht nun eigentlich ein Filmverleih genau? Spoiler: Mit einer Videothek, die es heute nur noch vereinzelt gibt, hat das wenig bis nichts zu tun. "Ein Filmverleih ist, grob gesagt, die Schnittstelle zwischen den Kinos und den Filmproduzierenden", erklärt Sven Kubeleit. Oft sei es der Fall, dass Produzenten mit der Vermarktung ihrer Werke überfordert sind, vor allem bei kleineren und Independent-Filmen. "Die schreiben Kinos an und merken, dass sie den Film dort nicht untergebracht kriegen - oder halt nur ein, zwei Screenings zustande kommen", sagt Kubi. Und genau an dieser Stelle komme ein Filmverleih wie "Rotzfrech Cinema" ins Spiel.

Tom und Kubi vom Rotzfrech Cinema
Auch Recherche gehört für Tom (links) und Kubi dazu, denn vor allem Filme aus dem Ausland sind manchmal gar nicht so leicht zu bekommen. Bildrechte: MDR/Christian Franke

"Im Moment sind wir für die Kinos noch relativ unbekannt. Durch die letzten Filmtouren haben wir einen ziemlich guten Draht zu einigen bekommen, aber wir wollen unser Netzwerk erweitern", sagt Kubi. Dabei wollen sie vor allem mit ihrem besonderen Angebot punkten, denn das "Rotzfrech Cinema" spezialisiert sich nicht mehr "nur" auf die Themen HipHop und Graffiti, sondern generell auf Jugendsubkulturen. "Irgendwann haben wir dann gesagt, dass es nicht unbedingt um Graffiti gehen muss. Da hatten wir jetzt zum Beispiel den Film "Nichtstadt". Wir sind da nicht dogmatisch. Wenn uns in zwei Jahren marokkanische Liebesfilme interessieren, machen wir auch die. Aber im Moment sind Jugendsubkulturen unser Interesse", sagt Tom und ergänzt: "Das ist ein Segment, von dem große Filmverleihe, der eher auf Blockbuster spezialisiert sind, oft gar keine Ahnung haben. Da fehlt oft das Gefühl dafür, was das eigentlich für Rohdiamanten sind. Und da fallen Filme schnell hinten runter."

Wir sind da nicht dogmatisch. Wenn uns in zwei Jahren marokkanische Liebesfilme interessieren, machen wir auch die. Aber im Moment sind Jugendsubkulturen unser Interesse.

Tom Urban Rotzfrech Cinema

Viele Menschen auf dem Jenaer Marktplatz
Gemischtes Publikum bei der Vorführung von Nichtstadt. Die Frage, wie sich die eigene Stadt verändert, treibt alle Generationen um. Bildrechte: Arth Design/André Helbig

Damit das eben nicht passiert und die Rohdiamanten geschliffen werden und auf die Leinwand kommen, machen die drei Freunde auch so etwas wie Agenturarbeit. Heißt, sie bauen Texte, stellen Pressemappen zusammen und gestalten Artworks, um den Film zu bewerben. "In Deutschland und vielleicht auch in Europa ist das einmalig", überlegt Tom. Inzwischen gebe es bereits Filmproduzenten, die schon während der Produktion auf "Rotzfrech Cinema" zugekommen sind, um später den Film bewerben zu lassen. Grundsätzlich gehe das Organisieren der Filme aber in beide Richtungen: "Natürlich gibt es inzwischen Leute, die an uns herantreten, aber natürlich finden wir auch Filme, die wir dann einfach anfragen."

Gewinner der Thüringer Gründerprämie

Dass aus dem einstigen Nischenkino-Projekt mehr und mehr ein professioneller Filmverleih wird, liegt nicht nur an den drei unermüdlichen Aktivisten. Im Herbst 2021 konnten Tom und Kubi mit dem" Rotzfrech Cinema" die "Thüringer Gründerprämie für innovationsbasierte Gründungsprojekte" gewinnen, die ihnen nun auf den letzten Schritten in Richtung einer eigenen Firma unter die Arme greift. "Wir bekommen für ein Jahr monatlich ein Gehalt ausgeschüttet, um uns und unser Projekt so aufzustellen, dass wir in den nächsten Jahren davon selber leben können", erklärt Kubi. Und die Chancen, dass das Vorhaben aufgeht, stehen gar nicht so schlecht: "Damit man mal ein Gefühl hat. Bei dem Film 'Grenzgebiete', in den wir mit am meisten Zeit investiert haben, haben wir es geschafft, rund 10.000 Zuschauer in ganz Deutschland ins Kino zu kriegen", resümiert Tom. Für Arthouse-Filme sei das schon eine große Zahl, das habe auch die Filmförderung signalisiert.

Ein kleines Kino für den Kiez

Dass das "Rotzfrech Cinema" ein Filmverleih der anderen Art ist, zeigt sich nicht nur auf den Kinoleinwänden. In der Magdeburger Allee in Erfurt entsteht derzeit so etwas wie das "Hauptquartier" der drei Freunde - und noch viel mehr als das. Denn in dem Laden, der den Namen "Schambrowski" tragen wird, soll nicht nur gearbeitet werden. Auch ein kleines Kino mit regelmäßigen Vorführungen soll entstehen. Ebenso wie eine Bibliothek zu den Themen Hip-Hop, Graffiti und Jugendsubkulturen. Schon jetzt sind die Türen für Interessierte geöffnet. Noch im Juni wollen Tom, Kubi und Sebastian aber auch einen offiziellen Startschuss dafür geben - und das natürlich mit Hip-Hop, DJ und Graffiti. Rotzfrech eben.

MDR

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