75 Jahre Kriegsende in Thüringen Todesmärsche in Thüringen

Vor den Augen der Bevölkerung

Während die Konzentrations- und Zwangsarbeiterlager Buchenwald, Ohrdruf und Mittelbau-Dora von der SS verlassen und durch die Amerikaner befreit wurden, trieben noch immer Häftlinge durch Thüringen. Mit der nahenden Frontlinie versuchten die Deutschen, die Spuren ihrer Verbrechen zu beseitigen. Zu groß war die Angst vor der Rache für die eigenen Kriegsverbrechen. So wurden kurz vor Kriegsende noch tausende Inhaftierte auf sogenannte Todesmärsche getrieben. Viele Thüringer sahen damit die Verbrechen des Krieges erstmals mit eigenen Augen.

Es war der 3. April 1945, der Dienstag nach Ostern, als in den Dämmerungsstunden eine Gruppe KZ-Häftlinge durch den kleinen Ort Liebenstein zog. Begleitet von Wachhunden und den strengen Blicken der SS-Soldaten wurden sie von Ohrdruf nach Buchenwald getrieben. Albrecht Dürer war damals 13 Jahre alt, als er die Vorgänge in seinem Dorf sah: "Es waren sehr abgemagerte Gestalten. In blau-weißen Anzügen mit einer Baskenmütze, einer grauen Decke und einem Beutel. Man hörte ihre Holzschuhe, sie schlürften kraftlos über unsere Straßen und sie riefen `Hunger, Durst´ und versuchten von den Einwohnern etwas zu erbetteln. Dafür wurden sie mit Gewehrkolbenstößen der SS geahndet.“ Am Vortag hatte Heinrich Himmler den Kommandanten des Sonderlagers III in Ohrdruf telefonisch angewiesen, das Lager zu evakuieren. Wenn nötig, sollte man dabei Häftlinge umbringen.

Todesmarsch
Todesmärsche der Häftlinge des KZ Buchenwald und seiner Außenlager im April 1945. Bildrechte: MDR/Franziska Hentsch

"Evakuierung" der Lager

Bereits in der zweiten Jahreshälfte 1944 wurden Konzentrations- und Arbeitslager, die in Frontnähe geraten waren, ins Landesinnere geräumt. Alle Nichttransportfähigen brachte man um. Von Auschwitz wurden über 120.000 Häftlinge auf die sogenannten Todesmärsche geschickt - in Viehwaggons oder zu Fuß. Ziel waren die Konzentrationslager im Inneren des Reiches, insbesondere Flossenbürg in der Oberpfalz, Buchenwald bei Weimar und Mittelbau-Dora im Harz. Viele Menschen erfroren auf den Transporten. Die Zahl der Toten, die Mittelbau-Dora erreichten war so hoch, dass zusätzlich zum Krematorium im KZ Scheiterhaufen errichtet wurden.

Doch das Leiden der ankommenden Häftlinge nahm auch in Thüringen kein Ende, da wichtige Posten in den KZs durch SS-Leute aus Auschwitz besetzt wurden. Als Anfang April die Amerikaner im Westen näher rückten, wurden auf Befehl auch die Thüringischen Lager evakuiert. Damit bedeute das Näherrücken der Befreier für die Gefangenen weitere Strapazen. Was als "Evakuierung" deklariert wurde, war in Wahrheit ein grausamer Transport und Todesmarsch, den viele nicht überlebten.

Todesmarsch
Erinnerungsort in Hottelstedt. Bildrechte: MDR/Franziska Hentsch

Das Stammlager Buchenwald wurde schnell mit Hilfe der Reichsbahn geräumt, so dass ab dem 7. April 1945 innerhalb von 4 Tagen rund 25.000 Gefangene abtransportiert wurden. Bis zu 100 und 180 Gefangene wurden in Vieh- oder Kohlewaggons gedrängt. Wie ein Überlebender errechnete, kamen auf einen Quadratmeter 7 Männer. Alle litten unter Hunger, Durst, Kälte, Schmutz, Krankheiten und Verzweiflung. Wegen zunehmend zerstörter Bahngleise, mussten die Gefangenen zu Fuß weiter.

Insgesamt fanden Todesmärsche aus dem Stammlager auf 60 Routen statt. Auch aus Mittelbau-Dora und seinen Außenlagern wurden in den ersten Apriltagen 1945 über 40.000 Häftlinge in Marsch gesetzt. Eine besonders schwierige Strecke führte 34 km von Osterode nach Oker über den Harz.

Vor den Augen der Thüringer

Die Todesmärsche überwachten zunächst SS-Männer, später im Laufe der Märsche wurden auch Wehrmachtseinheiten, Polizei, Volkssturm und Hitlerjugend verpflichtet. Aus Angst vor dem herannahenden Feind zwangen sie die Häftlinge zum Laufschritt - eine schwere körperliche Belastung. Wer das Tempo nicht mithalten konnte, wurde von den Wachen erschossen oder erschlagen. Die Leichnamen wurden beseitigt und verscharrt. Je länger der Todesmarsch ging, desto schwieriger war es,  mit den geschwächten Häftlingen wie geplant voranzukommen. Die Marschzüge bewegten sich durch Wälder aber auch durch Dörfer und Städte, so dass zahlreiche Marschierende vor den Augen der Bevölkerung starben. Für viele Anwohner war es das erste Mal, dass sie mit eigenen Augen KZ-Häftlinge sahen. Albrecht Dürer erinnert sich, dass es für seine Eltern sehr schmerzlich war. Sie trauten sich nicht, den Häftlingen etwas zu geben aus Angst vor den SS-Männern.

Todesmarsch
Grabmahl für die 15 Häftlinge, die während des Todesmarsches in Liebenstein getötet worden. Bildrechte: MDR/Franziska Hentsch

In der Dämmerung hatten in Liebenstein einige Häftlinge versucht, in Bauernhöfe und Gassen zu fliehen. Als sie gefangen wurden, musste Albrecht Dürer als Kind miterleben, wie zwölf der Häftlinge in seinem Ort ihr eigenes Grab schaufeln mussten: "Ich höre bis heute die Schreie der Männer 'nicht schießen, nicht schießen'. Doch die SS-Soldaten gaben den Befehl an die Hitler-Jungen zu schießen.“ Albrecht Dürer konnte nur zusehen, wie die Häftlinge ins Grab fielen und verscharrt wurden. Das Verscharren der Opfer der Todesmärsche war üblich um Spuren zu verwischen. Am Straßenrand Richtung Gräfenroda entdeckte Albrecht Dürer noch drei weitere Häftlinge tot auf der Erde liegend. Viele der Todesmarschopfer wurden erst nach dem Krieg exhumiert und auf Friedhöfen beigesetzt. In Liebenstein steht heute ein Grabmal für die 15 Getöteten.

Bis heute ungeklärte Kriegsverbrechen

Entlang der Routen der Todesmärsche findet man heute in Thüringen eine Vielzahl ähnlicher Gedenkzeichen, die an dieses Massenverbrechen der letzten Kriegswochen erinnern. Als die alliierten Soldaten im April 1945 Thüringen erreichten, fanden sie häufig nur noch die Leichen auf ihrem Weg und in den Lagern. Für viele der Überlebenden folgte auf die Befreiung ein ungewisses Schicksal. Wer Glück hatte, wurde von den amerikanischen Truppen versorgt. Die deutsche Bevölkerung stand den Häftlingen oft noch feindselig gegenüber. Vielerorts wurden sie vertrieben. Einige irrten ziellos umher. Viele starben trotz medizinischer Hilfe in der darauffolgenden Zeit. 

Etwa jeder dritte Häftling überlebte die Todesmärsche nicht. Bis heute sind gerade einmal 10 Prozent der Opfer identifiziert. Was im Einzelnen geschah ist heute kaum zu rekonstruieren, weiterhin bleiben viele Täter und Opfer anonym. In Thüringen kamen in den drei Wochen zwischen März und April 1945 etwa 1000 Menschen während der Todesmärsche ums Leben. Mindestens 150 Gemeinden wurden Schauplatz  an dem Menschen an Erschöpfung starben oder ermordet wurden.

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Albrecht Dürer erlebte als Kind das Kriegsende in Thüringen. Er musste zusehen, wie durch seinen Heimatort KZ-Häftlinge getrieben wurden.

Fr 17.04.2015 15:04Uhr 03:45 min

https://www.mdr.de/nachrichten/thueringen/kultur/zeitgeschehen/video265584.html

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Buchtipps Thüringen 1945 -
Todesmärsche aus Buchenwald
Überblick. Namen. Orte.

Von Katrin Geisler
Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Weimar 2001

ISBN: 3-935598-04-1

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Zwischen Harz und Heide -
Todesmärsche und Räumungstransporte im April 1945.

Begleitband zur Austellung in der Gedenkstätte Mittelbau-Dora

ISBN: 978-3-8353-1713-0
Preis: EUR 14,50

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Fazit vom Tag | 01. April 2020 | 18:00 Uhr

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