Die Autoren im Interview "Wir haben hinter die propagandistischen Fassaden geschaut"

12. August 2015, 12:16 Uhr

"Zwei Tote im Kalten Krieg" erzählt die Geschichte von zwei Mauer-Toten. Der eine, Rudi Arnstadt, ein Grenzoffizier der DDR, der andere, Peter Fechter, ein Mauer-Flüchtling. Wie ist die Idee entstanden, das ähnliche Schicksal zweier so unterschiedlicher Menschen aufzugreifen?

Jan Schönfelder: Es gab ursprünglich die Idee, sich den Fall Rudi Arnstadt genauer anzuschauen. Allein dieser Fall ist ja schon spannend. Dabei ist uns aber schnell aufgefallen, dass wenige Tage nach Arnstadt Peter Fechter erschossen wurde, dass es zwischen beiden Fällen - bei allen Unterschieden - eine zeitliche Nähe gibt. Darüber hinaus haben beide Fälle in den vergangenen fünf Jahrzehnten immer wieder Menschen bewegt. Arnstadt und Fechter wurden zu Symbolen im Kalten Krieg. Und auch nach dem Mauerfall verloren sie nicht an Bedeutung. Zwar wurden Denkmäler für Rudi Arnstadt geschliffen, aber durch neue Umstände, einen Mord, blieb der Fall mit all seinen Ungewissheiten weiter in Erinnerung.

Lassen sich die beiden Fälle vergleichen?

Rainer Erices: Natürlich muss man hier auf der Hut sein. Rudi Arnstadt, der Grenzoffizier, wurde im Dienst erschossen. Peter Fechter wurde erschossen, weil er über die Mauer in den Westen fliehen wollte - er hatte also eine private Motivation. Trotzdem: beide starben etwa zur gleichen Zeit, im August 1962. Die Mauer stand gerade ein Jahr, die Kuba-Krise stand bevor. Es waren also Ereignisse mitten in einer angespannten Phase des Kalten Krieges. Und beide Todesfälle dienten dann den beiden Systemen in Ost und West. Die DDR machte aus Rudi Arnstadt einen heldenhaften Friedenskämpfer, für den Westen war Peter Fechters Tod ein Symbol der Unmenschlichkeit des Ostens und des Mauerregimes.

Aber das ist ja auch nicht ungewöhnlich, dass die beiden Todesfälle in der Folge in diesem Sinne genutzt wurden?

Rainer Erices: Der Politik konnten solche Ereignisse natürlich dienen, zumal in einer solch heißen Phase der Konfrontation. Nun wollten wir in unserem Film zeigen, dass hinter diesen propagandistischen Fassaden mehr steckte. Von Rudi Arnstadt beispielsweise ist wenig überliefert. Die DDR verkündete nach dem Tod von Arnstadt, dass nunmehr zwei Kinder keinen Vater mehr hätten. Das stimmte rein faktisch. Nach unseren Recherchen jedoch kannten die Kinder ihren Vater gar nicht - sie lebten ja fast seit ihrer Geburt in einer neuen Familie. Auch bei Peter Fechter haben wir versucht, einen Einblick in die Familie zu bekommen. Die Mutter beispielsweise blieb trotz dieses tragischen Verlustes ihres Sohnes weiter in der Partei, die ja diesen Tod letztlich mit zu verantworten hatte.

Nach dem Mauerfall verblasst die Erinnerung an Arnstadt allmählich, Fechter wird hingegen weiterhin verehrt. Wieso berührt vor allem sein Schicksal die Menschen bis heute?

Jan Schönfelder: An der Mauer und an der innerdeutschen Grenze sind Hunderte Menschen ums Leben gekommen: erschossen, ertrunken, von Minen zerfetzt. Doch nur von wenigen sind die Namen im allgemeinen Gedächtnis. Peter Fechter ist so ein Name. Das liegt einerseits an den besonders tragischen Umständen seines Todes - das langsame Verbluten im Todesstreifen -, aber vor allem an den Fotos und Filmaufnahmen, die die Menschen berührten. Hier wurde erstmals das Unmenschliche der Grenze dokumentiert: Die Menschen im Westen konnten sehen, wie ein Mensch mitten im Zentrum von Berlin öffentlich und hilflos verblutet. Diese Bilder gingen um die Welt und zeigten, dass die Mauer keine "normale" Grenze war, sondern ein Todesstreifen im wahrsten Sinne des Wortes.

Wie muss man sich die Recherchen vorstellen? War es schwierig, Zeitzeugen zu finden, nach all den Jahren, die vergangen sind?

Rainer Erices: Auch bei diesem Film haben wir anfangs sehr viel in Archiven gegraben, um an Informationen zu kommen. Natürlich wurde auch einiges bereits veröffentlicht - insbesondere zu Peter Fechter. Wir wollten es genauer wissen. Die Todesumstände von Rudi Arnstadt beispielsweise sind bis heute nicht genau geklärt, noch immer sind die Ansichten hierzu in Ost und West völlig gegensätzlich. Die Zeitzeugensuche war sehr schwierig. Viele Augenzeugen, Beteiligte leben nicht mehr. Es ist uns trotzdem gelungen, für beide Fälle Menschen zu finden, die hautnah beteiligt waren und insofern uns wichtige Erinnerungen liefern konnten. Wir interviewten erstmals den Posten, der Rudi Arnstadt damals auf Streife begleitet hatte. Er war also direkt dabei, als der Grenzoffizier neben ihm erschossen wurde. Zum Fall Peter Fechter konnten wir mit dessen Nichte sprechen. Sie war 1962 noch klein, gerade 7 Jahre alt. Sie wuchs aber gemeinsam mit ihrem Onkel in der Wohnung in Berlin-Weißensee auf - insofern waren wir recht glücklich, sie gefunden zu haben.

Gab es besonders überraschende Erkenntnisse oder beeindruckende Momente während der Recherche?

Jan Schönfelder: Mich hat beeindruckt, wie intensiv noch heute die Erinnerung der Augenzeugen an die damaligen Ereignisse ist. Das hatte ich nach fast 50 Jahren nicht erwartet.

Rainer Erices: Sehr bewegt haben auch mich die Schilderungen der Augenzeugen. Nehmen wir beispielsweise den einstigen Soldaten, neben dem Rudi Arnstadt - eigentlich völlig überraschend - erschossen wurde. Arnstadt stieg damals auf zum DDR-Helden. Die ganze Geschichte wurde propagandistisch verklärt. Was aber passierte mit diesem Soldaten? Bis heute kann er noch den Luftzug der Kugeln spüren, die damals an ihm vorbei zischten. Ich will damit sagen, dass dieser Soldat in der DDR nie eine Möglichkeit sah, dieses ja sehr traumatische Erlebnis zu verarbeiten. Vielleicht war das ja auch die Chance, dass wir ihn interviewen konnten. Er selber sagte uns, dass er in der Folge mehrfach seinen Wohnort wechselte und einfach immer viel arbeitete, um die Geschehnisse zu verdrängen. Oder nehmen wir Frau Hosseini, die das Sterben Peter Fechters noch sehr plastisch vor Augen hat. Bis heute, so schilderte sie uns, fühlt sie eine Schuld. Eben die Schuld, nichts unternommen zu haben oder nichts unternehmen zu können. Sie selber war ja damals noch sehr jung, aber trotzdem... Peter Fechter ist ja einfach so vor aller Augen verblutet und keiner tat was. Wie verdaut man so etwas? Es dauerte Jahre, bis unsere Augenzeugin überhaupt mit jemanden über dieses schlimme Erlebnis sprach. Ich könnte jetzt hier noch endlos weiter erzählen, vielleicht liegt das auch daran, dass in dieser Zeit des Kalten Krieges Dinge passierten, die aus heutiger Sicht unfassbar sind und teilweise einfach absurd wirken. Wir greifen im Film ja auch die seltsam scheindende Frage auf, waren diese Todesfälle an sich eigentlich sinnlos ...

Welchen Zugang haben Sie zu den beiden Grenz-Toten im Laufe der Recherchen bekommen? War es schwierig, die Verläufe ihrer Schicksale zu rekonstruieren?

Jan Schönfelder: Manches biographische Detail zu überprüfen war mitunter nicht leicht. Gerade bei Rudi Arnstadt gab es da viele Probleme: Die DDR hatte seine Biographie zu Propagandazwecken geschönt. Da war für uns viel Archiv- und Recherchearbeit notwendig. Diese Arbeit war nicht immer erfolgreich. Manche Unterlagen waren nicht mehr auffindbar. Manche Spuren verloren sich zwischen alten Akten. Trotzdem sind wir dem Menschen Rudi Arnstadt - mit seinen hellen und dunklen Seiten - näher gekommen.

Der dritte Todesfall, der im Film vorkommt, ist besonders mysteriös. Da wird Jahre nach der Wende plötzlich der einstige Todesschütze von Rudi Arnstadt erschossen. Und zwar auf ähnliche Weise und ganz in der Nähe - das ist ja eigentlich unglaublich...

Rainer Erices: Ja, auch heute noch nach weiteren 13 Jahren ist dieser Mord an Hans Plüschke noch nicht aufgeklärt. Wir haben bei unseren Dreharbeiten so viele Theorien gehört - aber der Fall ist eben sehr mysteriös. Es klingt wie ein "perfektes" Verbrechen. War es eine späte Rache der Stasi, gab es private oder geschäftliche Motive von irgendjemandem, vermeintliche Drogengeschäfte - dieser Mord führte zu etlichen auch wilden Spekulationen. All das ist nie beantwortet worden. Tatsache ist, dass Plüschke damals Rudi Arnstadt erschossen hatte, die westdeutsche Justiz sah darin einen Akt der Notwehr. Später offenbarte sich Plüschke im Radio und Fernsehen. Er wohnte nicht weit vom Tatort, er fuhr Taxi, ja und dann musste er in einer Nacht sterben, er war gerade auf einer Taxifahrt.

Die Fragen stellte: Ines Hofmann

Zwei Menschen - Ein Schicksal Rudi Arnstadt war Hauptmann der Grenztruppen der DDR. Im August 1962 wurde er an der innerdeutschen Grenze vom Bundesgrenzschutz-Beamten Hans Plüschke erschossen. Ob es Notwehr oder ein Anschlag des BGS war, konnte bis heute nicht geklärt werden. Plüschke wurde 1998 ermordet aufgefunden.

Peter Fechter zählt zu den bekanntesten Mauertoten. Im August 1962 versuchte der Mauerergeselle, die Berliner Mauer zu überklettern. Vor den Augen vieler Zeugen wurde er angeschossen und blieb regungslos im Todesstreifen liegen. Er schrie um Hilfe, die ihm jedoch verwehrt wurde. Er starb etwa eine Stunde später.

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