Arafats Thüringer "General" - Wo ist Udo Albrecht? Befragung durch die Stasi

31. März 2019, 05:00 Uhr

Unterdessen wird Albrecht von der Staatssicherheit weiter befragt. Die Vernehmer wollen wissen, ob die Flucht Albrechts eine "Provokation durch den Gegner" ist oder nicht. Außerdem sollen so viel wie möglich Informationen abgeschöpft werden. Am 30. Juli beginnt die Vernehmung bereits um 00:30 Uhr. 7 Uhr ist Pause. Nach einer halben Stunde geht es weiter bis 12:30 Uhr. Wieder eine halbe Stunde Pause. 20:30 Uhr ist Schluss für den Tag. Am nächsten Tag geht es mittags weiter. Insgesamt dauert die Befragung über eine Woche.

Foto von Udo Albrecht aus der Akte MfS AOPK 25579/91 vom BStU
Udo Albrecht nach seiner Flucht in die DDR Bildrechte: BStU

Das Tonband läuft immer mit. Nach Tagen klagt Albrecht über Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen. In Anwesenheit der Stasi darf Albrecht Tabletten schlucken. Die Staatssicherheit ist auf die stundenlangen Befragungen vorbereitet und sie fragt gezielt. Jeder Tag dreht sich thematisch um einen Komplex. Albrecht zeigt sich offenbar kooperationswillig. Er unterschreibt Protokolle. Er gibt sich als "Offizier der Staatssicherheit der PLO" und Bürger der Republik Libanon aus. Er habe echte Papiere, die auf seinen richtigen Namen ausgestellt seien. Außerdem besitze er einen PLO-Ausweis, der auf seinen Kampfnamen "Hermann Hell" ausgestellt sei. In der Vernehmung belastet Albrecht Pohl als Verfassungsschutz-Mitarbeiter. Davon habe er durch Fernschreiben zwischen dem BKA und dem Verfassungsschutz, die sich in seinen Prozessakten befinden, erfahren. Albrecht befürchtet, dass Pohl im Libanon an Unterlagen, unter anderem über rechtsradikale Gruppen in der Bundesrepublik und geplante Aktionen der PLO, kommt, die er dort hinterlegt habe. In seinen Vernehmungen nennt Albrecht zahlreiche Details und Namen. Gleichzeitig berichtet er ausführlich über seine Kontakte zu "Jung", verneint aber alle weiteren Kontakte zu westlichen Geheimdiensten. Albrecht fühlt sich von "Jung" erpresst und hintergangen. "Jung" habe ihn unschuldig hinter Gitter gebracht. "Ich habe nur einen Wunsch", sagt Albrecht seinen Vernehmern, "dass ich mit diesen Jung und diesen Oberstaatsanwalt abrechnen kann."

Loyal zur PLO

Albrecht legt Wert darauf, in der Vergangenheit Informationen über rechtsextremistische Kreise in der Bundesrepublik an den Palästinenser Atef weitergegeben zu haben, der ihm "das Interesse der Organe der DDR an derartigen Kreisen" mitgeteilt habe. Die Staatssicherheit fragt gezielt nach der rechtsextremistischen Szene in der Bundesrepublik. Die Anwälte Schöttler und Roeder sowie Wehrsportgruppen-Chef Hoffmann sind für sie besonders interessant. Albrecht gibt zahlreiche Details preis. Er spricht beispielsweise über die Falschgeld-Produktion und die personellen Verflechtungen. Albrecht charakterisiert Hoffmann als "feige". Die Staatssicherheit legt ihm Ausgaben der WSG-Zeitschrift "Kommando" vor und Albrecht identifiziert einzelne Mitglieder der Wehrsportgruppe. Auch die Szene militanter DDR-Gegner ist für die Staatssicherheit interessant. Albrecht nennt Namen und Verbindungen, verweist dabei immer wieder auf seine Unterlagen, die allerdings in Beirut liegen würden. Er charakterisiert einige Vertreter der rechtsextremistischen Szene - "neofaschistischer Spinner und Sektierer". Auch über seine Verbindungen in die rechtsextremistische Szene in Italien und zur exilkroatischen Szene in der Bundesrepublik spricht er. Albrecht gibt sich in der Vernehmung mit der Staatssicherheit teilweise geläutert. Er distanziert sich vom extremen Neofaschismus, bleibt aber bei seiner antizionistischen Haltung. Über seine Aufträge, die er von der PLO erhalten hat, schweigt er allerdings weitgehend. Einmal verweigert er dazu die Aussage mit der Begründung, dass konkrete Angaben dazu "die Interessen der DDR nicht unmittelbar" berühren würden. Auch später, als es um gemeinsame "Geldbeschaffungs"-Aktionen" mit der PLO in Westeuropa geht, ist Albrecht zugeknöpft: Er wolle darüber nicht sprechen, "da dies meines Erachtens nicht unmittelbar im Zusammenhang mit den Interessen der DDR berührenden Fragen steht." Immer wieder legt er Wert auf seine Loyalität zur PLO. Nur in Anwesenheit eines PLO-Vertreters würde er über diese Dinge sprechen. Die Staatssicherheit befragt Albrecht auch umfangreich zu Anwalt Schöttler. Es geht um geschäftliche Verbindungen in den arabischen Raum und um Kontakte in rechtsextremistische Kreise. Wenn es Albrecht an Detailwissen fehlt oder er Details nicht preisgeben möchte, dann verweist er immer wieder auf seine Unterlagen, die sich in Beirut in einem Stabswagen befinden würden. In den 14 Koffern mit Zahlenschloss sollen auch Dokumente deponiert sein, die die detaillierte Vorbereitung von Anschlägen gegen israelische Einrichtungen, die von der Fatah, dem "Schwarzen September" und der PLO geplant waren, dokumentieren.

Foto von Udo Albrecht aus der Akte MfS AOPK 25579/91 vom BStU
Albrecht packt bei der Staatssicherheit aus Bildrechte: BStU

Der Staatssicherheit listet Albrecht detailliert den Inhalt seiner Koffer auf: Mitarbeiter-Personalakten, Dossiers über DDR-feindliche Gruppen in der Bundesrepublik, Geld und Falschgeld, Ausweise sowie Material über Kampfstoffe, Funkzündungen, bundesdeutsche Geheimdienste und Ermittler, Links-Terroristen etc. Nur das Dossier über "Jung" würde sich in einem Koffer am Schreibtisch von Atef befinden - aus Sicherheitsgründen. Außerhalb des Protokolls gibt Albrecht doch Details zur PLO preis. Die Stasi schreibt heimlich mit. So berichtet Albrecht darüber, dass er in Portugal für den Irak Waffen im Wert von 20 Millionen Mark beschaffen sollte. Als Zwischenhändler sei die PLO aufgetreten. Es sei um Panzerfäuste vom Typ "Armbrust" von MBB gegangen, die über Umwege in den Nahen Osten geliefert werden sollten. Er wisse aber nicht, ob das Geschäft zustande gekommen sei, da er kurze Zeit später inhaftiert wurde. In den Vernehmungen bietet Albrecht auch eine spätere Kooperation mit der DDR an. Die Stasi geht auf das Angebot nicht ein. Nach den allgemeinen Vernehmungen wird Albrecht zu einzelnen Personen befragt. Albrecht berichtet detailliert über Waffenhändler, Neonazis, Kampfstoff-Experten und Geheimdienstleute, die ihm bekannt sind. Auch über seine eigenen terroristischen Ambitionen spricht Albrecht. Er habe in der Vergangenheit "zionistische Exponenten", wie den einstigen Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, oder den Nazi-Jäger Simon Wiesenthal, für "grundsätzliche Aktionen" im Visier gehabt. Zu beiden Personen habe er "Unterlagen und Fakten" gesammelt. Albrecht beschreibt der Staatssicherheit detailliert das Hochsicherheitsgefängnis Brackwede und denkt laut über Fluchtmöglichkeiten nach.

Die Befragung durch MfS ist interessengeleitet. Sie konzentriert sich auf das, was nach seiner Einschätzung für die Sicherheit der DDR wichtig sein könnte. Eine ideologische Auseinandersetzung mit Albrecht findet nicht statt. Auch über private Dinge wird nicht gesprochen

Der Neonazi und der SED-Staat

Retrospektive Thomas Billhardt: Jassir Arafat, Beirut, Libanon, 1978
Die SED unterstützt die Politik von Jassir Arafat gegen Israel Bildrechte: Camera Work/Thomas Bildhardt

Nach außen gerieren sich die SED-Genossen prononciert antifaschistisch. Doch im Fall Albrecht wird der staatstragende Antifaschismus zur Seite geschoben. Weshalb handelt die DDR im Fall von Albrecht ihren eigenen ideologischen Vorgaben zuwider? Weshalb hat sie keinen Skrupel, einen bekennenden Neonazi zu unterstützen und eine Liaison mit ihm einzugehen? Welche Gemeinsamkeit gibt es zwischen Albrecht und den DDR-Genossen? Es gibt einen gemeinsamen Feind: Israel. Albrecht und die DDR verfolgen einen politischen Antizionismus, der Israel als Feindstaat definiert. Der Ostblock hat im Kalten Krieg Partei für die arabischen Staaten ergriffen und sich solidarisch mit der israelfeindlichen PLO als nationale Unabhängigkeitsbewegung erklärt, obwohl die Organisation auch vor Terroranschlägen nicht zurückschreckt. Die PLO und ihre Verbündeten fordern die Zerstörung Israels. Zwar distanziert sich die DDR - die nach internationaler Anerkennung giert - offiziell vom Terrorismus, unterhält aber enge Beziehungen zu radikalen palästinensischen Organisationen. Die DDR verbreitet nicht nur extreme antizionistische Hetze, sondern unterstützt die Organisation offen und hält den bewaffneten Kampf für legitim. Sie ist nicht nur bestens über die Vorgänge innerhalb der PLO und ihren Unterorganisationen informiert und nimmt die Verbrechen ihrer Verbündeten in Kauf, sondern sie deckt sie auch aktiv. Seit 1973 hat die PLO eine offizielle Vertretung in Ost-Berlin - die erste im Ostblock. Damit wird der Eindruck eines besonders engen Verhältnisses vermittelt. Die DDR versucht, sich mit dieser Nahost-Politik Anerkennung bei den arabischen Staaten zu verschaffen - und Zugang zum Öl zu bekommen. Der Nahostkonflikt ist für die DDR ein Teil des Klassenkampfes: Israel wird als kapitalistischer Staat westlicher Prägung definiert. Die Israelis gelten als imperialistische Unterdrücker der Palästinenser, als Aggressoren, als Urheber des militärischen Terrors gegen die arabische Zivilbevölkerung. Die DDR-Propaganda spricht sogar vom Völkermord am palästinensischen Volk - und relativiert damit den Holocaust. Ähnlich argumentierten westdeutsche Rechtsextremisten. Hier ist die Schnittstelle zwischen Albrecht und der DDR. Und so fördert die DDR eher den Terrorismus, als dass sie zu seiner Bekämpfung beiträgt.

Über die internen Entscheidungswege der Staatssicherheit liegen keine Unterlagen vor. Deshalb bleibt unklar, wer was mit wem abstimmte. Wer traf letztendlich die politisch heikle Entscheidung? Welche Faktoren waren ausschlaggebend?

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Nachrichten | 31. März 2019 | 06:00 Uhr