Georg Maier, Bernhard Stengele, Thomas Kemmerich und Katja Wolf (von Links) bei der Fernseh-Sendung Fakt ist! Extra zur Landtagswahl
Schlagabtausch der Thüringer Spitzenkandidaten im MDR Fernsehen . Bildrechte: MDR/Jens Borghardt

Analyse Thüringer Spitzenkandidaten bei Fakt ist! - Drei Experten werten aus

16. August 2024, 14:05 Uhr

Sieben Spitzenkandidaten von Thüringer Parteien haben sich am Donnerstagabend in der Sendung "Fakt ist! Extra" einen Schlagabtausch geliefert. Diskutiert wurde über die Migrations-, Wirtschafts- und Bildungspolitik, die die Parteien anstreben. Drei wissenschaftliche Experten haben die TV-Runde für MDR THÜRINGEN verfolgt und bescheinigten den Politikern ein inhaltlich eher niedriges Niveau.

Nach dem "Fakt ist! Extra" mit sieben Spitzenkandidaten der Thüringer Parteien gibt es nach Ansicht verschiedener wissenschaftlicher Experten keinen Sieger. In der 90-minütigen TV-Sendung äußerten sich die Spitzenkandidaten von Linke, AfD, CDU, SPD, Grüne, FDP und BSW zu den Themen Migration, Wirtschaft und Bildung. Inhaltlich überzeugen konnten die Politiker die nach den drei Themen ausgewählten Experten nur selten.

Fazit: Keine Sieger, aber mindestens ein Verlierer

"Ich fand, es war eine hitzige Diskussion, die keine Gewinner, aber zwei Verlierer hatte", urteilte Alexander Gröschner, Professor für Schulpädagogik und Unterrichtsforschung an der Uni Jena, nach der Gesprächsrunde. "Eine Verliererin war für mich Frau Wolf (BSW), was sehr schade ist, weil die Moderation sie gar nicht zum Thema Bildung befragt hat", kritisierte Gröschner die Gesprächsführung des MDR. Oft sei ihm auch die Moderation zu konfrontativ gewesen, was dem ohnehin knappen Format Zeit nahm.

Ich fand, es war eine hitzige Diskussion, die keine Gewinner, aber zwei Verlierer hatte.

Alexander Gröschner

"Der eigentliche Verlierer ist aber Herr Höcke (AfD)", sagte Gröschner weiter und begründete: "In der Bildungspolitik hat er keine klaren Vorstellungen vertreten." Ähnlich urteilte auch der Wirtschaftsprofessor Andreas Freytag, der ebenfalls an der Uni Jena lehrt: "Die AfD und Herr Höcke hatten keine Inhalte und zeigten auch kein Interesse an Inhalten. Für mich ist er ganz klar der Verlierer der Runde."

Die Moderatoren Julia Krittian und Lars Sänger beim Fakt ist! Extra zur Landtagswahl
Die MDR-Moderatoren Julia Krittian und Lars Sänger führten durch die Sendung. Bildrechte: MDR/Jens Borghardt

Der Migrationsforscher Philipp Jaschke, vom Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB), sah eine TV-Debatte, die von der AfD-Politik getrieben war. "Es ging viel darum, wie man Zuzug verhindern kann und Thüringen abschotten kann." Neue konstruktive Vorschläge, wie Thüringen für Migranten attraktiver werden könnte, habe er nicht wahrgenommen.

"Das ist tragisch, weil Thüringen auf Zuzug angewiesen sein wird." Laut Prognosen wird die Bevölkerung von Thüringen bei gleichbleibender Zuwanderung und Geburtenrate bis 2070 auf 1,47 Millionen Menschen zusammenschrumpfen. Derzeit sind es rund 2,1 Millionen.

Migration: Wenig Substantielles und eine Überraschung

Vor dem Hintergrund, dass sich die Diskussion größtenteils um die Begrenzung von Zuwanderung und die Abschiebung von Migranten drehte, erkannte Jaschke hinter den mehrfachen Bekundungen, dass Thüringen ein weltoffenes Land sei, wenig Substantielles.

Lediglich Ministerpräsident Ramelow (Linke) habe darauf verwiesen, dass Thüringen für Zuwanderer attraktiver werden müsse und er Beschäftigungsverbote für Asylbewerber ablehne, um die Integration zu fördern. "Solche Verbote sind ein Integrationshemmnis. Das zeigen auch unsere Studien", stimmte Jaschke zu.

Philipp Jaschke, Migrationsforscher am Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung
Philipp Jaschke ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung. Bildrechte: privat

Als durchaus positive Überraschung hob der Migrationsforscher auch die Position von Katja Wolf hervor. "Sie hat stark herausgestellt, dass das gesellschaftliche Klima wichtig ist, damit Thüringen attraktiv bleibt. Auch das ist nachweislich so", sagte Jaschke. Aus dem Parteiprogramm des BSW hätte er das in dieser Klarheit jedoch nicht herauslesen können.

"Glaubhaft" sei auch Innenminister Georg Maier (SPD) in der Diskussion um die angestrebte Abschiebung des Straftäters aus Apolda gewesen. Dass die Diskussion sich aber auf einen solchen Einzelfall fokussierte, sorgte beim Migrationsforscher für Unverständnis: "Die übergroße Mehrheit wird nicht straffällig. Solche Einzelbeispiele sind in der grundsätzlichen Diskussion zum Thema nicht hilfreich."

Grundsätzlich wurde Jaschke auch bei AfD-Spitzenkandidat Björn Höcke. "Er hat gesagt, dass Millionen Menschen in Deutschland illegal wären. Das ist natürlich falsch." Zum einen seien 46 Prozent aller Migranten zwischen 2010 und 2022 aus EU-Staaten nach Deutschland gekommen. Zum anderen zeigten aktuelle Zahlen, dass nur sechs Prozent, der sich Ende 2023 in Deutschland aufhaltenden Schutzsuchenden (inkl. Ukrainer), keine rechtlich anerkannten Schutzgründe hätten.

Die übergroße Mehrheit wird nicht straffällig. Solche Einzelbeispiele sind in der grundsätzlichen Diskussion zum Thema nicht hilfreich.

Philipp Jaschke

Auch Höckes Aussage über "monoethnische Gesellschaften" lehnte Jaschke vehement ab. "Es gibt keine monoethnischen Gesellschaften. Auch Deutschland und Thüringen waren das nie!"

Was die Forschung über Arbeitspflicht und Bezahlkarten sagt

Auch die Positionen von Mario Voigt (CDU) sah Jaschke kritisch. Voigt stellte in der TV-Runde heraus, dass CDU-Landräte in Thüringen große Erfolge mit der Verpflichtung von Asylbewerbern zu gemeinnütziger Arbeit gehabt hätten. "Das führt zu sogenannten Lock-In-Effekten. Viele dieser Menschen bleiben in niedrig qualifizierten Arbeitsverhältnissen hängen", erklärte Jaschke und verwies auf Forschungsergebnisse. "Zugleich wird ihnen die Aufnahme von Integrationsleistungen – wie etwa Sprachkursen – erschwert."

Den Wert von Bezahlkarten für Geflüchtete versuchten Voigt und Kemmerich (FDP) stark zu machen. Doch auch hier widersprach der Forscher: "Integrationspolitisch sind Sachleistungen hinderlich. Das haben wir in einer Studie vom IAB belegt." Jaschke erklärte, dass Geflüchtete dadurch gehindert würden, in ihre Qualifikationen und Fähigkeiten zu investieren. "Außerdem signalisiert es eine ablehnende Haltung der aufnehmenden Bevölkerung".

Auch das Argument, dass damit Migrations-Anreize verhindert würden, ließ er nicht gelten: "Sozialleistungen in den Zielländern spielen eine vernachlässigbare Rolle. Bei der Entscheidung, wohin Menschen gehen, sind bestehende soziale Netzwerke und Kontakte viel entscheidender."

Die Forderung von Thomas Kemmerich, eine zentrale Ausländerbehörde zu schaffen, in der alle Kompetenzen gebündelt würden, bezeichnete Jaschke als "sinnvoll". "Wenn hier viele Fäden der Bürokratie zusammenlaufen, könnte das sehr hilfreich sein. Aber der Teufel steckt im Detail."

Einen Beitrag leisten, könnte auch der FDP-Vorschlag, eine Außenstellen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) direkt an der Erstaufnahme-Einrichtung anzusiedeln. Das könne Asylverfahren verkürzen. "Ob das in Thüringen aber umsetzbar ist, hängt in erster Linie vom Bundesamt ab und nicht von der Landespolitik", so Jaschke.

Wirtschaft: Fachkräftemängel und Bürokratie als Wachstumsbremse

In seinem Fachbereich Wirtschaft sah Andreas Freytag ebenfalls keine Gewinner. "Alle Kandidaten mit Ausnahme von Herrn Höcke hatten in der Wirtschaftspolitik zwei, drei Themen zu bieten, mit denen man wirklich etwas bewegen kann. Aber den Vorschlägen fehlte oft die Wucht und der Mut", meinte Freytag.

Wirtschaftswissenschaftler Andreas Freytag
Andreas Freytag ist Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Bildrechte: Freytag/FSUJena

Als Beispiel nahm er Bodo Ramelows (Linke) Fachkräfteabkommen mit Vietnam: "Das fand ich sehr gut. Das hat er gut erklärt, wie die Menschen in Vietnam auf Thüringen vorbereitet werden, wie sie die Sprache lernen und dann in Thüringer Unternehmen integriert werden", führte Freytag aus. "Das baut ja auch auf einer Tradition auf. Das ist ein sehr konstruktiver Versuch. Aber er ist im Maßstab zum Problem des Fachkräftemangels natürlich viel zu klein."

Auch bei Mario Voigt (CDU) sah Freytag gute Ansätze, der in der Runde seine Acht-Wochen-Genehmigungsgarantie vorstellte. Anträge von Bürgern oder Unternehmen, die nach acht Wochen nicht beantwortet seien, sollen demnach als bewilligt gelten. "Das ist eine gute Idee und er hat ja auch EU und Bundesebene ausgenommen, sonst könnte er das ja auch nicht halten. Aber es ist grundsätzlich richtig. So etwas kann Druck auf den Verwaltungsapparat ausüben, damit dort umgedacht wird." Der Vorschlag könnte laut Freytag dazu führen, dass Verwaltungen priorisieren, um schneller zu werden.

Ministerpräsident Bodo Ramelow beim Fakt ist! Extra zur Landtagswahl
Bodo Ramelow während der Fernsehsendung. Bildrechte: MDR/Jens Borghardt

In ein ähnliches Horn stieß Thomas Kemmerich (FDP), der für jedes neue Gesetz zwei alte Regeln streichen will und eine effizientere Digitalisierung forderte, um Unternehmen zu entlasten. "Das Berichtswesen für Firmen ist wirklich überbordend", stimmte Freytag zu. "Man muss ja sehen: Wenn ich zwei Stunden brauche, um einen Antrag zu schreiben, dann braucht ein anderer mindestens genauso lange, das zu lesen und auszuwerten. Und in all diesen Stunden entsteht keine Wertschöpfung."

BSW, SPD und Grüne blass - Höcke macht sich unmöglich

Eher blass blieben für Freytag Katja Wolf (BSW), Georg Maier (SPD) und Bernhard Stengele (Grüne) beim Thema Wirtschaft. Sie sprachen vor allem zum Strukturwandel in der Automobil-Industrie und wollten das von Kemmerich angeführte Verbrenner-Aus nicht als einzigen Grund für den schleichenden Niedergang gelten lassen.

"Und Herr Höcke, der hat sich aus der sachbezogenen und problemorientierten Diskussion verabschiedet, als er seine Horrorszenarios entworfen hat", führte Freytag noch aus. "Deutschland ist - auch wenn es wirtschaftlich besser laufen könnte - kein 'failed state'! Mit solchen Statements hilft Höcke Thüringen nicht weiter und er löst schon gar keine Probleme", so Freytag.

Mario Voigt und Björn Höcke beim Fakt ist! Extra zur Landtagswahl
Mario Voigt (CDU, links im Bild) und Björn Höcke im Zwiegespräch während der Sendung. Bildrechte: MDR/Jens Borghardt

"Insgesamt bin ich von den Lösungsangeboten der Parteien etwas enttäuscht worden", beurteilte Freytag das Niveau der gesamten Runde. "Ich hätte es gut gefunden, wenn Parteien den Mut gehabt hätten, davon zu sprechen, dass wir in bestimmten Bereichen auch schrumpfen müssen, um voran zu kommen."

Das Land müsse sich einmal grundlegend konsolidieren, um effizienter und leistungsfähiger zu werden. "Das ist dann sicher schmerzhaft, wenn Hochschul-Standorte oder Krankenhäuser zusammengelegt werden oder mal ein Bus weniger fährt, aber wir können nicht immer nur mehr von allem haben."

Ich hätte es gut gefunden, wenn Parteien den Mut gehabt hätten, davon zu sprechen, dass wir in bestimmten Bereichen auch schrumpfen müssen, um voran zu kommen.

Andreas Freytag

Bildung: Schnelle Lösungen ohne Weitblick

Auch Bildungsforscher Alexander Gröschner bescheinigte der Diskussion ein inhaltlich eher niedriges Niveau. "Wenn man die Debatte insgesamt sieht, fällt auf, dass es überhaupt nicht darum ging, was guter Unterricht ist, sondern nur darum, dass er nicht ausfällt. Wer ihn macht und wie gut er ihn macht, spielt gar keine Rolle mehr", bilanzierte Gröschner nüchtern.

Prof. Alexander Gröschner von der Uni Jena, Lehrstuhl für Schulpädagogik und Unterrichtsforschung
Alexander Gröschner ist Professor für Schulpädagogik und Unterrichtsforschung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Bildrechte: Alexander Gröschner

Beispielsweise lobten die Politiker von Rot-Rot-Grün, vor allem Georg Maier und Bodo Ramelow, den neuen Dualen Studiengang für Lehrkräfte. Gröschner aber warnte davor, darin die Lösung aller Probleme zu sehen: "Der Studiengang ist ganz neu, noch nicht evaluiert und wir wissen noch gar nicht, ob er gute Ergebnisse liefert." Niemand würde in der Medizin auf die Idee kommen, einen Studenten im dritten Semester einfach schon mal operieren zu lassen.

Teilweise sah der Jenaer Bildungsforscher auch in manchen Ansätzen der Parteien sehr kurzsichtige Lösungen. So kritisierte Gröschner etwa Mario Voigts Vorschlag Lehramtsstudenten eine Übernahme-Garantie auszusprechen. "In Mathe, Deutsch oder Chemie haben wir Bedarf, aber in Geschichte, Ethik oder anderen Fächern haben wir ein Überangebot."

Auch Thomas Kemmerichs Idee, Unterrichtsausfall mit hybridem Unterricht aufzufangen, entlarvte Gröschner: "Hybrider Unterricht ist die Königsklasse. Das gut und gehaltvoll zu machen, ist eine enorme Herausforderung, die unsere überalterte Lehrerschaft in den wenigsten Fällen bewältigen kann. Dazu braucht es mehr als digitale Ausstattung in Schule und Elternhäusern."

Viele Bildungsthemen bleiben auf der Strecke

Weitsicht bewies wohl am ehesten Bernhard Stengele (Bündnis90/Grüne), als er auf die Frage des Moderators, was denn in ein paar Jahren, wenn die geburtenstarken Jahrgänge durch sind, mit all den Lehrern zu machen sei? Stengele erklärte, dass es sich unsere Gesellschaft dann mal leisten können müsste, kleinere Klassen und mehr Lehrer zu haben.

Ein Einwand, der auch von Gröschner goutiert wurde, ehe er Stengele dafür kritisierte, an zu vielen kleinen Schulen auf dem Land festzuhalten. "Ich kann verstehen, dass Schulen ein wichtiger Anker auf dem Land sind. Aber in kleinen Schulen mit wenigen Klassen und wenig Personal haben wir viel schneller Unterrichtsausfälle. Wenn hier ein Lehrer krank wird, kann das die Schule meist nicht auffangen."

Über die AfD-Ideen verlor Gröschner nur wenige Worte: "Herr Höcke machte keine Vorschläge, sondern erklärte einfach, dass Integration und Inklusion unsere Schulen überbelasten würden. Doch das stimmt nicht." Was die Schulen und Lehrer wirklich belasten würde, seien die viele Bürokratie und Verwaltungsarbeit.

BSW-Politikerin Katja Wolf beim Fakt ist! Extra zur Landtagswahl
Katja Wolf kam bei der Bildungspolitik nicht zur Sprache. "Sehr schade, gerade bei einer neuen Partei will man hören, was sie für Positionen vertreten", sagte Alexander Gröschner. Bildrechte: MDR/Jens Borghardt

Insgesamt sei es schade, dass Bildungspolitik in Thüringen scheinbar nur anhand der Frage diskutiert werde, wie der Unterrichtsausfall in den Griff zu bekommen sei, resümierte Gröschner. "Die Themen Seiteneinsteiger, Hochschul-Finanzierung, berufliche Bildung haben keine Rolle gespielt. Mir fehlten auch Aussagen dazu, wie die Politik auf die sich verändernden Anforderungen des Lehrerberufs mit Fort- und Weiterbildungsangebote reagieren will."

Hinweis: Da wir zur Spitzenkandidatenrunde im MDR mehrere Beiträge veröffentlicht haben und dazu eine sinnvolle Diskussion bei einer stringenten Moderation ermöglichen wollen, ist zu diesem Thema nur der Beitrag "Voigt an Höcke: 'Sie reden nur und Sie handeln nie!'" kommentierbar.

MDR (ask)

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Fakt ist! Extra | 15. August 2024 | 20:15 Uhr

Mehr aus Thüringen