WanderausstellungWiedervereinigung im Rückblick: Wir sind noch nicht am Wende-Ende
Wie blicken ostdeutsche Zeitzeugen heute auf ihre Erfahrungen in den Wende-Jahren nach dem Ende der DDR ab 1990? Das zeigt eine Ausstellung, für die Wissenschaftler Dutzende Menschen ausführlich befragt haben. Die Schau tourt in den kommenden Monaten durch mehrere Städte in Thüringen und Sachsen. Am 8. April beginnt sie in Apolda.
- Die Wanderausstellung "Ist die Wende zu Ende?" von Wissenschaftlern des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt befasst sich mit Erfahrungen aus der Wende-Zeit.
- Die Ausstellung war zunächst im brandenburgischen Spremberg zu sehen, nun kommt sie auch nach Thüringen und Sachsen.
- Die Schau versteht sich als Erinnerungswerkstatt, die zu Gesprächen anregen soll.
"Die Wende ist noch nicht zu Ende! Sie setzt sich in den Köpfen der Menschen und in den Verhältnissen fort", kommentiert Bergbauingenieur Steffen Schallert die Eröffnung der Ausstellung "Ist die Wende zu Ende" in Spremberg. "Es hätte noch schlimmer kommen können", sagt der Rentner, der nach 1990 in Arbeitsamt und Jobcenter wechselte, um die gröbsten Folgen von schlagartigem Wechsel in die Marktwirtschaft, Treuhand-Ausverkauf, Deindustrialisierung und Elitenwechsel im Beitrittsgebiet zu mildern.
Viele persönliche Erfahrungen
Seine Erfahrungen finden sich in der Dokumentation von 45 ausführlichen Interviews der Ausstellung ebenso wieder wie die von "Wendegewinnern". Positive Erlebnisse wie Krisenbewältigung im Sinne des Modewortes Selbstermächtigung kamen einzelnen Besuchern sogar zu kurz. In jedem Fall aber bot schon die Vernissage in einem leerstehenden Ladenlokal der Spremberger Altstadt eine Vorstellung auf die gesprächsanregende Wirkung der Ausstellung.
Ab April auch in den mitteldeutschen Wahlländern
Bis in den September des "Schicksalswahljahres" 2024 hinein wird sie durch die drei ostdeutschen Wahlländer Brandenburg, Sachsen und Thüringen touren. Sie spiegelt authentische, widersprüchliche Erfahrungsberichte der frühen 90er-Jahre aus Ostdeutschland. Hinter dem Projekt stecken zwei promovierte Wissenschaftler am Standort TU Berlin des dezentralen Forschungsinstituts gesellschaftlicher Zusammenhalt. Der Historiker Felix Axster und der Kulturwissenschaftler Matthias Berek begannen schon vor Corona-Zeiten mit Interviews, sammelten 4.500 Minuten Audiomaterial von 45 Personen. Klassische "Oral History", wie Felix Axster bestätigt.
Keine Wende-Mainstream-Erzählung
Begonnen hatten sie mit den legendären Kalikumpeln von Bischofferode im Eichsfeld, die sich mit einem Hungerstreik unter Tage gegen die Schließung ihres Schachtes zugunsten der westdeutschen Konkurrenz wehrten. Matthias Berek räumt ein, dass man vom "Master Narrative", vom Mainstream der Siegererzählung der deutschen Wiedervereinigung, abweiche. Also über das offiziell meistgepflegte Bild der "blühenden Landschaften" hinausgehe. Dabei kommt es beiden Autoren entscheidend auf die Breite und Vielfalt der Erfahrungen an.
Ungewöhnlich ist auch die Konzentration auf bestimmte Bevölkerungsgruppen. Die Forscher haben den Akzent auf Engagierte in Sozial- und Arbeitskämpfen, auf das Schicksal ehemaliger DDR-Vertragsarbeiter vor allem aus Vietnam oder Afrika, auf linke Alternativvorstellungen zum Beitritt und auf die jüdische Perspektive gelegt.
Eher schlichtes Ausstellungsdesign
Optisch mutet die Ausstellung nicht sensationell an. Klassische Holzaufsteller heben in blau, gelb und grün markante Zitate aus Interviews hervor, die man in gekürzter und geschnittener Form per Kopfhörer nachhören kann. Ausgelegte Postkarten, die nach Hoffnungen, Ohnmachtsgefühlen oder erfolgreichen Veränderungserfahrungen fragen, sollen den Inhalt der Ausstellung über die kommenden Monate dynamisch verändern. Die Ergebnisse dieser fortgesetzten Befragung während der Präsentation sammelt die zeitgleich eröffnete retrospektive Sonderausstellung "VEB Museum" des Dresdner Hygienemuseums.
Einladung zu fortgesetzten Gesprächen
Ein bunter Kiosk draußen, eingerichtet von den beiden Performern Anna Stiede und Hans Narva, befördert die Kommunikation der Besucher zusätzlich. Zur Vernissage gab es Borschtsch und Getränke. Die Gespräche spiegelten die Vielfalt der Erfahrungen und Sichtweisen wider. Einige zogen aber eine gerade Linie von den Traumata und gebrochenen Biografien der 90er-Jahre zur heutigen Popularität destruktiver Mecker- und Racheparteien.
Auf eine Einmischung in das Wahljahr 2024 hatten es die beiden Ideengeber ursprünglich gar nicht abgesehen. Man könne aber die Parallele ziehen, dass ein AfD-Erfolg nicht unvermeidlich und schicksalhaft sei, sondern wie damals auch Selbstermächtigung und positives Engagement möglich seien, sagen Axster und Berek.
Angaben zur Wanderausstellung
"Ist die Wende zu Ende?"
Termine und Stationen der Ausstellung in Thüringen, Sachsen und Brandenburg:
9. bis 28. März 2024: Spremberg (Lange Str. 21)
8. bis 27. April 2024: Apolda
2. bis 25. Mai 2024: Nordhausen
10. Juni bis 7. Juli 2024: Bautzen
7. August bis 1. September 2024: Freital
5. bis 20. September 2024: Strausberg
Redaktionelle Bearbeitung: hki
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Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | 12. März 2024 | 07:10 Uhr