10 Jahre Bundesfreiwilligendienst Wie ein Cineast zum Sozialarbeiter für Geflüchtete wurde

01. Juli 2021, 12:54 Uhr

Jedes Jahr leisten in Thüringen im Schnitt etwa 2.000 Menschen einen Bundesfreiwilligendienst. Zu ihnen zählte 2015/16 auch Ansgar Skulme. Der studierte Filmwissenschaftler half als "Bufdi" in einer Notunterkunft für Geflüchtete. Auf dem Erfurter Drosselberg arbeitet er heute als Sozialbetreuer, obwohl er andere Pläne für sein Leben hatte. Er blieb aus einem einfachen Grund: Wertschätzung.

"Damals habe ich das Bild von dem kleinen Jungen gesehen, der da tot am Strand gelegen hat. Das war ein Auslöser", erinnert sich Ansgar Skulme. Er meint das Bild von Alan Kurdi, dem zwei Jahre alten Jungen im roten T-Shirt, der 2015 im Mittelmeer ertrunken ist und zur Bildikone der sogenannten Flüchtlingskrise wurde. "Ich war traurig und wütend darüber und wollte etwas tun - zumindest für die Menschen, die schon hier sind", erzählt Skulme weiter.

Als sich der damals 27-Jährige zum Bundesfreiwilligendienst (BFD) meldete, ahnte er noch nicht, dass sein Leben gerade eine neue Richtung eingeschlagen hatte. Denn geplant waren die sechs Monate als Übergangsphase. Der begeisterte Cineast hatte 2015 sein Studium der Filmwissenschaften an der Universität Jena mit einem Master abgeschlossen. Ein Job in der Filmindustrie, vielleicht in Berlin – das war der Traum.

Notunterkunft auf dem Drosselberg

Statt umringt von Fotografen auf dem roten Teppich der Berlinale, fand sich Skulme mit Beginn seines Freiwilligendienstes in einer Turnhalle auf dem Erfurter Drosselberg wieder – umringt von wildgestikulierenden Syrern und Irakern. 50 Geflüchtete kamen damals in der leerstehenden Turnhalle in der Albert-Einstein-Straße unter. Jeder und jede davon hatte eigene Probleme, die trotz Sprachbarriere irgendwie gelöst werden mussten. "Die Kunst war es, sich gescheit mit Händen und Füßen zu verständigen. Mimik, Gestik, Schlagworte - sowas kann sehr hilfreich sein. Und vor allem Emotionen zeigen", erinnert sich Skulme.

Diese Wochen und Monate im Herbst 2015, als die Krise ihren Höhepunkt erreichte, verliefen in den Notunterkünften ziemlich wild. Skulme machte, was immer gerade notwendig war: Er koordinierte das Zusammenleben in der Turnhalle, vermittelte bei Meinungsverschiedenheiten, erklärte den Geflüchteten ihre Antragsformulare und begleitete sie zu den Ämtern. Er organisierte die Essenausgabe, verteilte Kleiderspenden und half, wo immer er gebraucht wurde. "Ich persönlich mag diese Form der sozialen Arbeit, die so improvisiert ist. Da haben dann eben mal die Securities den Menschen beim Deutschlernen geholfen. Und das sind so Momente, die sich einem einprägen", sagt Skulme.

Wie aus sechs Monaten, sechs Jahre wurden

Seinen Bundesfreiwilligendienst absolvierte Ansgar Skulme beim Deutschen Familienverband, der seit vielen Jahren im Erfurter Südosten Sozialarbeit leistet. 2015 übernahm der Verband die Betreuung von zwei Unterkünften für Geflüchtete am Drosselberg, erzählt Susanne Zwiebler, die Geschäftsführerin des Deutschen Familienverband Thüringen e.V. Als die Notunterkunft in der Turnhalle nach wenigen Monaten wieder geschlossen wurde, wechselte Skulme in ein neues Objekt im Färberwaidweg und danach zurück in das Heim in der Carl-Zeiß-Straße, nahe der ehemaligen Notunterkunft.

"Ansgar war in der Flüchtlingskrise als Bufdi von Anfang an dabei und war uns in dieser turbulenten Zeit eine große Hilfe", sagt Zwiebler, die ihn nach seinem BFD fest als Sozialbetreuer engagierte. "So gute Leute muss man versuchen zu halten: Er ist offen, freundlich, hat eine ruhige Ausstrahlung und seine Statur wirkt deeskalierend. Da wir bis dahin zwei Frauen als Sozialarbeiterinnen in der Einrichtung hatten, war er die perfekte Verstärkung", so Zwiebler.

Sechs Jahre ist das her. Skulme ist inzwischen der dienstälteste Mitarbeiter in der Carl-Zeiß-Straße und hat nebenbei diverse Weiterbildungen absolviert. Er hilft bei Problemen, schlichtet Streitigkeiten, organisiert Playstation- und Filmabende und kümmert sich um die Verwaltung. "Die Wertschätzung, die ich hier erfahre, ist der Grund, warum aus den sechs Monaten sechs Jahre geworden sind", sagt Skulme und meint damit sowohl die Geflüchteten als auch die Kollegen beim Familienverband.

BFD in Thüringen und bundesweit rückläufig

Die Zeit als Bundesfreiwilliger beschreiben viele Ehemalige als prägend. "Der BFD muss nichts, kann aber ganz vieles", sagt Andrea Büßer von der Paritätischen Buntstiftung, die in Thüringen als einer von etwa zwei Dutzend Sozialträgern für den Bundesfreiwilligendienst fungiert. Engagement und Persönlichkeitsentwicklung stehen beim BFD viel mehr im Mittelpunkt als früher beim Zivildienst, der vor allem eine Unterstützung fürs Sozialsystem darstellte. Heute haben die Freiwilligen einen Ansprechpartner und können monatlich ein bis zwei Seminare belegen, um sich fortzubilden. "Jüngere Menschen nutzen den BFD als Orientierungsphase, aber es gibt auch 70-jährige Rentner, die Zuhause nicht stillsitzen können und damit noch etwas Sinnvolles tun wollen", sagt Büßer.

Obwohl sich der BFD seit 2011 längst etabliert hat, ist die Zahl der Freiwilligen bundesweit eher rückläufig. Grund dafür sind die vielen offenen Stellen auf dem Arbeitsmarkt und der demografische Wandel. Trotzdem haben rund 400.000 Menschen in den vergangenen zehn Jahren den Dienst absolviert. In Thüringen waren es mehr als 20.000. Da die Freiwilligendienste zwischen sechs und maximal 24 Monate dauern, führt das Bundesamt für Familien und zivilgesellschaftliche Aufgaben in Köln keine Jahresstatistik in absoluten Zahlen. Stattdessen messen sie die Entwicklung in Thüringen im Durchschnitt.

Auch wenn die Zahl der Bufdis insgesamt sinkt, so gibt es doch immer wieder Freiwillige, die in der Carl-Zeiß-Straße helfen. "Manche von ihnen haben hier selbst einmal gewohnt", sagt Skulme. Denn der Bundesfreiwilligendienst ist auch für Ausländer möglich, wenn "sie über einen Aufenthaltstitel verfügen, der sie zur Erwerbstätigkeit berechtigt", wie es auf der Seite des Bundesamtes für zivilgesellschaftliche Aufgaben heißt.

Corona hat Sozialarbeit zusätzlich erschwert

Nichtsdestotrotz ist die Arbeit in einer Unterkunft für Geflüchtete nicht immer leicht. Sozialarbeiter werden nicht selten als verlängerter Arm des Staates wahrgenommen und sind deshalb oft Blitzableiter für den Groll und die Unzufriedenheit der Geflüchteten. Wenn in irgendeiner Behörde Antragsverfahren verschleppt werden, baden das meist die Sozialarbeiter aus. Nicht alle halten dieser Belastung stand, doch Ansgar Skulme hat eine bemerkenswerte Resilienz: "Ich habe früher nebenher als Einlasser und Türsteher in einer Bar gearbeitet, das hilft. Gegen die Situationen, die man abends im Club erlebt, sind Geflüchtetenunterkünfte relativ harmlos", so Skulme.

Was dem 1,90m-Hünen hingegen ernsthaft zugesetzt hat, ist die Corona-Pandemie, mit all ihren Einschränkungen. Zum einen sei es schwierig gewesen, den Bewohnern zu erklären, warum die Hygieneregeln einzuhalten seien: "Corona ist als Gefahr schwer zu vermitteln, wenn du hier mit Menschen sprichst, die Krieg erlebt haben. Da fehlt dann einfach das Verhältnis." Zum anderen fehlten in den letzten 15 Monaten Ablenkung und Erfolgserlebnisse. Persönlich vermisste Skulme vor allem das Verreisen und die Arbeit an seinem Herzensprojekt: dem FC Carl Zeiss Erfurt – benannt nach der Straße, in der man die Unterkunft in Erfurt findet.

Das Fußballteam der Heimbewohner gewann bei Integrations-Fußballturnieren mehrere Pokale und ist ein wichtiger Bestandteil der Integrationsarbeit. "Wir haben mit Carl Zeiss Erfurt viele Turniere gespielt, waren sogar in Leipzig, Hamburg und Berlin. Solche Ausflüge waren echte Highlights für das ganze Haus", sagt Skulme. "Du hast einen ganz anderen Zusammenhalt im Haus, wenn da 20 Leute dabei sind, die auf dem Platz zusammen Fußball spielen." Doch auch hier ist der heute 33-Jährige inzwischen wieder zuversichtlich, dass es bald aufwärtsgeht. Die ersten Turniere stehen im August und September an. "Jetzt müssen wir nur noch die Mannschaft neu zusammenwürfeln."

Quelle: MDR/ask

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Fazit vom Tag | 01. Juli 2021 | 18:05 Uhr

3 Kommentare

MDR-Team am 01.07.2021

Im Grunde genommen sind es vier: Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ), Freiwilliges Ökologisches Jahr (FÖJ), Internationale Jugendfreiwilligendienst (IJFD), Bundesfreiwilligendienst (BFD).

Der Freiwillige Wehrdienst (FDW) ließe sich als militärische Alternative hinzuzählen. In Baden-Württemberg, Bayern, Hessen und Sachsen gibt es einen Freiwilligen Polizeidienst.

nicht vergessen am 01.07.2021

Können wir in Thr.auch einführen,genug ehemalige IM gibt es ja hier.Oder ?

kleinerfrontkaempfer am 01.07.2021

Wieviele und welche Freiwilligendienste gibt es inzwischen?
Wer hat da genau den Überblick? Hoffentlich der MDR.

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