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Organisierte KriminalitätEncrochat-Prozess in Erfurt: Verteidigung will Verfahren aussetzen

03. November 2022, 14:41 Uhr

Es dürfte eines der bisher größten Drogenverfahren in Thüringen werden - die Angeklagten sollen kiloweise Marihuana, Crystal Meth oder Kokain in Thüringen verkauft haben. Aufgeflogen waren sie, als Daten von geknackten Kryptohandys über das Bundeskriminalamt an das Thüringer Landeskriminalamt gegeben wurden. Sie stammen vom Server der Firma Encrochat, einem Anbieter für verschlüsselte Mobiltelefone, der von der Polizei lahmgelegt wurde. Bei der Datenauswertung entdeckte das LKA die Bande.

von Ludwig Kendzia und Axel Hemmerling, MDR THÜRINGEN

Im Drogenprozess vor dem Erfurter Landgericht hat die Verteidigung die Aussetzung des Verfahrens beantragt. Zuvor solle der Europäische Gerichtshof darüber entscheiden, ob die Daten der geknackten Kryptohandys verwertet werden dürfen.

Fünf Männer müssen sich seit Donnerstag vor dem Landgericht Erfurt verantworten. Sie sollen mindestens 500 Kilogramm Drogen verkauft haben - Wert: mehr als drei Millionen Euro. Die beiden Hauptangeklagten beschäftigten die Polizei schon seit Jahren. Geknackte Kryptohandys brachten nun die lange gesuchten Beweise.

Die Brüder Martin und Christian U. waren bestens vernetzt. Wenn die hoch spezialisierten LKA-Ermittler zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität (OK) Recht haben, hatten die beiden Männer nahezu in allen großen kriminellen Geschäften ihre Finger im Spiel.

So sollen sie und ihre Kumpanen nicht nur das rechtsextreme Drogenkartell der "Turonen" mit Rauschgift versorgt haben, auch kooperierten sie mit der sogenannten Armenischen Mafia in Erfurt. Immer wieder tauchten die Brüder bei den Ermittlungen auf - nur selten fanden sich belastbare Beweise für die Schwarzmarktgeschäfte.

Daten aus geknackten Kryptohandys

Dann kamen die Daten aus den geknackten Kryptohandys der Firma Encrochat. Der französischen Polizei war ein unerwarteter Coup gelungen. Scheinbar sichere Kommunikationswege entschlüsselten die Beamten und stellten gigantische Datenmengen sicher, von denen die Sicherheitsbehörden der ganzen Welt profitierten. Enrcochat wurde vor allem von Schwerkriminellen genutzt: das "WhatsApp der Gangster".

Auch die Brüder U. sollen sich hier ausgetauscht haben: Drogen kaufen, Drogen verkaufen. Marihuana, Kokain, Cyrstal Meth. Zehn Kilogramm pro Woche. Auch Maschinenpistolen sollen sie verkauft haben. Insgesamt, rechneten die Ermittler, verdienten sie so mehr als drei Millionen Euro - eher mehr. Es sei nur die Spitze des Eisberges, sagt ein OK-Ermittler.

Für Lagerung und Transport der Drogen zuständig

Die drei Mitangeklagten waren - so die Anklage der Staatsanwaltschaft Gera - vor allem für die Lagerung und den Transport der Drogen verantwortlich. Einer von ihnen - Michael W. - arbeitete offiziell in einem Pflegeheim, ein anderer - Christian B. - war Zeitsoldat der Bundeswehr in Thüringen. Der dritte - Dominik W. - hat offenbar eine beachtliche Milieu-Karriere hinter sich: als Neonazi im Umfeld der Erfurter NPD, als Mitglied der "Garde 81", dem Unterstützerclub der Erfurter "Hells Angels", bis hin zu mutmaßlichen Handlangern in einem Drogennetzwerk.

Die beiden Brüder traten zuletzt im Oktober 2017 öffentlich in Erscheinung. Damals überfiel ein Rollkommando ein armenisches Restaurant mitten in der Erfurter Altstadt. Bis heute sind die Hintergründe nicht klar.

Konflikt zweier verfeindeter Familien vermutet

Die Ermittler vermuten die Gründe in einem Konflikt zweier verfeindeter Familien, die der Armenischen Mafia oder deren Umfeld zugerechnet werden. Martin U. soll damals Regie beim Überfall geführt haben - wirklich bewiesen wurde es ihm nicht. Gut zwei Jahre später wurden er und sein Bruder verurteilt. Das Urteil ist noch immer nicht rechtskräftig.

Schon 2014 - als sich zwei verfeindete armenische Clans eine Schießerei im Erfurter Norden lieferten - tauchten die Brüder U. auf. Einem von beiden soll die Halle gehört haben, in dem sich eine Spielothek befand, der von einem Armenier betrieben wurde. Hier hatten sich die beiden Clans getroffen, was in der Schießerei eskalierte.

Immobilien in Erfurt und im Umland gekauft

Überhaupt kaufte vor allem Martin U. eifrig Immobilien in Erfurt und im Umland. Einige der Häuser waren für das Rotlicht-Milieu vorgesehen, andere dienten der Geldwäsche - sagen die Ermittler. Nur das Handwerk konnten sie den beiden Brüdern nie endgültig legen. Bis Encrochat.

Nun liegt es bei der vierten Strafkammer des Landgerichts Erfurt: Schon einmal war der Prozess gegen die Brüder und ihre Helfer geplatzt. Das Landgericht konnte - trotz Vorwarnung von Staatsanwaltschaft und Polizei - keinen geeigneten Verhandlungssaal organisieren. Nur viel Glück und noch laufende Strafen verhinderten, dass die Angeklagten wieder aus der Untersuchungshaft kamen.

Dealer der Neonazis?

Im Februar 2021 flog die rechtsextreme "Bruderschaft Thüringen", die sich als "Turonen" beziehungsweise "Garde 20" dem organisierten Drogenhandel verschrieben hatte, auf.

Nur zwei Monate später, Anfang Mai 2021, zerschlug das Landeskriminalamt auch die mutmaßliche Lieferantenebene der dealenden Neonazis: die Brüder U. und ihre Helfershelfer. Damals sicherten die Ermittler bei ihnen rund 2,5 Millionen Euro.

Auch die Neonazis benutzten Kryptohandys für ihre Drogengeschäfte. Aber nicht nur Encrochat - auch Anbieter wie SkyECC oder Anom wurden genutzt. Das als sicher geltende SkyECC wurde ebenfalls von der Polizei gehackt, hinter Anom verbarg sich gleich das amerikanische FBI.

So konnten die Amerikaner live mitlesen, als Schwerkriminelle auf der ganzen Welt ungeniert über Morde, Erpressungen oder eben Drogenlieferungen sprachen. Neben den mutmaßlichen Neonazi-Dealern nutzen allein in Thüringen insgesamt 34 Kriminelle Anom und 29 Krypothandys von SkyECC.

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MDR (co)

Dieses Thema im Programm:MDR THÜRINGEN - Das Radio | Nachrichten | 03. November 2022 | 08:00 Uhr