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Justiz"So viel Versagen habe ich noch nicht erlebt": Prozess um misshandelte Dreijährige

09. November 2023, 22:11 Uhr

- Triggerwarnung: Dieser Text enthält drastische Schilderungen. - Nach einer langen Verhandlung am Erfurter Landgericht ist ein 34-Jähriger wegen der Misshandlung eines dreijährigen Mädchens zu mehreren Jahren Haft verurteilt worden. Der Mann hatte dem Kind Wirbel gebrochen, Hämatome zugefügt und Haare ausgerissen. Auch wegen des Vorwurfes des sexuellen Missbrauchs stand der Mann vor Gericht. Das Kind habe die Hölle erlebt, sagt die Richterin. Sie spricht vom Versagen von Behörde und Ärzten.

von Cornelia Hartmann, MDR THÜRINGEN

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35 Jahre mache sie schon diesen Job, sagte die Vorsitzende Richterin, einen solchen Fall aber habe sie noch nie erlebt. Passieren konnte er, weil viele Menschen keine Verantwortung für ihr Tun übernommen hätten.

Es geht um ein dreieinhalbjähriges Mädchen. Dessen leiblicher Vater ein verurteilter Sexualstraftäter ist, ebenso wie der Großvater. Dessen Mutter keine verlässlichen Bindungen eingehen kann. Das früh ein Fall fürs Jugendamt wurde, weil der Verdacht auf sexuellen Missbrauch bestand. Das Kind hatte Angst vor Männern, sagte "Opa, aua" und wurde schon als Zweijährige vom Kinderschutzdienst betreut.

Dann traf die Mutter in der Straßenbahn auf den Angeklagten, er gefiel ihr, sie steckte ihm ihre Handynummer zu. Der 34-Jährige, ohne Ausbildung, ohne Job, ohne Kontakt zu seinen eigenen vier Kindern, bot der Mutter dann an, das Kind wegen seiner Angst vor Männern zu "therapieren".

Das Erfurter Landgericht verhandelte lange und konnte trotzdem nicht alles aufklären. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Mutter bringt Tochter immer wieder zum Angeklagten

Die Kinderschutzorganisation informierte das Jugendamt, das Mutter und Kind nicht mehr kamen, möglicherweise sei ein Mitarbeiter auch noch mal bei der Mutter gewesen, mehr sei nicht passiert, so die Vorsitzende. 

Was das Kind im Mai 2020 erlebte, war die Hölle, hieß es wörtlich im Urteil. Die Mutter brachte die Dreijährige immer wieder zum Angeklagten. Obwohl sie dabei war, wie der das Spielzeug des Mädchens seinem Hund vorwarf, weil das Kind nicht machte, was er wollte.

Obwohl er das Kind bei laufender Handykamera zwang, die Worte "Kinderficker" und "Schwanzlutscher" auszusprechen - wegen des Großvaters. Obwohl der Angeklagte der Mutter schrieb, sie müsse ihre Tochter öfter "verwamsen" und "ordentlich in die Fresse hauen". Und obwohl sie nach den ersten Tagen, die das Kind beim Angeklagten verbrachte, schon Verletzungen feststellte.

Erst Blut im Schlüpfer bringt Mutter zu Krankenhausbesuch

Erst als sie Ende Mai Blut im Schlüpfer des Kindes feststellte, ging die Mutter ins Krankenhaus. Die Verletzungen sind dokumentiert, die Richterin zählte sie in allen Einzelheiten auf, die man hier nicht so genau wiedergeben möchte.

Mehrere Wirbel waren gebrochen, das Kind konnte nicht mehr laufen, Po und Gesicht waren übersät mit Hämatomen, alte und neue. Auf einer Kopfseite fehlten die Haare, sie waren mit solcher Wucht großflächig herausgerissen worden, dass die Kopfschwarte verletzt war. Und es gab eine Riss-Quetsch-Verletzung im Analbereich.

So viel grobes Versagen habe ich in meinem ganzen Berufsleben noch nicht erlebt.

Vorsitzende Richterin des Erfurter Landgerichts

Vorwürfe gegen behandelnde Ärzte: Ignoranz und fehlende Verantwortung

Die behandelnden Ärzte wurden als Zeugen gehört. Und obwohl sich alle an den Fall erinnerten, weil er so schlimm gewesen sei, habe keiner die Polizei informiert, so die Vorsitzende im Urteil. Sie sprach von Ignoranz, fehlender Verantwortung und groben ärztlichen Fehlern. So war die Verletzung im Intimbereich nicht ausreichend untersucht worden.

Zwar sei die Kinderschutzambulanz der Klinik informiert worden, doch da sei erst am nächsten Tag jemand vorbeigekommen. In der Zwischenzeit sei die Mutter stundenlang beim Kind gewesen. Diese habe sich zwar nur für ihr Handy interessiert, dennoch könne sie das Kind beeinflusst haben.

Und dann sei nachts auch noch der vorbestrafte Großvater vorbeigekommen, weil er im Reinigungsdienst des Klinikums arbeitete. Als dann 24 Stunden später die Polizei eingeschaltet wurde, gab es keine Täter-Spuren mehr.

Nach dem Klinikaufenthalt sei das Kind zu einer Pflegemutter gekommen, die mit der Situation völlig überlastet war und keine Hilfe vom Jugendamt bekam. Das Kind hätte dringend in einer Traumaklinik untergebracht werden müssen, so die Richterin. "So viel grobes Versagen habe ich in meinem ganzen Berufsleben noch nicht erlebt", sagte sie auch an dieser Stelle der Urteilsbegründung.

Angeklagter wird zu mehreren Jahren Haft verurteilt

Wegen Misshandlung eines schutzbefohlenen Kindes wurde der 34-Jährige vom Erfurter Landgericht am Donnerstag zu vier Jahren und elf Monaten Haft verurteilt. Dreieinhalb Jahre hat er schon abgesessen, weil das Verfahren schon lange läuft. Den mitangeklagten Missbrauch sei dem Mann nicht nachzuweisen, so das Urteil.

Das war in einem ersten Prozess noch anders. Damals wurde der 34-Jährige zu acht Jahren und neun Monaten Haft verurteilt. Das hatte der Bundesgerichtshof (BGH) aufgehoben. Die Beweise für den Missbrauch seien zu dürftig. Und das blieben sie auch in dem neuen Verfahren.

Mädchen leidet an Bindungsstörung

Wegen der gebrochenen Wirbel musste das Kind monatelang ein Korsett tragen. Die körperlichen Verletzungen sind verheilt, das Mädchen leidet jedoch an einer Bindungsstörung. Das könne man nicht dem Angeklagten anlasten, sagte die Vorsitzende gegen Ende der ausführlichen Urteilsbegründung. Das sei die Schuld der Mutter, die ihre Tochter nicht vor dem schützte, was der Angeklagte der Dreieinhalbjährigen antat. 

Zu hören, welche Verletzungen das kleine Mädchen erlitt, tut weh. Welche Schmerzen das Kind erlitten hat - das ist kaum vorstellbar.

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MDR (ost/jn)

Dieses Thema im Programm:MDR THÜRINGEN | MDR THÜRINGEN JOURNAL | 09. November 2023 | 19:00 Uhr