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Nach Brandbrief an die Geschäftsführung"Lächerlich" und "indiskutabel": Pflegekräfte empört vom Angebot des Helios-Klinikums in Erfurt

17. Juni 2022, 05:00 Uhr

Nach dem Brandbrief eines Pflegers hat die Geschäftsführung des Helios-Klinikums Erfurt einen Vorschlag für Ausgleichszahlungen gemacht. Es geht um das "Holen aus dem Frei", also um den kurzfristigen Ruf zum Dienst für Beschäftigte, die nicht arbeiten. Doch statt die Wut der Pflegekräfte zu mindern, empfinden viele das Angebot als "lächerlich" und "indiskutabel". Während sich der Geschäftsführer nur schriftlich äußert, sprechen Pfleger offen über die Missstände.

von Andreas Kehrer, MDR THÜRINGEN

Das Erfurter Helios-Klinikum hat auf die Forderungen des Pflegepersonals zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen reagiert und ein erstes Angebot vorgelegt. Das hat die Verhandlungsgruppe des Betriebsrates MDR THÜRINGEN bestätigt. Jedoch sei das Angebot "indiskutabel", sagte ein Mitglied der Verhandlungsgruppe. Der Betriebsrat werde nun ein Gegenangebot erarbeiten, das dem Anliegen der Belegschaft gerecht werde.

Ultimatum von Helios-Pflegekräften auf Eis

Vorausgegangen war den Verhandlungen ein von 300 Pflegerinnen und Pflegern unterschriebener Brief an die Geschäftsleitung, in dem ein angemessener Ausgleich für kurzfristige Dienstplanänderungen, für Unterbesetzung und für das sogenannte "Holen aus dem Frei" gefordert wurde. Dabei geht es nicht zwangsläufig um Prämien, sondern vor allem um Zeitgutschriften und eine allgemeine Entlastung für die Belegschaft.

Das mit dem Brief verbundene Ultimatum, dass Pflegekräfte ab dem 1. Juni nicht mehr für ausfallende Kollegen einspringen würden, liegt durch die begonnene Verhandlung auf Eis. Laut Betriebsrat sei es ohnehin fraglich, ob sich genügend Pflegekräfte dazu durchringen könnten, es umzusetzen, weil niemand seine Kollegen im Stich lassen will.

Pfleger: "Was das Helios-Klinikum bietet, ist lächerlich"

Die Verhandlungen selbst stehen zunächst unter keinem guten Stern, denn das Angebot der Geschäftsführung gießt noch mehr Öl ins sprichwörtliche Feuer. Der Pfleger Christian Lühmann, der mit seinem Brief und der Unterschriftenliste den Stein ins Rollen brachte, nennt das Angebot einen "schlechten Witz": "Was das Helios-Klinikum hier bietet, ist lächerlich. Einerseits weil wir vor allem einen Freizeitausgleich fordern, anderseits weil das Geld, das uns die Klinik bietet, an anderen Standorten um ein Vielfaches höher liegt", sagt Lühmann und verweist auf die Helios-Kliniken in Salzgitter und Warburg.

Vergleich der Ausgleichszahlung in Warburg, Salzgitter und Erfurt
Zulage bei WarburgSalzgitterErfurt (bisher/Angebot)
Arbeit im Springerpool1.000 € je Monat*850 € je Monat100 € pro Monat / 100 € pro Monat
Schichtwechsel20 € je Schicht20 € je Schichtkeine/keine
Stationswechselkeine50 € je Schichtkeine/keine
Einspringen im Bereitschaftsdienst80 € je Schicht + 20 € am WE/Feiertag125 € je Schichtkeine/keine
Einspringen bei Rufbereitschaft45 € je Schicht + 20 € wenn aktiv45 € je Schichtkeine/keine
"Holen aus dem Frei"80 € je Schicht + 20 € am WE/Feiertag + 70 € bei Nachtdienst125 € je Schichtkeine / 47 € pro Schicht + 41 € am WE/Feiertag + 31 € bei Nachtschicht
Arbeit auf unterbesetzter Stationkeinekeinekeine/keine

*brutto
Quellen: Betriebsvereinbarung am Helios-Klinikum Salzgitter (Stand 2020), Betriebsvereinbarung am Helios-Klinikum Warburg (Stand 2021), Angebot Erfurter Helios-Klinikum (Stand 1. Juni 2022)

Springerpool, Bereitschaftsdienst, Holen aus dem Frei – was ist das?

Krankenhäuser beschäftigen Pfleger und Pflegerinnen nicht nur auf festen Stationen, sondern auch in sogenannten "Pools". Pool-Mitarbeitende werden in Früh-, Tag- und Nachtschicht eingeteilt und kommen dann auf wechselnden Stationen zum Einsatz. Sie sind die regulären Springer einer Klinik, die bei Ausfällen oder Unterbesetzung zuerst angefragt werden. Bereitschaftsdienst und Rufbereitschaft unterscheiden sich dadurch, dass die Bereitschaft zur Arbeit vor Ort oder an einem Ort der Wahl (Rufbereitschaft) geleistet wird. "Holen aus dem Frei" bedeutet, dass eine Pflegekraft eine Schicht übernimmt, obwohl sie an diesem Tag für keinen Dienst vorgesehen war.

Anders als Salzgitter und Warburg ist das Klinikum in Erfurt eines von sieben Krankenhäusern der Maximalversorgung in der Helios-Unternehmensgruppe. Der Konzern betreibt nach eigenen Angaben insgesamt 89 Kliniken in Deutschland, davon sechs in Thüringen. "Unsere Klinik brüstet sich damit, Maximalversorger zu sein, und vergleicht sich deshalb gern mit dem Uniklinikum in Jena", führt Lühmann aus. "Doch Jena hat längst eine Ausgleichsregelung, wie wir sie fordern."

Unsere Klinik brüstet sich damit, Maximalversorger zu sein, und vergleicht sich deshalb gern mit dem Uniklinikum in Jena. Doch Jena hat längst eine Ausgleichsregelung, wie wir sie fordern.

Christian Lühmann, Pfleger am Helios Klinikum Erfurt

Geschäftsführung sieht "grundsätzliche Einigkeit"

Mit seinen Ausführungen widerspricht Pfleger Lühmann der Geschäftsführung, die in einer schriftlichen Stellungnahme an MDR THÜRINGEN am 13. Mai noch erklärte, dass "im von Ihnen angefragten Themenkomplex" eine "grundsätzliche Einigkeit" herrsche. Weiter heißt es: "Wir pflegen ein respektvolles Miteinander, eine transparente, offene Gesprächskultur und bringen unermüdlich unsere Wertschätzung zum Ausdruck."

Wir pflegen ein respektvolles Miteinander, eine transparente, offene Gesprächskultur und bringen unermüdlich unsere Wertschätzung zum Ausdruck.

Schriftliche Stellungnahme des Helios Klinikums vom 13. Mai

Wie ein als "lächerlich" und "indiskutabel" empfundenes Angebot Respekt und Wertschätzung für die Pflegekräfte ausdrücken und wo genau eine "grundsätzliche Einigkeit" bestehen soll, beantwortet die Klinikleitung auf Nachfrage von MDR THÜRINGEN nicht. "Verhandlungen zu Betriebsvereinbarungen führen wir mit dem Betriebsrat ausschließlich in interner Runde und nicht öffentlich", heißt es in einer schriftlichen Stellungnahme. An diese allgemein gültige Regel habe sich das Klinikum auch bei der Beantwortung eines Fragenkatalogs gehalten, den die Klinik kurz vor Abschluss der Recherche noch beantwortete. Eine erneute Anfrage für ein persönliches Interview lehnte Geschäftsführer Florian Lendholt hingegen ab.

Der Fragenkatalog und alle 17 Antworten von Geschäftsführer Florian Lendholt

  1. Wie erklären Sie sich, dass offenbar große Teile der Pflege-Belegschaft am Helios-Klinikum in Erfurt das ständige „Einspringen müssen“ als große Belastung wahrnehmen? Die übergroße Mehrheit der Beschäftigten im Helios Klinikum Erfurt ist mit den Arbeitsbedingungen zufrieden. Eine Verpflichtung zur Dienstübernahme besteht grundsätzlich nicht. Für das Corona-geprägte Jahr 2021 hat im Helios Klinikum Erfurt im Schnitt jede vierte Pflegekraft einmal im Monat einen zusätzlichen Dienst übernommen.
  2. Im Krankenhaus gibt es einen Pool an Pflegekräften, der eigentlich dazu gedacht ist, dieses Einspringen, aber auch das Holen aus dem Frei zu verhindern. Wie viele Mitarbeiter sind für diesen Pool planmäßig vorgesehen? Wie groß ist dieser Pool aktuell? Wie viele Stationen werden aus diesem Pool bedient? Wie viele Mitarbeiter sind täglich im Pool verfügbar? Aktuell haben wir in unsrem Pool 17 Vollzeitstellen verteilt auf 24 Mitarbeiter:innen. Wir rechnen daher mit etwa zehn Pool-Mitarbeiter:innen pro Tag, die für 48 Stationen als Springer:innen zur Verfügung stehen.
  3. Das Arbeiten auf wechselnden Stationen durch den Pool wird mit einem Bonus von 100 € vergütet. Halten Sie diesen Bonus für angemessen? Die Arbeit im Pool ist freiwillig. Alle Mitarbeiter:innen arbeiten dort gern und das schon über mehrere Jahre hinweg. Bezüglich der Bonuszahlungen führen wir derzeit Gespräche mit dem Betriebsrat.
  4. Wie oft wurden 2021 Überlastungsanzeigen von Pflegern und Pflegerinnen gestellt? Im Schnitt kann man sagen, dass jede Abteilung einmal im Jahr eine Gefährdungsanzeige ausstellt. Wichtiger als die Anzahl ist für uns, dass wir auf jede Anzeige schnell reagieren.
  5. Zum Stellen einer Überlastungsanzeige müssen Mitarbeiter aufwendig dokumentieren, warum sie überlastet sind, welche Aufgaben sie nicht erfüllen können und welche Aufgaben sie stattdessen priorisiert haben. Halten Sie dieses Verfahren für angemessen, um das überlastete Personal schnellstmöglich zu entlasten und die Sicherheit der Patienten tagesaktuell zu gewährleisten? Es handelt sich um ein mit dem Betriebsrat abgestimmtes und auch an anderen Kliniken übliches Vorgehen. Darüber hinaus können sich Mitarbeiter:innen auch auf vielen anderen Wegen an uns wenden.
  6. Des Öfteren soll eine Dokumentation der Überlastungsanzeigen aus technischen Problemen nicht möglich gewesen sein, weil zum Beispiel das Internet/Intranet ausfiel. Wie stellen Sie sicher, dass eine Überlastung zuverlässig dokumentiert werden kann? Das können wir nicht bestätigen. Wenn eine digitale Übertragung nicht möglich ist, können Gefährdungsanzeigen immer auch per Hand geschrieben werden.
  7. Wie oft kommt es vor, dass Stationen unterbesetzt sind? Wie wird das Krankenhaus intern ermittelt? Gemäß der Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung unterzieht sich das Helios Klinikum Erfurt regelmäßigen behördlichen Prüfungen. Verstöße wurden bislang nicht festgestellt, da wir die Vorgaben über das Mindestmaß hinaus einhalten. 
  8. Wie möchten Sie die Patientensicherheit gewährleisten, wenn hunderte Pflegekräfte ihre Drohung wahr machen sollten und nicht mehr einspringen? Wir beschäftigen uns täglich mit der Belegung innerhalb des Klinikums und steuern die Personalbesetzung so, dass die Patientenversorgung stets sichergestellt ist. Dies haben wir auch in der Hochzeit der Coronakrise bewiesen, als die Ausfallzahlen entsprechend hoch waren.
  9. In Ihrer Antwort vom 13. Mai heißt es, dass bei dem in Herrn Lühmanns Brief umrissenen Themenkomplex eine "grundsätzliche Einigkeit" herrsche. Woran machen Sie fest, dass hier eine Einigkeit zwischen Geschäftsführung und Belegschaft besteht? Das Einführen von Prozessen und Ausfallkonzepten ist immer das Ergebnis eines gemeinsamen Verständigungsprozesses zwischen den Mitarbeiter:innen, der Klinikgeschäftsführung und dem Betriebsrat. Hier haben wir dem Betriebsrat ein konkretes Angebot vorgelegt, das wir derzeit verhandeln.
  10. In Ihrer Antwort vom 13. Mai heißt es: "Wir pflegen ein respektvolles Miteinander, eine transparente, offene Gesprächskultur und bringen unermüdlich unsere Wertschätzung zum Ausdruck." Wie soll das von Ihnen am 1. Juni vorgelegte Angebot, dass als "lächerlich" und "indiskutabel" empfunden wird, Respekt und Wertschätzung für die Pflegekräfte ausdrücken? Wir haben dem Betriebsrat ein Angebot vorgelegt, das wir derzeit verhandeln. Ähnliche Modelle haben sich in anderen Helios Kliniken in Thüringen bereits bewährt.
  11. Wie soll es Wertschätzung für Pflegekräfte ausdrücken, wenn ein von 300 Kollegen unterzeichneter Brief, der die allgemeine Unzufriedenheit mit der Arbeitssituation ausdrückt, Monate lang unbeantwortet bleibt und erst am Stichtag des Ultimatums ein Angebot vorgelegt wird, das im Kern an der Forderung der Belegschaft nach mehr Freizeitausgleich vorbeigeht? Die 300 Kolleg:innen, die den Brief unterzeichnet haben, haben damit keine allgemeine Unzufriedenheit geäußert. Sie haben uns mit ihrer Unterschrift ihren Wunsch nach Anerkennung für das Holen aus dem Frei signalisiert. Dem wollen wir durch Vereinbarungen mit dem Betriebsrat nachkommen. Bedingt durch die Pandemie mit ihrer Hochzeit im März und die Betriebsratswahl im April konnten allerdings bislang erst wenige Gesprächstermine realisiert werden. Diese blieben insbesondere vor dem Hintergrund grundlegender personeller Veränderungen im Betriebsrat ergebnisoffen.
  12. Pflegekräfte und Ärzte gleichermaßen schildern, dass die Geschäftsführung Anfragen ungenügend und oft nur mit großer zeitlicher Verzögerung beantwortet. Mehrere Mitarbeiter des Helios Klinikums erklärten, sie hätten den Eindruck, die Geschäftsführung würde sich vom Krankenhaus-Alltag immer weiter entfernen. Können Sie nach eigener Einschätzung Ihre Pflichten als Geschäftsführer vollumfänglich erfüllen? Selbstverständlich. Wir pflegen einen stetigen Austausch und haben regelmäßige Gesprächstermine, um gemeinsam Lösungen zu finden. Mein Anspruch ist es, wenn immer möglich, zeitnah auf Fragen zu antworten.
  13. Fühlen Sie sich als Geschäftsführer von vier Kliniken selbst überlastet? Meine Arbeit bereitet mir sehr viel Freude. Zudem kann ich auf starke Teams an den Standorten bauen.
  14. Wie viele Mitarbeiter arbeiten an den vier Kliniken jeweils? Blankenhain 250 Mitarbeiter:innen, Bleicherode 150 Mitarbeiter:innen, Gotha 700 Mitarbeiter:innen, Erfurt 2.500 Mitarbeiter:innen
  15. Wie hat sich Ihr Arbeitsalltag durch die Clusterbildung seit März verändert? Ich plane, denke und handele noch stärker standortübergreifend als zuvor. Stets in enger Abstimmung mit den bestehenden starken Teams vor Ort. Mein Ziel ist es, die bisher an einzelnen Kliniken verortete Expertise nun für die Patient:innen aller vier Kliniken gleichermaßen verfügbar zu machen. Dafür bin ich regelmäßig mit den Teams an den vier Standorten vor Ort im Gespräch. Die Kraft jedes einzelnen Hauses ist enorm und wir gehen einen zukunftsweisenden Weg, um diese Kräfte für unsere Patient:innen zu bündeln.
  16. Wie oft sind Sie in Erfurt, um als Geschäftsführer für ihre Belegschaft ansprechbar zu sein? Mindestens drei Tage in der Woche in Präsenz. Darüber hinaus bin ich zu fast jeder Tageszeit telefonisch und per Mail zu erreichen.
  17. Befürchten Sie, dass sich weitere Helios Kliniken in Thüringen den Forderungen der Belegschaft in Erfurt anschließen? Nein.

Ärzteschaft fühlt sich nicht ausreichend gehört

Wie MDR THÜRINGEN aus der Ärzteschaft des Erfurter Klinikums erfuhr, kommuniziert Lendholt auch immer seltener innerhalb des Unternehmens persönlich. Anfragen blieben seitens der Chefetage öfter unbeantwortet und sorgten für Frust in der Belegschaft. Viele hätten inzwischen sogar den Eindruck, Lendholt hätte schlicht keine Zeit mehr für die Belange des eigenen Hauses, erklärt ein Arzt, der lieber anonym bleiben will.

Ursächlich dafür seien die permanenten Optimierungsversuche der Helios-Unternehmensgruppe. Betriebsabläufe würden gestrafft, Stellen nicht nachbesetzt, Arbeit umverteilt - und trotzdem fordere die Konzernführung in Berlin Jahr für Jahr höhere Fallzahlen. Diese Unternehmensphilosophie setzt sich inzwischen auch im Management fort, wo sogenannte "Cluster" gebildet werden.

Florian Lendholt ist seit März 2022 Clusterchef für Nord- und Mittelthüringen. Er ist für den Standort Erfurt mit seiner etwa 2.500-köpfigen Belegschaft zuständig - und für die zusammmen 1.100 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den Kliniken Gotha, Blankenhain und Bleicherode.

Im Fragenkatalog weist Lendholt den Vorwurf, zu wenig Zeit für die Belange der Belegschaft in Erfurt zu haben, zurück. Er sei stets per Telefon oder Mail zu erreichen und an drei Tagen im Klinikum Erfurt. In der Clusterbildung sehe er eine Chance, die Kräfte und Expertisen der einzelnen Standorte für die Patienten zu bündeln.

"Ganz viele Patienten und ganz wenig Personal - das ist Mist!"

Während Lendholt eher vage bleibt, sprechen Pflegekräfte wie Annett Lange die Probleme klar an. Die 52-Jährige arbeitet seit 36 Jahren in der Erfurter Klinik. 1986 begann sie hier ihre Ausbildung, erlebte als Pflegerin erst die Wende und dann auch den gesundheitspolitischen Systemwechsel.

Seit der Privatisierung der Klinik würden Patienten als Gewinnbringer und Mitarbeiter als Kostenfaktor betrachtet, sagt sie. "Ganz viele Patienten und ganz wenig Personal - so werde ich reich, so kriege ich Profit und Dividende. Das ist Mist. Das ist richtig großer Mist!"

Wir haben alle diesen sozialen Beruf gewählt, weil wir sozial veranlagt sind. Uns sind die Patienten wichtig und wir sind auch nicht unfair zu Kollegen. Also springen wir ein.

Annett Lange, Pflegerin am Helios Klinikum Erfurt

Über Jahrzehnte hinweg hätte sich das ständige Einspringen unter den Kollegen verselbstständigt, sagt Lange. Die Geschäftsführung kontert: "Eine Verpflichtung zur Dienstübernahme besteht grundsätzlich nicht". Doch Lange meint auch keine vertragliche Verpflichtung, sondern vielmehr eine moralische: "Wir haben alle diesen sozialen Beruf gewählt, weil wir sozial veranlagt sind. Uns sind die Patienten wichtig und wir sind auch nicht unfair zu Kollegen. Also springen wir ein."

Auf dieses bereitwillige Aushelfen hätte sich die Geschäftsführung inzwischen eingerichtet: Im Zweifel würden die Pflegekräfte die Kohlen schon aus dem Feuer holen, meint Lange.

Zu überlastet für eine Gefährdungsanzeige

Im Stationsalltag - Pflegerin Lange arbeitet in der Wirbelsäulenchirurgie - bedeutet das, dass der Springerpool ständig ausgeschöpft sei. Täglich stünden hier laut Geschäftsführung zehn Pflegekräfte für 48 Stationen zur Verfügung. Zu wenig, meint Lange. Nur bei etwa jeder zweiten Anfrage könne ein Springer aushelfen, schätzt sie. Seit Januar habe sie deshalb schon zwei Gefährdungsanzeigen geschrieben. "Es wären noch mehr gewesen, wenn ich die Zeit gehabt hätte", kommentiert sie zynisch.

Denn jede Gefährdungsanzeige geht mit viel Papierkram einher. Oft werden sie deshalb gar nicht erst geschrieben. Im Zweifel ziehen die Pflegekräfte dann den Kürzeren: Denn bleibt eine Behandlung aufgrund von Überlastung aus und dem Patienten entsteht ein Nachteil, stehen ohne Gefährdungsanzeige die Pfleger in der Verantwortung und nicht die Klinik.

Im Fragenkatalog gibt die Geschäftsführung an, dass die Dokumentation bei den Gefährdungsanzeigen mit dem Betriebsrat abgestimmt sei und auch in anderen Kliniken praktiziert werde. Im Schnitt würde pro Abteilung und Jahr nur eine Gefährdungsanzeige ausgestellt, erklärt das Klinikum. Im Betriebsrat wird das bezweifelt. Zwei bis drei Gefährdungsanzeigen seien es pro Woche. Es gebe Stationen die "ständig" Gefährungdsanzeigen stellen, heißt es vom Betriebsrat.

"Einige" Gefährdungsanzeigen hat im vergangenen Jahr Nico Kollatz geschrieben. Den 25-Jährigen hat die Tretmühle Pflege noch nicht zynisch werden lassen. Er sprüht noch vor jugendlichen Idealen und schreibt seine Gefährdungsanzeigen nach seiner Schicht. Er macht also Überstunden, um seine Überlastung zu dokumentieren. Es sei seine Pflicht, seinem Arbeitgeber zu zeigen: "Stopp! So geht das nicht!", meint er. In diesem Jahr hat er noch keine Gefährdungssanzeige geschrieben, "aber wenn ich den Dienstplan perspektivisch so sehe, dann wird das in nächster Zeit so sein." Die Urlaubssaison steht bevor.

Wenn im Urlaub das Telefon klingelt

Nico Kollatz arbeitet seit 2017 auf der 2. Medizinischen Klinik, auch "Med 2-2" genannt, die auf Innere Medizin spezialisiert ist und unter anderen auch Corona-Patienten versorgt. Der Springerpool sei deswegen auch regelmäßig auf der Station zu Gast, um Lücken im Dienstplan zu stopfen. Viele seiner Kollegen sind in den letzten Jahren gegangen, erzählt Kollatz. Mit seinen fünf Jahren Erfahrung ist er deshalb schon ein alter Hase auf seiner Station.

Im Monat? Bestimmt zu einem Dreiviertel der Zeit.

Nico Kollatz, Pfleger am Helios Klinikum Erfurt, auf die Frage, wie oft seine Station unterbesetzt ist.

Trotzdem liebt Kollatz seinen Beruf und seine Kollegen, für die er häufig einspringt. "Helfersyndrom", nennt er das. Einmal habe er sogar seinen Urlaub abgebrochen. "Da war ich wandern im Nationalpark Hainich mit meiner Schwester, meiner Nichte und meinem Schwager. Da hat mich meine Stationsleitung angerufen, weil wir acht Corona-Fälle hatten. Da bin ich natürlich eingesprungen."

In Zukunft will Kollatz aber häufiger "Nein" sagen, denn in Wahrheit fühlt er sich fortwährend an der Grenze zur Überlastung. Egal ob Frühdienst, Spätdienst oder Nachtdienst, irgendwo fehle es fast immer an Personal. "Im Monat? Bestimmt zu einem Dreiviertel der Zeit", schätzt er.   

"Wer sagt, die wollen nur mehr Geld, hat uns völlig falsch verstanden"

Aus diesen Gründen haben Nico Kollatz und Annett Lange auch den Brief an die Geschäftsführung mitunterschrieben. Das erste Angebot kennen sie und lehnen es genauso ab wie Lühmann und der Betriebsrat. "Lächerlich, das sind doch Peanuts", sagt Lange. Sie glaubt nicht, dass man mit dieser Geschäftsführung noch ernsthaft reden könne: "Da kannst du das genauso in deinen Kühlschrank sprechen - der hört dir genauso zu."

Kollatz klingt da diplomatischer. Er freut sich, dass jetzt überhaupt verhandelt wird. Zum Angebot sagt er aber: "Knapp vorbei ist auch daneben. Es geht ja nicht ums Geld. Es geht uns um den Freizeitausgleich. Wer sagt, die wollen nur mehr Geld, hat uns völlig falsch verstanden. Es geht um den Ausgleich und deswegen finde ich das Angebot nicht gut."

MDR (ask)

Dieses Thema im Programm:MDR THÜRINGEN - Das Radio | Fazit vom Tag | 17. Juni 2022 | 18:00 Uhr

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