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PositionspapierStudierende fühlen sich komplett vergessen in der Pandemie

18. Juli 2021, 16:34 Uhr

Die Studentinnen und Studenten in Thüringen fühlen sich in der Pandemie vergessen. Knapp 50.000 sind im Freistaat eingeschrieben und seit fast anderthalb Jahren studieren sie hauptsächlich virtuell. Jetzt werden sie aktiv. Die Fachschaften Architektur und Stadt- und Raumplanung der Fachhochschule Erfurt haben ein Papier mit Forderungen an die Hochschulleitung verfasst, es wurde von fast 400 Studierenden unterzeichnet.

von Grit Hasselmann, MDR THÜRINGEN

Lisa Schneeberger ist 20 Jahre alt und studiert Architektur an der Fachhochschule (FH) Erfurt. Eigentlich. Denn praktisch hat sie die Hochschule nur in der Einführungswoche von innen gesehen. "Da konnte ich zumindest meine Kommilitonen kennenlernen." Aber direkt danach musste sie in den virtuellen Raum wechseln, weil es keine Präsenzveranstaltungen an der Hochschule mehr gab.

Einige der wichtigsten Elemente des Studiums, wie den Austausch untereinander oder praktische Arbeiten und Projekte, haben die letzten zwei Jahrgänge nie oder nur sehr sporadisch erlebt. Viele Studentinnen und Studenten zweifeln ihre Entscheidung für ihre Fachrichtung oder ein Studium überhaupt an.

Das Studium besteht nicht nur darin, Wissen zu vermitteln. Es besteht darin, Wissen anzuwenden, zu diskutieren, zu debattieren, sich gegenseitig zu inspirieren und zu motivieren.

Student Kenan Kayabasi

3.768 junge Menschen studieren an der FH in Erfurt. Seit April 2020 in sogenannten Hybrid-Semestern, einer Kombination aus realen und Online-Lehrveranstaltungen. Das Problem: Laut Hochschule mussten die Lehrenden entscheiden, ob sie online oder vor Ort unterrichten. Aber welcher Professor, welche Professorin kann diese Verantwortung tragen? Die Frage, wie viele Präsenzveranstaltungen tatsächlich stattgefunden haben, kann die Hochschule nicht beantworten. Eine Sprecherin: "Die genaue Anzahl wurde von zentraler Seite nicht erfasst."

Im Herbst auch wieder Hybrid-Semester

Lisa hat momentan das Gefühl, dass Studentinnen und Studenten einfach vergessen werden: "Alle reden immer nur über Schulöffnungen. Und ja, das ist wichtig, aber auch wir wollen zurück in die Hochschulen." Aber niemand kann sagen, wann das möglich sein wird. "Wenn wir wenigstens eine Perspektive hätten, irgendeinen Stichtag, dann wäre das auch leichter auszuhalten," sagt sie. Doch laut Hochschulleitung ist auch das nächste Semester, das am 11. Oktober beginnt, als Hybridsemester geplant.

Ich hatte überhaupt nicht das Gefühl, viel gelernt zu haben. Obwohl ich ständig am Arbeiten war.

Studentin Lisa Schneeberger

Die Fachschaften Architektur und Stadt- und Raumplanung der Fachhochschule Erfurt haben deshalb jetzt ein Positionspapier mit ihren Forderungen an die Hochschulleitung verfasst, es wurde von fast 400 Studierenden unterzeichnet.

Positionspapier als Forderung an Hochschulleitung

Darin heißt es unter anderem: "Wir fordern keine voreilige und kopflose Komplettöffnung, nicht die Rückkehr in überfüllte Hörsäle ohne Maske, aber die Möglichkeit, unter Einbeziehung von Hygienekonzepten und Teststrategien, ein wirklich hybrides Hochschulleben zu gestalten; also eine Lehre, welche die Vorteile, der Digitalisierung mit den Vorteilen der Präsenz verbindet und den Student:innen als einer der am stärksten unter den Restriktionen leidenden Gruppen ermöglicht, wieder mit Dozent:innen und untereinander in Kontakt zu treten und gemeinsam zu studieren."

Psychische und soziale Probleme nehmen stark zu

Nach drei Semestern vor dem Bildschirm fällt es den Studentinnen und Studenten immer schwerer, die Konzentration und Motivation aufrechtzuerhalten. Psychische Probleme nehmen zu. Diese Erfahrung macht auch Birgit Thurm in Jena. Sie arbeitet als Beraterin beim Studierendenwerk Thüringen. Dessen Psychosoziale Beratung (PSB) können alle Studierenden der Hochschulen Thüringens kostenlos in Anspruch nehmen, die das Bedürfnis haben, mit einer neutralen Person über sich, ihre Situation und ihre Probleme zu sprechen und weitere Unterstützung zu erfahren.

Probleme weit über die Pandemie hinaus

Allein in Jena ist die Zahl der Hilfesuchenden um knapp ein Drittel gestiegen, erzählt Birgit Thurm. "Soziale Kontakte sind gerade in dem Alter extrem wichtig. Da gibt es derzeit eine große Unsicherheit bei unseren Klienten. Auch der normale Ablöse-Prozess vom Elternhaus wurde beeinflusst, wenn sie plötzlich wieder zu Hause wohnen." Insgesamt schätzt sie, dass zwar viele der Studierenden die Folgen dieser Zeit gut kompensieren können, dass aber auch viele in der Zukunft Probleme bekommen werden. Selbst aktiv zu werden, wird den jungen Menschen auf jeden Fall helfen, sagt Birgit Thurm.

Hochschule ist auch wichtiger Sozialraum

"Das Studium besteht nicht nur darin, Wissen zu vermitteln. Es besteht darin, Wissen anzuwenden, zu diskutieren, zu debattieren, sich gegenseitig zu inspirieren und zu motivieren. Es sind die spontanen Tür-und-Angel-Gespräche, die Diskussionen nach der Vorlesung im Hof der FH, die spontanen Ideen, die dabei entstehen, die das Studium und auch die Lehre so sehr bereichern", sagt Kenan Kayabasi. Er schreibt gerade an seiner Bachelor-Arbeit, engagiert sich aber auch im Fachschaftsrat und hat an dem Positionspapier mitgearbeitet.

Online-Studium uneffektiv und praxisfern

Ihm kommt ein Semester gerade vor, als würde es zwei Jahre dauern: "Wir sehen uns nur noch am Bildschirm, das ist nicht das, wofür wir uns eingeschrieben haben." Morgens um Acht gibt es die ersten Online-Vorlesungen. Fast niemand schaltet die Kamera ein, erzählt Kenan. Und dann sitzt er bis in die Nacht am Rechner, um Aufgaben zu lösen. Die Kommunikation bleibt fast komplett auf der Strecke. Gerade die künftigen Architekten und Stadtplaner vermissen den Realitätsbezug im Studium.

Studienabbruch oder Wechsel des Fachs als letzte Optionen

Lisa Schneeberger stellt mittlerweile ihr Studienfach in Frage. Manchmal denkt sie auch übers Aufhören nach, ihre Motivation schwindet immer mehr. "Ich hatte überhaupt nicht das Gefühl, viel gelernt zu haben. Obwohl ich ständig am Arbeiten war. Das liegt aber nicht an den Professoren. Das liegt einfach an diesem Format." Der Bezug zum Studium, zur Hochschule fehlt. Das sieht Lisa als größtes Problem. Wie viele Studierende während der Corona-Pandemie ihr Studium tatsächlich abgebrochen haben, kann die FH Erfurt nicht beantworten. Das würde statistisch nicht erhoben, heißt es.

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Quelle: MDR THÜRINGEN

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