Eine Straßenbahn mit beschädigter Frontscheibe steht neben einem Notarzt-Wagen in einer Straße, auf der sich ein Feuerwehrmann zu Papierstücken hinunterbeugt
Unfälle mit Straßenbahnen - wie hier in Erfurt 2019 - beschäftigen neben den Rettungskräften und der Polizei auch die Verkehrsbetriebe. Bildrechte: MDR/Vesselin Georgiev

Nahverkehr Schwere Straßenbahnunfälle in Erfurt besonders häufig

13. Juni 2022, 19:00 Uhr

Zwei Menschen kamen im November bei Straßenbahn-Unfällen in Erfurt ums Leben. Generell verzeichnet die Thüringer Landeshauptstadt mehr schwere Straßenbahn-Unfälle als andere Städte in Mitteldeutschland. Woran das liegen könnte, erklärt ein Experte für Verkehrspolitik. Überall gilt: Die meisten Unfälle verursachen unachtsame Fußgänger, Autofahrer und Radfahrer.

Im Vergleich der großen mitteldeutschen Städte gab es im Vorjahr in Erfurt am häufigsten schwere Straßenbahnunfälle. In der Thüringer Landeshauptstadt ereigneten sich bei 3,5 Millionen gefahrenen Kilometern 67 Unfälle, das entspricht einem Unfall etwa alle 52.000 Kilometer.

Chemnitz und Gera führen mit einem Unfall pro 50.000 gefahrene Kilometer die Straßenbahn-Unfallstatistik zwar an. Allerdings handelt es sich hier zumeist um leichtere Unfälle: In Gera gab es seit drei Jahren keine tödlichen Unfälle mehr, in Chemnitz einen.

Unfälle mit tragischen Folgen

Bei Straßenbahn-Unfällen handelt es sich oft um Zusammenstöße mit Pkw. Sind Radfahrer und Fußgänger beteiligt, kann es jedoch häufiger zu Unfällen mit tragischen Folgen kommen, wie besonders in Erfurt zu sehen war. Auffällig: Im November häuften sich hier die Fälle; bei drei Straßenbahn-Unfällen innerhalb von fünf Tagen wurden zwei Menschen getötet.

Freilich sei es reiner Zufall, "dass ausgerechnet in diesen fünf Tagen so viele schwere Unfälle mit Straßenbahnen passiert sind", sagte eine Sprecherin der Landespolizeiinspektion Erfurt. Doch solche Unfälle ereignen sich immer wieder: Erst im Februar wurde ein Mann in Erfurt von einer Straßenbahn erfasst und schwer verletzt.

Straßenbahnen haben einen langen Bremsweg und sie können nicht ausweichen.

Matthias Gather Professor für Verkehrspolitik an der Fachhochschule Erfurt

Woran liegt es, dass die Unfälle mit Straßenbahnen in der Thüringer Landeshauptstadt so häufig tödlich verlaufen? Und warum hat sich in all den Jahren nichts daran geändert? Matthias Gather, Professor für Verkehrspolitik an der Fachhochschule Erfurt, sagt: "Man hat halt auch nichts gemacht." Aber was könnte man machen? "Das Problem bei den Straßenbahnen ist, dass sie in der Stadt zu schnell fahren", sagt Gather. "Straßenbahnen haben einen langen Bremsweg und sie können nicht ausweichen."

Straßenbahnen müssen Fahrpläne einhalten

Es sei politisch wohl auch nicht gewollt. "Beim Thema Straßenbahn hat man das Gefühl, dass man sich des Themas nicht wirklich annimmt." Das liege daran, dass die Straßenbahnen einen Fahrplan einhalten müssen. Würden sie langsamer fahren, bräuchten sie länger für die Strecken. "Dann hätte man das Problem, dass der ÖPNV in der Stadt nicht mehr so attraktiv wäre", sagt Matthias Gather.

Vor allem dort passiere viel, wo Straßenbahnen einen eigenen Gleisbereich hätten - also wenn die Bahn sich die Straße nicht mit Autos und Radfahrern teilen muss. Ein Beispiel in Erfurt ist die Magdeburger Allee, wenn Fußgänger die Gleise überqueren. "Die Häufung ähnlicher Unfälle gibt es schon", sagt der Professor für Verkehrspolitik. In der Altstadt hingegen ereignen sich selten Unfälle. "Dort sind alle achtsamer und die Bahn fährt langsamer."

Nächtliche Ansicht vom  Anger in Erfurt mit Straßenbahn
Verkehrsexperte Gather: "Es passiert ja nichts in der Altstadt. Dort sind alle achtsamer und die Bahn fährt langsamer." (Archivbild) Bildrechte: IMAGO / Bild13

Die meisten Unfälle geschehen im dicht bebauten Bereich. Hier würden die Straßenbahnen 60 km/h, manchmal mehr fahren, um die Fahrpläne einzuhalten. "Das ist viel zu schnell. Höchstens 50 km/h", sagt Gather, sollten die Bahnen in solchen bewohnten Straßen fahren. "Das Beste wäre wirklich: Runter mit der Geschwindigkeit".

Höchstens 50 km/h sollten Bahnen in bewohnten Straßen fahren.

Matthias Gather Professor für Verkehrspolitik an der Fachhochschule Erfurt

Sicherheit durch Unsicherheit

Eine andere Lösung sieht der Experte in mehr Mischverkehr. Matthias Gather: "Das meiste passiert, wenn sie auf eigenem Gleisbereich fahren, da fühlen sie sich sicher. Aber diese Sicherheit wird nur vorgegaukelt, sie ist nicht wirklich da." Für die Verkehrssicherheit sei es besser, wenn die Straßenbahnen auf der Straße fahren.

Er nennt das "Sicherheit durch Unsicherheit, wenn alle Leute achtsamer sind". Auch Trennwände seien keine Lösung. "Das wäre städtebaulich nicht vertretbar". Und Zäune? "Da klettern die Leute darüber", sagt der Professor.

Straßenbahn-Unfälle in Erfurt häufig an Haltestellen

Allein die Geschwindigkeit zu reduzieren, hätte die Unfälle mit Straßenbahnen in Erfurt nicht verhindert, sagt dagegen ein Sprecher der Stadtwerke Erfurt. Oft geschehen Unfälle an Haltestellen, wo die Bahnen ohnehin langsam fahren. Häufig seien die Fußgänger unachtsam.

"Der Straßenbahnfahrer schaut schon und versucht Blickkontakt aufzunehmen. Wenn ein Fußgänger auf dem Weg läuft, rechnet man nicht damit, dass er auf die Gleise tritt." Gerade bei schweren Unfällen liegt die Ursache meist bei Fußgängern, Rad- oder Autofahrern. "Ich denke nicht, dass wir die Unfälle ausschließlich auf die Geschwindigkeit zurückführen können. Gerade wenn Menschen unachtsam sind, spielt es keine Rolle, ob die Straßenbahn 40 oder 60 km/h fährt."

Die Landespolizeiinspektion Erfurt erklärte auf Nachfrage von MDR THÜRINGEN, dass schwere Unfälle im Nachgang zwischen Polizei, den Erfurter Verkehrsbetrieben (Evag), dem Verkehrsamt und der Stadtplanung besprochen würden. "Im Rahmen der Unfallkommission wird versucht, Gefahrenstellen zu beseitigen." So würden beispielsweise Hecken zurückgeschnitten, um eine bessere Sicht auf Bahnübergänge zu schaffen. Für die bessere Wahrnehmung würden auch Piktogramme oder Blinklichter an Übergängen angebracht. "Ein hundertprozentiger Schutz kann aber nie geschaffen werden."

Über 95 Prozent aller Verkehrsunfälle mit Straßenbahnen sind auf Fremdverschulden zurückzuführen.

Tim Stein Sprecher der Magdeburger Verkehrsbetriebe

"Über 95 Prozent aller Verkehrsunfälle mit Straßenbahnen sind auf Fremdverschulden zurückzuführen", sagte Tim Stein, Sprecher der Magdeburger Verkehrsbetriebe, MDR THÜRINGEN. Auch ein Sprecher des Polizeireviers Halle bestätigte, dass die Hauptursache größtenteils an unaufmerksamen Personen liege - also daran, dass Autofahrer, Fußgänger und Radfahrer die Verkehrsregeln missachteten.

Straßenbahn-Unfälle in mitteldeutschen Städten

In Dresden gab es 2021 bis zum November 100 Unfälle. Hier passiert statistisch alle rund 200.000 Kilometer ein Unfall. In Magdeburg wurde alle knapp 59.000 Kilometer ein Unfall mit einer Straßenbahn gezählt, das bedeutete 93 Unfälle bis September 2021. In Jena ereigneten sich im ersten Halbjahr 2021 elf Unfälle, 2020 waren es 44, umgerechnet bedeutet das einen Zwischenfall alle 86.000 Kilometer. Leipzig verzeichnete schließlich im vergangenen Jahr 312 Unfälle mit Bussen und Straßenbahnen - ein Unfall auf rund 80.000 Kilometer.

Straßenbahn in Leipzig, LVB
Die Leipziger Straßenbahnen fahren 25 Millionen Kilometer pro Jahr. (Archivbild) Bildrechte: MDR/L. Müller

"Wenn Personen involviert sind, sind das meistens schwere Unfälle. Jeder, der am Verkehr teilnimmt, sollte alle Sinne einsetzen", sagt Marc Backhaus, Sprecher der Leipziger Verkehrsbetriebe. Viele beachteten beispielsweise nicht, dass Straßenbahnen einen sehr viel längeren Bremsweg hätten. "Das sind Tonnen, die da unterwegs sind." Es gebe auch eine zunehmende Sorglosigkeit im Verkehr: "Man lässt sich durch Handys oder Musik schneller ablenken", sagt Marc Backhaus.

Kampagne für mehr Verkehrssicherheit in Leipzig

Aus diesem Grunde hätten die Leipziger Verkehrsbetriebe gemeinsam mit Polizei und Stadt im Januar eine Verkehrssicherheitskampagne gestartet. Marc Backhaus: "Wir sehen, dass es da viel Handlungsbedarf gibt. Das geht durch alle Altergruppen."

Die Straßenbahn ist eines der sichersten Verkehrsmittel überhaupt.

Marc Backhaus Sprecher der Leipziger Verkehrsbetriebe

Bei all dem sollte man eines nicht vergessen: Mit Straßenbahnen ist man sehr sicher unterwegs. Untersuchungen haben ergeben, dass Autofahren am gefährlichsten ist. Hier passieren die meisten Unfälle im Verkehr. Und Marc Backhaus ergänzt: "Bei den Milliarden Fahrgästen, die wir jedes Jahr transportieren, ist die Straßenbahn eines der sichersten Verkehrsmittel überhaupt."


Hinweis der Redaktion: Die Unfall-Statistik des Straßenbahnbetreibers Jenaer Nahverkehr konnte in diesem Artikel nicht berücksichtigt werden. Die Muttergesellschaft Stadtwerke Jena weigert sich, die Zahl der Straßenbahnunfälle und der gefahrenen Straßenbahnkilometer für das Gesamtjahr 2021 zu übermitteln. Zur Begründung erklärte die Pressestelle, jeder einzelne Unfall sei ein komplexes Ereignis, das für alle daran beteiligten Menschen tragische Auswirkungen habe. Kein Unfall sei mit einem anderen vergleichbar. Hier gehe es um Einzelschicksale.

Der MDR-Redaktion geht es nicht darum, Einzelschicksale darzustellen. Uns geht es um einen Gesamtblick auf das Unfallgeschehen. Die entsprechenden Zahlen für die Jahre 2020 und 2019 und das erste Halbjahr 2021 hatte die Pressestelle bei einer ersten Anfrage im Herbst noch genannt.

MDR (caf/rom)

24 Kommentare

Harka2 am 15.06.2022

@Reutter4774
Dan mieten sie sich mal in der Nordhäuser Straße eine Wohnung und sie werden verstehen, warum sie sich darüber freuen, dass die Tatras nur gelegendlich im Museumsbetrieb vorbeirumpeln.

Harka2 am 15.06.2022

@Tpass
Schrittgeschwindigkeit wäre auch ein Grund, nicht mit der Straßenbahn zu fahren. Da wäre man ja von Windischholzhausen erst in fünf Stunden am Europaplatz.

Harka2 am 15.06.2022

@Tpass
In Zeiten, in denen Radfahrer sich sowieso nicht an die Verkehrsregeln halten und Fußgänger bei Rot über die Ampel latschen, ist es wohl zu allererst mal deren Pflicht, sich mal wieder mit etwas mehr Rücksichtnahme und weniger Egoismus sich im Straßenverkehr zu bewegen.

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