Streikreport Pflegekräfte auf der Straße: Arbeitskampf am Helios-Klinikum in Erfurt

09. März 2023, 08:21 Uhr

Am Mittwoch haben laut Verdi mindestens 250 Beschäftigte des Helios-Klinikums Erfurt die Arbeit niedergelegt. Das Erfurter Krankenhaus ist damit das erste in Deutschland, das im aktuellen Tarifstreit Druck auf den Fresenius-Konzern ausübt und höhere Löhne fordert. Viele Angestellte machten ihrem Ärger über das Erfurter Klinikum Luft. Besonders brisant: Der vereinbarte Notdienst legte offen, wie prekär die Stationen auch im normalen Betrieb besetzt sind.

Es ist kurz nach 6 Uhr, als Hannes Gottschalk das Mikrofon zur Hand nimmt und den Streik einläutet: "KollegInnen*, heute ist kein Arbeitstag, heute ist Streiktag und das probieren wir jetzt mal." Dann skandiert er: "Heute ist kein Arbeitstag, heute ist…" - "Streiktag!" schallt es von den rund 60 Umstehenden zurück.

Es klingt - im Gegensatz zur wirklich lautstarken Demo, die am Nachmittag mit mehreren Hundert Menschen durch die Innenstadt ziehen wird - noch etwas verhalten. Doch das ist kein Wunder. Es ist der erste größere Streik am Erfurter Helios-Klinikum seit ziemlich genau 30 Jahren. Da kann man schon mal etwas eingerostet sein.

Mit Trillerpfeifen gegen das Gesundheitssystem

Dass sich in morgendlicher Dunkelheit, bei Schneeregen und eisigen Temperaturen überhaupt so viele Beschäftigte vor dem Helios-Klinikum versammelt haben, hat zwei Gründe: "Das Tarifangebot von Helios ist ein Schlag ins Gesicht der Kollegen und Kolleginnen. Das ist der erste Grund", erklärt Hannes Gottschalk, der als Verdi-Gewerkschaftssekretär zum Streik aufgerufen hat. "Der zweite Grund ist aber ein viel Bedeutenderer: nämlich die zweieinhalb Jahre Corona-Pandemie." Es sei geklatscht und eine "Spalterprämie" ausgezahlt worden, die in der Belegschaft für großen Unmut gesorgt habe, weil nicht alle sie erhalten haben, erklärt Gottschalk.

Liebes Erfurt, das sind eure Pflegekräfte, das sind die, die euch in den letzten zweieinhalb Jahren Corona-Pandemie den Hintern gerettet haben.

Hannes Gottschalk Verdi-Gewerkschaftssekretär

Viele Streikende tragen Schilder mit Botschaften, die noch tiefer Blicken lassen: "Helios - ein Herz für Aktionäre", "Fette Dividende - Magere Löhne", "Aktionäre ans Bett!" und "2% - der Helios Doppelwumms" steht da geschrieben. Mit Trillerpfeifen machen die Angestellten nicht nur ihrem Ärger über das Erfurter Helios Klinikum Luft, sondern protestieren auch gegen ein Gesundheitssystem, das Konzernen ermöglicht, Krankenkassenbeiträge in eigene Gewinne umzumünzen. Gewinne, an denen Aktionäre beteiligt werden, während die eigene Belegschaft unter steigenden Preisen zu leiden hat.

Helios bietet einen Reallohnverlust an

Dieser Streik - das wird jedem Beobachter klar - steht ganz im Zeichen der anhaltend hohen Inflation. Verdi fordert 10,5 Prozent mehr Lohn, mindestens aber 500 Euro pro Monat, bei einer Laufzeit von zwölf Monaten. Das Gehalt der Auszubildenden soll um 200 Euro steigen.

Es sind Forderungen, die vor zwei Jahren noch undenkbar gewesen wären. Inzwischen sind sie nötig geworden, denn sämtliche Güter des alltäglichen Bedarfs haben seit dem russischen Angriffskrieg einen enormen Preissprung erlebt: "Mehl 46,7 % teurer", steht auf einem der gebastelten Schilder. "Deshalb jetzt 10,5 Prozent mehr Lohn."

Der Fresenius-Konzern, zu dem die Helios-Unternehmensgruppe zählt, hat in den vergangenen fünf Geschäftsjahren im Schnitt einen Vor-Steuer-Gewinn von 4,6 Milliarden Euro gemacht. Trotzdem - oder genau deswegen - hat Helios ein Angebot unterbreitet, das einen Reallohnverlust für seine Beschäftigten bedeuten würde: Über 24 Monate bietet Helios zwei Lohnsteigerungen um jeweils zwei Prozent. Zwar ist das Angebot mit einer Inflationsausgleichsprämie in Höhe von 2.000 Euro und ein paar anderen Boni garniert. Unterm Strich bliebe den Mitarbeitenden aber ein deutlicher Kaufkraftverlust.

Notdienstvereinbarung sichert medizinische Versorgung

Unter den Streikenden ist auch Nico Kollatz, der bereits im vergangenen Jahr mit MDR THÜRINGEN über die kritischen Arbeitsbedingungen im Haus gesprochen hat. Für ihn ist es eine Selbstverständlichkeit zu streiken. Er tue das auch für die Kollegen, die heute aufgrund der von Verdi und Helios getroffenen Notdienstvereinbarung arbeiten müssen, obwohl sie streiken wollten. Nach der Vereinbarung kann das Klinikum Streikende zur Arbeit anfordern, wenn eine Versorgung der Patienten anders nicht zu bewerkstelligen ist. Für jede einzelne Station führt die Vereinbarung auf, wie viele Arbeitskräfte für den Notdienst benötigt werden.

Deshalb klingelt an diesem Morgen alle zehn Minuten das Telefon von Gewerkschaftssekretär Hannes Gottschalk. Allein in der ersten Stunde muss er 15 Pfleger und Pflegerinnen zurück in den Dienst schicken. Viele Beschäftigte seien enttäuscht, nicht streiken zu dürfen, weil sie den Notdienst absichern müssten, sagt Gottschalk. Die Notdienstvereinbarung zeigt einerseits, wie schwierig es ist, wenn nicht nur system-, sondern auch gesundheitsrelevante Berufsgruppen streiken.

Andererseits zeigt die Vereinbarung, wie schlimm es um die Arbeitsbelastung im Helios Erfurt wirklich steht: "Der Notdienstplan, den wir mit der Geschäftsführung abgeschlossen haben, das ist - und das haben uns viele KollegInnen gespiegelt - eigentlich der normale Dienstplan", betont Gottschalk.

Helios Erfurt, wo Notdienst die Regel ist

Das bestätigt auch eine WhatsApp-Umfrage eines Betriebsrates unter verschiedenen Krankenhausangestellten, die MDR THÜRINGEN einsehen konnte: "Die Notbesetzung kommt oft vor. Ist für uns regelmäßig 'normal'", schreibt ein Mitarbeiter der Neurochirurgie. Ein Beschäftigter in der Pneumologie, in der laut Notdienstvereinbarung vier Vollzeitkräfte (VK) im Frühdienst zur Verfügung stehen müssen, schreibt: "Pneumologie 1 [gemeint ist die Station, Anm. d. Red.] ist 4 im Frühdienst Standard".

Ein völlig desaströses Bild zeichnete ein Angestellter auf der Intensivstation: "Bei uns liefen wir vorige Woche unter bzw. auf Notfallversorgung. Von 7 Spätdiensten am Freitag wurde eine VK in den Nachtdienst verschoben und somit waren wir 6 Spät". Laut Notdienstvereinbarung sollen hier aber acht Vollzeitkräfte den Spätdienst aufrecht halten. Ein Notbetrieb scheint im Helios-Klinikum Erfurt also die Regel zu sein.

Eine Anfrage von MDR THÜRINGEN bei der Klinikleitung, inwiefern sich die Notdienstvereinbarung für den Streik von der Besetzung unter Normalbedingungen unterscheidet, ließ die Klinik unbeantwortet. Zu erwähnen sei auch, dass Geschäftsführer Florian Lendholt einmal mehr - zum sechsten Mal - eine Interviewanfrage ablehnte.

Ein Streiklokal platzt aus allen Nähten

Trotz Notdienstvereinbarung wächst der Streik mit jeder Stunde spürbar weiter an. Kurz nach 8 Uhr ziehen rund einhundert Beschäftigte vom Helios ab und laufen unter dem Sound von Trillerpfeifen und dem Gehupe der vorbeifahrenden Autos in die Kreativtankstelle in der Nordhäuserstraße.

Das Café, das sonst vor allem von Studierenden besucht wird, hat im alten Copyshop auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Streiklokal eingerichtet, das sich schnell als zu klein herausstellt. Dicht an dicht drängen sich hier die Pflegekräfte auf die wenigen Sitzgelegenheiten. Vor dem Tisch mit der Streikliste bildet sich eine lange Schlange, die bis hinaus auf die Straße reicht. Gegen 11 Uhr spricht ein völlig überwältigter Hannes Gottschalk von rund 200 Streikteilnehmern.

Solidarisch mit den Streikenden zeigt sich auch die Landtagsabgeordnete Lena Saniye Güngör (Linke), die ein kurzes Grußwort hält und verspricht, dem Thema Pflege auch auf dem politischen Parkett Nachdruck verleihen zu wollen. Zwar könne die Landespolitik bei Großkonzernen wie Fresenius nur bedingt Einfluss nehmen, dennoch sei es wichtig, dass "Politikerinnen und Politiker genau hinschauen, was in solchen großen Konzernen passiert", so Güngör.

Streikende Schwestern legen den OP weitgehend lahm

Unter den später Hinzugekommenen ist auch die OP-Schwester Conny Zitzmann. Sie berichtet, dass 80 bis 90 Prozent des OP-Personals und der Anästhesiepflege im Streiklokal versammelt sind. "Es wird heute mit Sicherheit viel weniger OPs geben als normalerweise und das wird die Geschäftsführung treffen", ist sie sich sicher. "Der OP ist das Kernstück jedes Hauses und hier wird enorm viel Geld verdient."

Wie viele Operationen verschoben oder abgesagt werden mussten, ließ die Klinik auf Anfrage von MDR THÜRINGEN unbeantwortet. Zitzmann und ihre Kolleginnen schätzen, dass das gut und gerne 100 Eingriffe sein können.

"Erfurt, das sind eure Pflegekräfte": Innenstadtverkehr für eine Stunde gestoppt

"Ihr seht wunderbar aus! Das Helios Klinikum Erfurt im Streik", ruft Gewerkschaftssekretär Hannes Gottschalk gegen 15 Uhr ins Mikrofon und setzt damit einen Demonstrationszug in Gang, der den Innenstadtverkehr entlang der Nordhäuser-, Andreas- und Marktstraße etwa eine Stunde lang zum Erliegen bringt.

Begleitet von entspannten Polizeibeamten ziehen 200 (laut Polizei) bis 300 (laut Verdi) Angestellte des Helios-Klinikums mit einem Pfeifkonzert durch die Straßen. Vorneweg fährt ein Lautsprecherwagen, aus dessen Boxen "Runnig up that hill" von Kate Bush dröhnt.

Immer wieder greift Gottschalk zum Mikrofon: "Liebes Erfurt, das sind eure Pflegekräfte, das sind die, die euch in den letzten zweieinhalb Jahren Corona-Pandemie den Hintern gerettet haben, wenn es ernst wurde. Jetzt machen sie ernst und streiken für bessere Arbeitsbedingungen, für einen Inflationsausgleich, für Respekt und Anerkennung." Viele Erfurter und Erfurterinnen bleiben stehen, manche klatschen Beifall, schießen Fotos, nicken anerkennend, ein paar Wenige meckern über den Lärm.

Ein Streiktag am Helios wird nicht reichen

Durch das Spalier von Häusern und Passanten in der Marktstraße biegt die Demo schließlich auf den Fischmarkt, wo die Abschlusskundgebung nochmal lautstark auf die Forderungen der Krankenhausbelegschaft aufmerksam macht. Gegen 17:30 Uhr stößt auch eine Frauenkampftagdemo dazu.

Der Fischmarkt wird zu einem kleinen Meer aus gelben Streikwesten, roten Verdi-Fahnen und lila Transparenten. Eine Rednerin ruft der Menge zu, dass es mehr als nur einen Streik brauchen werde, um die Forderungen durchzusetzen. Sie erinnert an den Streik der Pflegekräfte in Nordrhein-Westfalen: "79 Streiktage waren nötig", mahnt sie und erntet dennoch großen Beifall.

Es scheint sich tatsächlich etwas zu regen in der Belegschaft des Erfurter Helios-Klinikums. Aus vielen Gesichtern lässt sich eine Entschlossenheit ablesen, es jetzt doch mit dem übermächtigen Konzern aufnehmen zu wollen. Eines dieser Gesichter gehört Sebastian Bräu - einem Palliativpfleger, der seit zehn Jahren erlebt, wie das Klinikum auf seiner Station spart, also da, wo Menschen, die ihre letzten Tage erleben, besonders viel Zuwendung brauchen. "Ich möchte ein Vorbild sein für alle Kollegen, die da draußen überlegen, 'soll ich auch auf die Straße gehen?' Kommt, schließt euch uns an und seid endlich stark, für das, was wir jeden Tag leisten", sagt er voller Überzeugung. 

*Da unsere Gesprächspartner an vielen Stellen in den Interviews ganz bewusst gegendert haben, entsprechen wir im Text diesem Wunsch. Normalerweise gendern wir aufgrund der besseren Leserlichkeit in MDR-Artikeln nicht.

MDR (gh)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Nachrichten | 08. März 2023 | 19:00 Uhr

9 Kommentare

Reuter4774 am 10.03.2023

P.S.
Und warum suhlen Sie sich in Ihrem Neid? Warum werden Sie denn nicht aktiv und tun was? Zu feige nach einer Hehaltserhöhung zu fragen? Zu faul sich in Betriebsrat oder Gewerkschaft zu organisieren?

Fakt am 10.03.2023

@DanielSBK:

Nachdenken sollten eher Sie! Streiks verbieten hieße Grundrechte einzuschränken. Allein die Bemerkung, dass Sie keine 10,5 Prozent mehr bekommen, entlarvt Ihren Beitrag doch als reine Neiddebatte.

Silent_John am 09.03.2023

Ja, @salzbrot, das sind die Tatsachen . Mal abgesehen davon , daß namhafte Rentenpolitiker anderer Parteien aus dem ganzen politischen Spektrum über die Vorteile einer kapitalgedeckten Rente laut nachdenken - was wären denn Ihre Alternative ?
Mal abgesehen davon, daß man die Würdenträger in Landtagen, Bundestag u.a. staatlicher Gebilde inclusive aller Ober - und Unterstaatssekretäre und deren Kofferträger nicht bis an ihr Lebensende hoch alimentieren muß für unterdurchschnittliche Leistung - und eben, daß ALLE in den Rententopf einzahlen sollten, was wäre aus Ihrer Sicht ein tragbarer Lösungsansatz für das Problem ?

Mehr aus der Region Erfurt - Arnstadt

Mehr aus Thüringen