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Das Büro des Weißen Ring in Erfurt. Hier arbeiten auch Sylvia Hicke und Iris Wießner. (Archivbild) Bildrechte: MDR/Grit Hasselmann

ZivilcourageDer Weiße Ring in Thüringen hilft Opfern von Verbrechen und ruft zum Hinsehen auf

22. März 2022, 11:11 Uhr

Jeder kann Opfer oder Zeuge einer Straftat werden. Studien und Experimente haben aber gezeigt, dass viel mehr Menschen von sich glauben, dass sie im Ernstfall einschreiten würden, als es dann tatsächlich tun. Für die Opfer von Verbrechen ist das fatal. Deshalb hat der Weiße Ring die "Zivilcourage" zum Jahresmotto 2022 gemacht.

von Grit Hasselmann, MDR Thüringen

Sexueller Missbrauch, häusliche Gewalt, Körperverletzung, Raub, Diebstahl - die Aufzählung nimmt gar kein Ende, als Viola Worsch erzählt, mit welchen Themen sie in den vergangenen Jahren konfrontiert worden ist. Sie arbeitet seit 2011 beim Weißen Ring, betreut die Opfer von Verbrechen.

"Gleich bei meinem ersten Fall ging es damals um einen Großvater, der seine drei Enkelkinder über längere Zeit sexuell missbraucht hatte", erzählt sie. "Das hat mich sehr, sehr mitgenommen. Fast hätte ich direkt wieder aufgehört." Viola Worsch hat sich anders entschieden und das bis heute nicht bereut. "Ich kann hier Menschen helfen, die völlig unverschuldet in Not geraten sind."

Ehrenamtliche Hilfe für Opfer von Verbrechen

Etwa 700 Mitglieder hat der Weiße Ring in Thüringen, bundesweit sind es rund 45.000. Die Hilfe für die Verbrechensopfer ist nur eine der Aufgaben des Vereins, wahrgenommen wird die von ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Zwischen 110 und 120 sind das in Thüringen, organisiert in 22 Außenstellen. Gebraucht würden eigentlich mehr. Zu Beginn, so erzählt Viola Worsch, wird man gründlich geschult, während der Arbeit immer weitergebildet und bei Bedarf auch psychologisch betreut.

Wieviele Menschen sie pro Jahr betreut, kann sie nicht genau sagen: "Das schwankt sehr. In den ersten beiden Januarwochen hatte ich schon neun Fälle. Das ging Schlag auf Schlag." Auch die Betreuungsdauer ist ganz unterschiedlich, erzählt sie: "Manchen kann ich schon im ersten Gespräch helfen, andere betreue ich über Jahre." In ganz Thüringen, ergänzt Marion Walsmann, sind es pro Jahr zwischen 500 und 600 Verbrechens-Opfer, die sich an den Weißen Ring wenden.

Hotline des Weißen RingsOpfer-Telefon 116 006 - bundesweit, kostenfrei und anonym. Täglich von 7 bis 22 Uhr.

Marion Walsmann ist seit mehr als zehn Jahren Landesvorsitzende des Vereins. Mitglied im Weißen Ring ist sie sogar schon doppelt so lange: "Mein Mann hat als damaliger Generalstaatsanwalt den Weißen Ring in Thüringen gegründet und als Justizministerin habe ich mich immer bemüht, Staatsanwälte und Richter für die Situation der Opfer zu sensibilisieren."

Denn egal, ob man einem Gewaltverbrechen oder nur einem Taschendiebstahl zum Opfer fällt - als Betroffener findet man sich plötzlich in einer Situation, mit der man nicht gerechnet hat und auf die man nicht vorbereitet ist. "Der Täter plant, irgendwo einzubrechen oder jemanden am Computer zu prellen, das Opfer aber ist dem schutzlos ausgeliefert, wird überrascht davon. Niemand plant ja, Opfer einer Straftat zu werden", so Walsmann.

"Alles dreht sich um die Täter"

Und genau das ist das Problem, sagen die beiden Frauen. Nicht das Opfer steht im Fokus der Aufmerksamkeit nach einer Straftat, sondern der Täter. "Opfer sind höchstens Zeugen oder Beweismittel. Aber wieviel Leid sie erfahren, wie es ihnen geht damit, das spielt keine Rolle", so Marion Walsmann.

Und Viola Worsch erzählt von einem Fall, in dem der Täter nach einem sexuellen Missbrauch zwar verurteilt ist, aber nicht in Haft: "Wegen der vielen Widersprüche gegen das Urteil ist er immer noch in Freiheit und das macht der jungen Frau, die ich betreue, bis heute schwer zu schaffen. Das geht jetzt seit 2016!"

Zum Aufklicken: So finden Opfer Hilfe

Die Telefon-Hotline des Weißen Rings ist täglich von 7 bis 22 Uhr zu erreichen. Anonym und kostenlos unter 116 006.

Weitere Kontaktmöglichkeiten finden Sie hier:

Jahresmotto 2022: Zivilcourage

Studien und Experimente des Weißen Rings haben gezeigt, dass viel mehr Menschen von sich glauben, dass sie im Ernstfall einschreiten würden, als es dann tatsächlich tun.

Für die Opfer von Verbrechen ist das fatal, weiß Viola Worsch: "Wenn einem niemand hilft, verschlimmert das das Trauma noch. Die Opfer fühlen sich dann irgends mehr sicher." Deshalb hat der Verein "Zivilcourage" zum Jahresmotto 2022 gemacht.

Dabei geht es nicht darum, sich selber in Gefahr zu bringen, betont Viola Worsch. "Aber ich erlebe, dass die Menschen Angst haben, jemandem zu helfen, Angst haben, Haltung zu zeigen. Dagegen wollen wir angehen. Die Menschen müssen wieder lernen, auf ihr Gewissen zu hören."

Und wie das funktioniert, will der Weiße Ring vermitteln. Mit Materialien, aber auch mit Besuchen bei Vereinen oder mit Experimenten auf der Straße.

Keiner Diskussion ausweichen

Das Motto im vergangenen Jahr war übrigens "Hass und Hetze". Damit hatte man offenbar auch vereinsintern einen wunden Punkt erwischt: "2021 haben wir nach unseren Veröffentlichungen dazu Drohmails, Briefe und Austritte aus dem Verein bekommen - von Leuten, die mit dieser Linie nicht einverstanden sind", sagte der Bundesvorsitzende der Hilfsorganisation, Jörg Ziercke. Und Marion Walsmann ergänzt: "Wir haben auf jeden Fall wachgerüttelt mit dem Thema und man muss eben auch mal Diskurse in den eigenen Reihen aushalten."

Was tun, wenn man Zeuge eines Verbrechens wird?- Polizei informieren
- Täter laut ansprechen
- Lärm machen, um Aufmerksamkeit zu erzeugen
- Passanten gezielt einbeziehen
- Tätermerkmale einprägen
- um das Opfer kümmern
- als Zeuge zur Verfügung stehen

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MDR (gh)

Dieses Thema im Programm:MDR THÜRINGEN - Das Radio | Nachrichten | 27. Dezember 2021 | 11:00 Uhr

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