Wissenschaftliche Untersuchung Bislang verborgener Stollen im Steinbruch von KZ Buchenwald entdeckt

04. Oktober 2019, 05:00 Uhr

Der Steinbruch des ehemaligen NS-Konzentrationslagers Buchenwald auf dem Ettersberg von Weimar ist meist ein stiller Ort. An drei Seiten ist er durch steile Hänge begrenzt, auf dem Areal wittern Fundamentreste vor sich hin. Doch seit Jahrzehnten ist dieser einstige Ort des Schreckens, an dem SS-Männer Häftlinge quälten und ermordeten, Gegenstand von Spekulationen über geheime Depots im Berg. Bei einer wissenschaftlichen Untersuchung ist nun ein bislang verborgener Stollen entdeckt worden.

Porträt Autor Dirk Reinhardt
Bildrechte: MDR/Dirk Reinhardt

Mit etwas Mühe klettert Karin Sczech aus dem Stollen. Sie schiebt ihren Oberkörper durch eine etwa 60 Zentimeter hohe Öffnung über eine hüfthohe Wand aus Gestein und Erde. Zwei Männer reichen ihr von außen die Hände und stützen sie, schließlich steht sie im Freien. Karin Sczech, Archäologin vom Thüringer Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie, trägt einen weißen Helm, ihre Kleidung ist ein wenig mit Schlamm beschmiert. Nach ihr klettern zwei Männer aus dem Stollen. Es sind Marc Lesser, Kampfmittel-Experte, und Bergbauingenieur Ralph Haase. Sie stehen schweigend vor dem Loch im Fels, neugierig beäugt von mehreren Journalisten des MDR. "Und?", fragt schließlich einer. "Nichts", antwortet Haase. Der Stollen sei leer.

Ralph Haase ist dennoch zufrieden. "Die Aufgabe war, einen Hohlraum zu finden. Und die haben wir erfüllt." Der Bergmann und die Archäologin erklären den Journalisten, was sie in dem Stollen gesehen haben. "Er macht einen Knick nach links, dann nach rechts, dann geht es nicht mehr weiter. Es ist gewachsenes Gebirge, nichts Aufgeschüttetes", sagt Haase. "Wir haben das Ziel erreicht bei der ersten Schürfung", ergänzt Karin Sczech. "Und das heißt, wir machen am Montag mit der zweiten weiter."

Es ist Mittwoch, 2. Oktober, am frühen Nachmittag. Den ganzen Vormittag über hatte es geregnet, nun haben sich die Wolken verzogen. Im ehemaligen Steinbruch des Nazi-Konzentrationslagers Buchenwald auf dem Ettersberg bei Weimar ist nach stundenlangem Arbeitslärm erst einmal Ruhe eingekehrt. Alle warten auf die Vertreter der KZ-Gedenkstätte, die die Entdeckung bewerten und entscheiden sollen, wie es in den nächsten Stunden und Tagen weitergehen wird.

Die Entdeckung: das ist einer jener Stollen im Steinbruch von Buchenwald, über deren Existenz seit Jahrzehnten spekuliert, gemutmaßt, diskutiert und geforscht worden war. Die SS hatte, das war durch Zeitzeugen-Berichte und Dokumente seit langem einigermaßen gesichert, in den letzten Wochen des Konzentrationslagers im Frühjahr 1945 von Häftlingen Stollen in die Kalkstein-Hänge des Steinbruchs graben lassen. Eine handgezeichnete Skizze aus dem US-Nationalarchiv und Luftaufnahmen der US-Luftwaffe zeigen vage die Stellen an, wo sich diese Stollen befinden sollen. Zwei davon hatten die Amerikaner nach der Befreiung des Konzentrationslagers gefunden, geöffnet und darin tonnenweise Raubgut der SS geborgen.

Das nährte in den folgenden Jahrzehnten viele Spekulationen über weitere Depots im Steinbruch, gefüllt mit - nun ja - was auch immer. Die Frauen und Männer, die jetzt, Anfang Oktober 2019 hier im Steinbruch zu Gange sind, hoffen darauf, mit wissenschaftlich korrekter und akribischer Arbeit etwas Klarheit in das andauernde Gewaber von Mutmaßungen und angeblichem oder tatsächlichem Wissen zu bringen.

Als wahrer Meister der Akribie erweist sich Jens Breiting. Mit seinem Bagger hat er sich seit Beginn der Arbeiten am 1. Oktober nach und nach in den Hang am nördlichen Rand des Steinbruchs vorgearbeitet, an einer vorher gekennzeichneten Stelle. Zunächst hat er die Erdschichten fast zentimeterweise abgekratzt, um dann nach und nach den Hang auf einer Fläche von einigen Quadratmetern abzutragen. Beeindruckend, wie präzise der Mann die große Baggerschaufel ansetzt. Immer wieder unterbricht er seine Arbeit, um das Feld Marc Lesser zu überlassen. Der Kampfmittelexperte sucht mit einer Sonde nach metallenen Gegenständen. Als im abgetragenen Schutt dann plötzlich einige rostige Gewehrpatronen auftauchen, beginnt Lesser damit, jede Schaufel-Füllung förmlich zu durchwühlen. Das kostet Zeit, ist aber unumgänglich. Immer mehr Patronen findet er, dann rostige Metallstangen, die sich bei genauerem Hinsehen als Gewehrläufe entpuppen.

So geht es stundenlang weiter, am ersten und am zweiten Tag. Langsam füllt sich eine große ausgebreitete Plane neben der Grabungsstelle mit Schrott. Reste von Karabinern und Maschinengewehren, Gewehrpatronen, Magazine, verbogene Bajonette, eine zu einem Knäuel gerostete Eisenkette, Teile von Patronenkisten. Die Auffinde-Situation, so lautet der Fachbegriff, und der Zustand der gefundenen Waffenteile lassen darauf schließen, dass das Material großer Hitze und Druck ausgeliefert war, meint Lesser.

Doch im Schutt finden sich auch allerlei Gebrauchsgegenstände: verbeulte Blechtassen, eine Feldflasche, ein Löffel, Scherben von Porzellan-Tassen und Tellern. Auf einer Scherbe ist der Stempel des Herstellers aufgedruckt und die Jahreszahl 1943. Interessiert begutachtet Karin Sczech diese Funde. Darunter sind auch mehrere Dosen, in denen sich, das ist den Aufdrucken auf den Deckeln zu entnehmen, Schuhcreme eines Herstellers aus Erfurt befand.

Die Aufmerksamkeit von Ralph Haase richtet sich dagegen auf andere Fundstücke: ein Stück eines Meißels sowie etwa zwei Dutzend Reifen aus dünnem Blech. "Das sind Hinweise auf bergmännische Aktivitäten", erläutert Haase. Die Reifen seien vermutlich Teile von Schläuchen aus Stoff oder Kunststoff gewesen, mit denen Frischluft in Stollen eingeleitet wird, meint er. Weitere Nahrung für seine Vermutung bekommt Haase dann durch ein Stück eines morschen Balkens, der vom Bagger freigelegt wird. Der steckt senkrecht in der Erde, und an ihm entlang lässt sich sogar ein Zollstock fast einen Meter in den Boden hinabführen. Haase ist sich sicher, dass es sich um einen Stempel handelt, einen Stützbalken, mit dem Bergleute gegrabene Stollen sichern.

Am zweiten Tag, am Mittwoch, wird die Vermutung schließlich zur Gewissheit. Immer mehr lockeres Gestein holt Baggerfahrer Breiting aus dem Hang. Schließlich tut sich ein kleines Loch in der Felswand auf, später noch ein zweites. Der Bagger hat sich an der Wand entlang mittlerweile etwa zwei Meter tief in die Erde gegraben, bis auf die eigentliche Sohle des Steinbruchs. Die erste Öffnung wird größer, schließlich kann Ralph Haase gegen Mittag vorsichtig hineinschauen. Er erkennt einen offensichtlich von Menschenhand geschaffenen Hohlraum, einen Stollen. Gemeinsam mit Marc Lesser und Karin Sczech klettert er hinein. Nach einigen Minuten kommen die Drei wieder heraus. Eindeutig: Es ist ein Stollen. Offensichtlich nicht fertiggestellt. Und er ist leer. Keine Kisten mit Gold oder Gemälden oder mit brisanten Dokumenten.

Der Stollen ist etwa zehn bis 15 Meter lang und s-förmig in den Berg getrieben. Vielleicht sollte er den SS-Wachen des Konzentrationslagers als Schutzraum bei Luftangriffen der Alliierten dienen? Und wurde dann von SS-Leuten gesprengt, die dabei gleich noch Waffen und Munition "entsorgten"? Vermutungen, die sich sicherlich durch Forschungen von Historikern überprüfen lassen. Für Prof. Dr. Volkhard Knigge, den Direktor der Stiftung KZ-Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, ist erst einmal nur eines ziemlich sicher: "Was wir vor allen Dingen sehen, ist, wie Häftlinge zur Fron-, zur Zwangsarbeit noch in den letzten Tagen und Stunden vor dem 11. April, dem Tag der Befreiung vernutzt worden sind, um so etwas noch anzulegen", sagt er, nachdem er sich die Fundstelle angeschaut hat. "Das sollte uns alle berühren."

Am kommenden Montag werden die Untersuchungen im Steinbruch von Buchenwald fortgesetzt. An einer zweiten Stelle, an der sich geologische Anomalien feststellen ließen. Bis dahin soll sich erst einmal wieder die Ruhe über diesen Ort legen, an dem vor über 70 Jahren Menschen gequält und ermordet worden sind. Ihrer war am Dienstag vor Beginn der Arbeiten gedacht worden.

Quelle: MDR THÜRINGEN/dr

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR THÜRINGEN JOURNAL | 04. Oktober 2019 | 19:00 Uhr

0 Kommentare

Mehr aus der Region Weimar - Apolda - Naumburg

Mehr aus Thüringen