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Ukraine-KriegWie zwei Familien aus der Ukraine in Thüringen ein Leben nach der Flucht beginnen

29. März 2022, 19:00 Uhr

In der Other Music Academy in Weimar hat eine Initiative seit Beginn des Krieges in der Ukraine geflüchtete Menschen versorgt. Über die "Bettenbörse" konnten Flüchtlinge Platz in privaten Unterkünften finden. Als die ersten Raketen in ihrer Heimat explodierten, brachen auch Olexandra mit ihrer kranken Tochter und Nikita mit seinen drei Kindern auf. Ihr Ziel: Weimar.

von David Straub, MDR THÜRINGEN

Soforthilfe in Kriegszeiten: Die Initiative in der Other Music Academy

Am Tag nach Kriegsbeginn in der Ukraine erhält Jordan White einen Anruf von einem Freund aus Weimar. Ob in der OMA - der Other Music Academy - Platz sei, um kurzfristig geflüchtete Menschen aus der Ukraine unterzubringen, will er von Jordan wissen. Der Weimarer Musiker und Kulturmanager trommelt mit anderen daraufhin ein Team aus Freiwilligen zusammen. Sie putzen, bauen Betten auf und richten über das Wochenende alles so her, dass wenige Tage später die ersten Ukrainerinnen und Ukrainer dort unterkommen können.

Ersthilfe durch "Bettenbörse"

In den vergangenen Wochen hat das Netzwerk, zu dem der Ausländerbeirat, die Awo, eine Weimarer Baufirma, Aktivisten und Vereine zählen, insgesamt fast 300 Menschen aufgenommen und nach wenigen Tagen auf private Unterkünfte verteilen können. Für 36 Menschen ist zeitgleich Platz. "Das läuft jetzt seit vier Wochen, aber es fühlt sich an wie zwei Jahre", beschreibt Jordan die sogenannte "Bettenbörse". Mittlerweile gehören vier Weimarer zum Kernteam des Netzwerks. Dazu kommen 20 Dolmetscher und rund 30 Küchenhilfen.

Dass das Netzwerk aus Ehrenamtlichen und freien Trägern die erste große Zahl an Geflüchteten so effektiv auf Unterkünfte verteilt hat, zeigt langsam aber auch Folgen.

Grenzen der Leistungsfähigkeit

"Es melden sich mittlerweile kaum noch Leute mit Wohnraum", sagt Jordan White. Und kann nachvollziehen, warum nicht mehr viele Privatleute Ukrainer zu Hause aufnehmen wollen: die zusätzlichen Kosten, wenig Platz oder Vermieter, die nicht einverstanden sind.

Die Volunteer-Power nimmt langsam ab. Und: Ich bin der Meinung, dass diese Krise nicht nur mit Ehrenamt gelöst werden kann.

Jordan White von der OMA

Außerdem stellt Jordan nach den Wochen des unermüdlichen Ehrenamtseinsatzes eine gewisse Müdigkeit fest: "Die Volunteer-Power nimmt langsam ab. Und: Ich bin der Meinung, dass diese Krise nicht nur mit Ehrenamt gelöst werden kann." Er berichtet, dass in den vergangenen Wochen allein die Koordinierung medizinischer Hilfe die Arbeit einer Teilzeitstelle eingenommen habe. Und fordert die Politik und die freien Träger auf, dass zügig Stellen geschaffen werden, damit sich Dolmetscher und Beraterinnen bei konkreten Fragen und Alltagsproblemen um die Geflüchteten kümmern können.

Flucht mit kranker Tocher: Die Psychologin Olexandra aus einem Kiewer Vorort

Auch Olexandra hat die Hilfe des OMA-Netzwerks erfahren. Am Tag, an dem Russland die Ukraine angreift, hat ihre Tochter eigentlich einen Termin. Wegen einer Skoliose braucht die 16-Jährige in Kiew dringend physiotherapeutische Behandlung für ihren Rücken. Doch dazu kommt es wegen des Angriffs nicht, Olexandra flieht mit der Tochter und dem 14-jährigen Sohn.

Sollte eine Bombe in das Haus meiner Schwiegermutter in Kiew einschlagen, dann war's das.

Olexandra | Mutter aus einem Kiewer Vorort

Sieben Tage lang sind sie im Auto und fahren mit Bekannten gen Westen. Ihr Mann bleibt bei seiner Mutter, sie ist nicht mehr mobil und kann noch nicht einmal das Haus verlassen, um in die U-Bahnstation zu flüchten. "Sollte eine Bombe in ihrem Haus in Kiew einschlagen, dann war's das", sagt Olexandra.

Ein Freiwilliger aus Weimar betreut die Familie auf der Flucht, deswegen sind sie nun auch hier. Über das Netzwerk der OMA bekommt sie Kontakt zu Jordan, er hilft ihr, eine Physiotherapie für die Tochter zu finden. "Es ist allein dem guten Willen aller zu verdanken, dass wir ohne Versicherung einen Termin hatten", berichtet sie.

Trauma-Bewältigung in Selbsthilfe

In dieser neuen Situation mit den Sorgen um die Familie und ihr Land hat Olexandra Kraft gefunden, anderen Frauen in ähnlicher Situation zu helfen. Im Café International der Caritas in Weimar leitet sie eine Selbsthilfegruppe, um die Traumata des Krieges und der Flucht zu verarbeiten.

Unsere Seelen sind verletzt. Ich bin wie so viele andere vom Krieg mitgenommen.

Olexandra

"Wir versuchen, das aufzuarbeiten. Indem wir Resilienz entwickeln und das Bewusstsein für das, was uns jetzt hilft", sagt Olexandra. In der Ukraine arbeitete sie als Psychologin und lehrte an eine Hochschule auch selbst Psychologie. Es sei ihre Leidenschaft, sagt sie. "Diese Gruppe ist der Ort und die Zeit, unsere Gefühle zu teilen."

In die Schule, so schnell wie möglich

Nach ihrer Registrierung bei der Ausländerbehörde in Weimar wartet Olexandra nun darauf, dass auch die Krankenversicherung für die Tochter greift. Außerdem sollen die beiden Kinder so schnell wie möglich in die Schule gehen. Die Tochter hoffe, dass sie ihr Abschlussjahr auch hier in Deutschland beenden kann.

Und auch Olexandra will dringend einen bezahlten Job finden. Zurückkehren wollen sie dennoch, sobald es wieder möglich sein sollte. "Wir wünschen uns so sehr, dass unsere Familie bald wieder vereint sein kann", sagt Olexandra.

Lang vorbereitete Flucht: Der Journalist Nikita aus der Ostukraine

Anders sieht es bei Nikita aus. Für ihn ist eine Rückkehr ausgeschlossen. Als Journalist und Öffentlichkeitsberater hat er mit seiner Familie im Osten der Ukraine, in Tschernihiw, gelebt. Am Morgen des Kriegsbeginns fährt er sofort mit den drei Kindern los - seine Frau arbeitet seit einigen Monaten in Dubai.

"Ich hatte seit Monaten die Taschen gepackt, für die Kinder je eine mit Schulbüchern und eine mit Kleidung." Seine Freunde hätten ihn oft belächelt dafür - im Chaos, das an diesem Tag ausbricht, ist Nikita dafür schnell. Er fährt durch, in der Nähe von Bratislava will das Auto nicht mehr. Freiwillige sehen den Vater mit seinen Kindern und fahren sie kurzerhand die ganze Strecke bis nach Weimar, dorthin, wo Nikita entfernte Verwandte hat.

Wenn du so ein Desaster überlebst, fühlst du dich so … schuldig.

Nikita | Journalist aus Tschernihiw

Als Nikita von der Flucht erzählt, bricht seine Stimme ab: "Nachdem wir raus waren aus der Ukraine, habe ich kapiert, wie viele Leute ich zurückgelassen habe. Wenn du so ein Desaster überlebst, fühlst du dich so … schuldig." Später habe er gelesen, dass so etwas auch das "Überlebensschuld-Syndrom" genannt wird.

Schreie im Traum

In den Tagen nach der Ankunft in Weimar kommen sie in der Wohnung eines Weimarers unter. Sie sind eine der ersten geflüchteten Familien. Nikita versucht, Schlaf zu finden, doch das gelingt nicht immer gut. Auch bei Nikitas achtjährigem Sohn zeigen sich die Belastungen der Flucht. In den ersten Nächten habe er immer wieder im Traum geschrien.

Nachdem sie die ersten zwei Wochen wegen einer Corona-Infektion in Quarantäne bleiben mussten, nehmen die Kinder jetzt schon jeden Tag an Deutschkursen der Volkshochschule teil. "Sie lernen so viel schneller als wir Erwachsene", sagt Nikita. "Ich will, dass sie so schnell wie machbar in eine reguläre Schule gehen können und vielleicht sogar das Schuljahr nicht verlieren." Auch Freunde - ukrainische Geflüchtete, aber auch Leute aus Weimar - hätten die Kinder schon über Social Media gefunden.

Keine Rückkehr geplant

"Selbst, wenn der Krieg jetzt vorbei wäre, ist mehr als die Hälfte meiner Stadt zerstört. Klar, man kann es wiederaufbauen, aber mit all den Blindgängern ist es ein viel zu gefährlicher Ort - vor allem für meine Kinder", sagt Nikita. Er will so schnell wie möglich eine eigene Wohnung mieten, Deutsch lernen und eine Arbeit finden. Sein Traum ist, als Touristenführer in Weimar zu arbeiten.

Wir sind ein bisschen anders, aber wir sind Europäer und wollen uns hier integrieren.

Nikita | Vater von drei Kindern

Nikita ist dankbar für die Unterstützung der Deutschen und hofft, dass die Menschen hier auch geduldig sein werden mit den Ukrainern: "Wenn du dich als Flüchtling fühlst, fühlst du dich anders. Und das ist belastend. Wir sind ein bisschen anders, aber wir sind Europäer und wollen uns hier integrieren."

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"Bettenbörse" schließt - Anlaufstelle bleibt

Momentan wartet Nikita noch auf seinen Registrierungsprozess in der Ausländerbehörde - so wie viele geflüchtete Menschen. In der Other Music Academy stehen ab Ende März keine Betten mehr zur Verfügung, sagt Jordan White von der Initiative dort. Die wenigen Wohnungsangebote von Privaten und die ständige Belastung für viele Ehrenamtliche seien die Hauptgründe. Das Team sei aber mit der Stadt Weimar im Gespräch, damit die Verwaltung diese Aufgabe an einem anderen Ort übernehmen kann. Geöffnet soll der Ort aber weiterhin bleiben und mit dem OMA-Café Anlaufpunkt für geflüchtete Menschen sein.

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MDR

Dieses Thema im Programm:MDR THÜRINGEN - Das Radio | Ramm am Nachmittag | 28. März 2022 | 17:10 Uhr

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