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Sommertheater in WeimarHamlet auf der Baustelle

29. Juli 2024, 17:09 Uhr

Am Deutschen Nationaltheater in Weimar beginnt die letzte Spielzeit von Generalintendant Hasko Weber. Für Hausregisseur Jan Neumann, der von Anfang an, seit 2013, mit dabei war, ist deswegen große Klassikerdämmerung angesagt. Im Dezember wird er Goethes "Faust I" auf die Bühne bringen. Zum Saisonauftakt hat er "Hamlet" für das Sommertheater inszeniert. Kann eine Tragödie über den größten Selbstzweifler aller Zeiten mit sechs toten Hauptfiguren sommerliches Unterhaltungstheater sein?

Das DNT Weimar zeigt im Sommertheater "Hamlet, Prinz von Dänemark" von William Shakespeare. Sommertheater und Tragödie – das muss kein Widerspruch sein. Es kann sich sogar gut verbinden. Und obendrein den ganzen Theaterkosmos zeigen.

Am Ende ist die Inszenierung hier eine Art Gesamtkunstwerk aller Gewerke, die es am Theater gibt: vor und hinter den Kulissen. Und alle Gewerke stellen sich dem Publikum vor, so wie sie sind. Ästhetisch könnte man also von Brutalismus sprechen, von französisch "brut", übersetzt: roh, grob, ehrlich. Spielort ist die Außenanlage des sogenannten E-Werks: eine gründerzeitliche, sehr in die Jahre gekommene Fabrikhalle, die seit Jahren Zweitspielstätte des Theaters ist.

E-Werk Weimar: (K)ein Bühnenbild mit Baustellen-Optik

Auf einem Teil des Vorplatzes ist eine Zuschauertribüne aufgebaut, die an das originale Globe Theatre von Shakespeare in London erinnert, sich aber in radikaler Baustellenoptik gibt. Der andere Teil des Platzes ist Bühne: Schotter, Beton und Pfütze, rechts ein Bagger und ein Erdhaufen, links ein betagter Campinganhänger mit Vorzelt. Dahinter wird's schöner: Wiese, Bäume, Bachsaum. Die Bühne von Oliver Helf zeigt hinten Natur und davor eine desolate Industrielandschaft. Gefühlt ist es ein Bühnenbild bis zum Horizont. Vor allem aber eine Behauptung, denn im Grunde ist ein Bühnenbild gar nicht da. Es ist der Ort, so wie er ist. Ein Unort auch. Sommertheater in Weimar – das ist also keine schöne Vorstellung von etwas, keine Utopie – sondern eine Dystopie, ein Endzeitdrama. Unser Endzeitdrama?

Im Sommertheater des DNT Weimar spielt Nahuel Häflinger den "Hamlet" und zeigt eine große schauspielerische Leistung, betont Kritiker Stefan Petraschewsky. Bildrechte: Candy Welz

Im Hamlet-Finale sind sechs von sieben Protagonisten tot

Das Stück selbst ist mit Pause drei kurzweilige Stunden lang. Die Handlung ist präsent und wird "brut" – brutal – dargeboten. Im Zentrum steht Hamlet. Sein Vater, der König von Dänemark, ist gerade gestorben. Die Mutter heiratet den Onkel, der neuer König ist. Und dann erscheint der Geist des Vaters vor Hamlet und behauptet, er sei vom Bruder ermordet worden. Das ist die Startposition für Hamlet. Es ist etwas faul im Staate Dänemark. Hamlet will die Wahrheit herausfinden. Er spielt verrückt und wird es vielleicht auch: Sein oder Nichtsein. Seine Freundin Ophelia wird wirklich verrückt, weil Hamlet sich von ihr trennt und aus Versehen ihren Vater umbringt. Schließlich bringt Ophelia sich selber um. Im großen Finale sind sechs von sieben Hauptpersonen tot. Der einzig Überlebende bleibt, um die Geschichte der Nachwelt zu überliefern.

Besser kann Sommertheater nicht sein.

Theaterkritiker Stefan Petraschewsky über "Hamlet" am DNT Weimar

Man sieht den "Hamlet", den ein Sommertheaterpublikum hier auch entdecken kann, in einer originalen Form in der klassischen Schlegel-Übersetzung. Und die Inszenierung beweist: Endzeitdrama und Unterhaltungstheater muss kein Widerspruch sein. Das Drama kann sogar noch durch die betont unterhaltsame, spielerische Art gewinnen. Besser kann Sommertheater nicht sein.

Die berühmte Totengräber-Szene in Shakespeares "Hamlet": In Weimar wird sie mit einem Bagger dargestellt. Im Bild zu sehen: Christian Bayer (der Andere), Krunoslav Šebrek (Totengräber) Bildrechte: Candy Welz

"Olsenbande"-Kostüme und politische Dystopie

Die Schauspieler und auch das Personal, das hinter den Kulissen agiert, kommen zum Stückbeginn mit Mofas und Autos angefahren. In Anhängern bringen sie Requisiten, Garderoben, Schminktische mit – und auch einen Campinganhänger mit Vorzelt, unter dem die Bühnentechniker Pause machen werden, bevor sie die nächste Szene einrichten. Willkommen in der mobilen Welt. Die Botschaft: Überall ist etwas faul. Die mobile Welt ist auch eine Welt ohne Heimat und Identität. Der Mensch ist Migrant und immer auf der Flucht.

Die Kostüme von Nini von Selzam passen zu diesem Regiekonzept und wirken wie aus dem Fundus. Zum Beispiel, wenn Rosencrantz, Güldenstern und Hamlets Mutter dänisch auftreten wie Egon, Benny und Yvonne aus der Olsenbande. Eine zweite Interpretationsebene tut sich hier auf: Das deutsche Stadttheater ist am Ende; es wird nichts mehr genäht, es wird nichts mehr gebaut; wir nehmen das, was noch da ist – das war's dann! Auch eine Dystopie, die mit den politischen Positionen vor der Landtagswahl spielt: Was wäre, wenn?!

"Hamlet" auf der Außenanlage des E-Werks: eine in die Jahre gekommene Fabrikhalle, die seit Jahren Zweitspielstätte des Theaters ist. Im Bild: Janus Torp (Laertes), Dascha Trautwein (Ophelia) Bildrechte: Candy Welz

Demokratieverdrossene Menschen folgen dem "Rattenfänger"

Stark wirkt auch der Akzent auf einem "Hamlet"-Textteil, der ansonsten gern gestrichen wird. In diesem Handlungsstrang geht es um eine Fehde zwischen Dänemark und Norwegen, um ureigene territoriale Ansprüche, die Norwegen angeblich an Dänemark hat und sich deswegen zum Krieg hochrüstet. Und weil sich die beiden in letzter Sekunde doch noch diplomatisch einigen, muss eben Polen dran glauben und wird erfolgreich annektiert. Um diese Ebene zu bedienen, kommen heutige Soldaten ins Spiel. Ganz zum Schluss kommt der neue norwegische König – fast noch ein Kind – im Pelzmantel im gepanzerten Jeep auf die Bühne. Die Menschen, demokratieverdrossen, laufen dem Rattenfänger und Warlord hinterher.

Hamlets Vater, der König von Dänemark, ist gestorben. Sein Geist erscheint Hamlet und behauptet, er sei von seinem Bruder ermordet worden. Im Bild: Marcus Horn (Geist), Nahuel Häfliger (Hamlet) Bildrechte: Candy Welz

"Hamlet" in Weimar: schauspielerisch ganz großes Kino

Schauspielerisch ist der "Hamlet" großes Kino. Nahuel Häfliger, der den Hamlet spielt, gelingt es, den Text samt Rhythmus und Pausen so aus sich herausfließen zu lassen, dass man denkt, er sei in diesem Moment entstanden. Krunoslav Šebrek, der Polonius und auch den Totengräber spielt und dabei ganz professionell den Bagger fährt, spielt auch in dieser Topliga. Ebenso Sebastian Kowski als Hamlets Mutter, weil er sich nicht auf die Rolle setzt oder gar versucht, eine Frauenstimme nachzumachen. Es legt seine Figur sparsam und genau und damit sehr glaubwürdig an.

Fast alle anderen agieren knapp unter Augenhöhe – zwei Schauspieler fallen ab: Marcus Horn als König Claudius, der sich in seinem Monolog nicht frei spielen kann, Rosa Falkenhagen als Horatio bleibt eindimensional. Noch ein Wermutstropfen: Dascha Trautwein als Ophelia, die ihre Rolle gut spielt. Aber Regisseur Neumann hat für sie keine Szene, in der sie ihre starke Seite der Rolle zeigen kann, die sie andeutet, hinten am Bach, als sie Bruder Laertes umarmt, erstmals nach dem Tod des Vaters.

Quelle: Stefan Petraschewsky (MDR KULTUR)
Redaktionelle Bearbeitung: jb

Informationen zur Inszenierung (zum Aufklappen)

"Hamlet, Prinz von Dänemark" von William Shakespeare

Sommertheater des Deutschen Nationaltheaters Weimar
Spielort: E-Werk Weimar

Regie: Jan Neumann
Es spielen: Nahuel Häfliger, Marcus Horn, Sebastian Kowski, Dascha Trautwein, Christian Bayer, Krunoslav Šebrek, Janus Torp, Rosa Falkenhagen, Nicolai Šebrek

Termine:
Di 30.07.2024 // 19.00 Uhr
Mi 31.07.2024 // 19.00 Uhr
Do 01.08.2024 // 19.00 Uhr
Sa 03.08.2024 // 19.00 Uhr
So 04.08.2024 // 19.00 Uhr
Di 06.08.2024 // 19.00 Uhr)
Weitere Termine entnehmen Sie der Website des DNT Weimar

Polonius und Reynaldo treten wie zwei Agenten auf. Die "Hamlet"-Inszenierung thematisiert aktuelle politische Themen wie Annektion und Wahlergebnisse. Im Bild: Christian Bayer (Reynaldo), Krunoslav Šebrek (Polonius) Bildrechte: Candy Welz

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Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | 30. Juli 2024 | 12:10 Uhr