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Barbara Hermle ist immer für ihre Klienten da und liebt ihre Arbeit. Bildrechte: MDR/Grit Hasselmann

Caritas-Projekt in WeimarWohnungslosigkeit: "Der erste Schritt ist, nach Hilfe zu fragen"

18. September 2022, 08:11 Uhr

Wohnungslose leben mitten in der Gesellschaft, nicht selten in den belebten Straßen der Fußgängerzone. Gerade in kleineren Städten sind sie oft unsichtbar. Wie viele es tatsächlich sind, weiß niemand ganz genau. Die Caritas in Weimar versucht, ihnen zu helfen.

André und Stefan haben sich vor vielen Jahren im Obdachlosenheim in Weimar kennengelernt und auf Anhieb verstanden. Bis heute sind sie befreundet und treffen sich regelmäßig bei der Wohnungslosenhilfe der Caritas in Weimar. André wohnt inzwischen in seiner eigenen Wohnung, doch der Weg dahin war nicht leicht.

André hatte in Deutschland mit vielen Vorurteilen zu kämpfen. Bildrechte: MDR/Grit Hasselmann

Eigentlich hatte er nie erwartet, überhaupt jemals in so einer Situation zu sein. André war von Hamburg in die Karibik ausgewandert und hatte in Santo Domingo eine Firma gegründet. Alles lief prima, bis er einen schweren Verkehrsunfall hatte, beinahe hätte er sein Bein verloren. "Dummerweise hatte ich vergessen, mich zu versichern und so ging erst die Gesundheit, dann die Firma den Bach runter", erzählt er. Schließlich riet ihm sein Arzt, sich in Deutschland weiter behandeln zu lassen, sonst würde er sein Bein verlieren.

Nach Hamburg zu seinen Eltern wollte André aber nicht. "Ich hätte mich wie ein Versager gefühlt." Für Weimar hat er sich entschieden, weil er neugierig war auf Ostdeutschland: "Ich hatte immer gehört, dass die Leute hier viel mehr zusammenhalten als im Westen."

Bei der Caritas und vielen anderen Trägern gibt es Hilfe und Beratung für Betroffene. Bildrechte: MDR/Grit Hasselmann

Nach einem kurzen Aufenthalt im Obdachlosenheim lag er dann erstmal ein Jahr im Krankenhaus, ist heute 50 Prozent schwerbehindert. Er suchte sich einen Job und wollte dann eine Wohnung finden. Doch das war nicht so einfach.

Das bestätigt auch Barbara Hermle von der "Mobilen Wohnungshilfe" der Caritas: "Wenn da Schulden sind oder eine schwierige Vergangenheit, wollen Vermieter das nicht." Zumal es bundesweit ohnehin zu wenig bezahlbare Wohnungen gibt. Das sorgt dafür, dass die Zahl der Wohnungslosen immer weiter steigt.

Mehr als 400.000 Wohnungslose

Offiziell gilt als wohnungslos, wer keine eigene Wohnung hat, wer eine Unterkunft zugewiesen bekommt, in Heimen oder Asylen übernachtet, bei Verwandten oder Freunden unterkommt, in einer Billigpension wohnt oder auf der Straße. Es gibt keine offiziellen Zahlen dazu, wie viele Menschen in Deutschland betroffen sind.

Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe sagen, dass es in Deutschland etwa 417.000 Wohnungslose gibt, in Thüringen etwa 5.000 bis 6.000.

Dabei sollten die Zahlen eigentlich sinken. "Wir setzen uns zum Ziel, bis 2030 Obdach- und Wohnungslosigkeit zu überwinden und legen einen Nationalen Aktionsplan dafür auf", heißt es im Koalitionsvertrag der Ampel, weil sich Deutschland in einer gemeinsamen Erklärung der EU-Staaten verpflichtet hat, dass bis 2030 niemand mehr auf der Straße leben muss.

Was heißt obdachlos, was wohnungslos?Wohnungsnotfall: Wohnungsnotfälle sind Haushalte und Menschen mit einem Wohnungsbedarf von hoher Dringlichkeit, die aufgrund besonderer Zugangsprobleme (finanzieller und/oder nicht-finanzieller Art) zum Wohnungsmarkt der besonderen institutionellen Unterstützung zur Erlangung und zum Erhalt von angemessenem Wohnraum bedürfen.

Wohnungslosigkeit: Ohne eigene mietrechtlich abgesicherte Wohnung. Die Menschen leben vorübergehend bei Freunden, Bekannten, Verwandten oder vorübergehend auf eigene Kosten in Hotels oder Pensionen.

Obdachlosigkeit: Ohne jegliche Unterkunft, auf der Straße lebend. Die Menschen leben in Behelfsunterkünften, z.B. in Baracken, Abrisshäuser oder sind notuntergebracht, z.B. in Notunterkünften.

Die Gründe, wieso Menschen in die Wohnungslosigkeit geraten, sind verschieden. Oft hat ein persönlicher Schicksalsschlag mit finanziellen Problemen zu tun. Eine Trennung oder der Tod des Partners oder der Partnerin, der Verlust eines Kindes, aber auch ein Überangebot an Konsumgütern und der falsche Umgang mit Geld, Arbeitslosigkeit, Krankheit, psychische Probleme oder eine Alkohol- oder Drogensucht sind es, die Menschen in die Abwärtsspirale führen. Die Rechnungen stapeln sich, irgendwann kommt der Räumungsbescheid.

Das ganze Leben lag in Scherben

Stefan hat seine Wohnung verloren, weil sie mit der Arbeitsstelle verknüpft war. Er kommt eigentlich aus Halle, lebt aber schon seit vielen Jahren in Thüringen. Hier hat er sich auch seinem Suchtproblem gestellt, eine Therapie gemacht und einen zweiten Beruf gelernt. Mehr als zwei Jahre war er clean.

Als dann aber private Probleme auftauchten und er seinen Job samt Wohnung verlor, "hat mir das das Genick gebrochen". Er wurde rückfällig. "Irgendwann habe ich mir dann gesagt, das kann jetzt so nicht weitergehen, ich muss was tun. Dann habe ich noch eine Therapie gemacht und kam nach Weimar zurück. Aber der Wohnungsmarkt hier hat mich wieder geerdet. Früher war es einfacher, eine Wohnung zu finden, definitiv."

Stefan will sein Leben wieder in den Griff bekommen und hat sich Hilfe gesucht. Bildrechte: MDR/Grit Hasselmann

Und so kam Stefan schließlich zur "Mobilen Wohnungshilfe" der Caritas. Barbara Hermle und ihre Kolleginnen betreuen hier Menschen, die wohnungslos sind oder kurz davor, ihre Wohnung zu verlieren. 40 bis 50 kommen pro Jahr und dieser erste Schritt, nämlich nach Hilfe zu fragen, ist die einzige Bedingung für die Unterstützung. Zugleich ist er der schwerste, weiß Hermle: "Unsere Klienten kennen keine verlässlichen, stabilen Beziehungen. Da ist es schwer, Vertrauen aufzubauen. Außerdem ist Wohnungslosigkeit ein sehr schambesetztes Thema."

Ambulantes betreutes Wohnen

Eine Art "Probewohnen" stellt das Modell dar, das hier mit der Weimarer Wohnstätte angewendet wird. Die Caritas tritt als Mieter auf und schließt dann einen Untermietvertrag mit den Betroffenen. Für die Vermieter ist damit ein zuverlässiger Ansprechpartner gegeben, die Klienten finden wieder in feste Strukturen zurück. "Ambulant betreutes Wohnen" nennt das Barbara Hermle.

Unterstützt wird beim Ausfüllen von Anträgen, bei Telefonaten mit Ämtern, mit Gesprächen und vielem mehr. "Wenn man drei, vier Jahre so zusammenarbeitet, gelingt Stabilität. Und dann können die Menschen auch alleine weitergehen, haben etwas Grundlegendes gelernt. Dass nämlich in der nächsten Krise nicht alles wegbricht, sondern dass es einen Weg da durch gibt. Dass man es schaffen kann."

Barbara Hermle arbeitet seit mehr als 20 Jahren mit wohnungslosen Menschen. Bildrechte: MDR/Grit Hasselmann

Auch bei Rückschlägen, weiß Barbara Hermle, ist für viele ihrer Klienten zum ersten Mal jemand da, der hilft, der an dieser Stelle weitermacht. Im Grunde wie in einer stabilen Familie. "Das kennen unsere Klienten überhaupt nicht, diese bedingungslose Akzeptanz. Dass man den Menschen so akzeptiert, wie er ist und bereit ist, mit ihm zu arbeiten."

Vorurteile werden langsam ausgeräumt

Wenn dann irgendwann alles läuft, wird der Untermietvertrag in einen eigenen Mietvertrag umgewandelt. Inzwischen hat sich eine gute, vertrauensvolle Zusammenarbeit entwickelt, weil alle Beteiligten sehen, dass es funktioniert. Viele Vorurteile konnten durch Kontinuität ausgeräumt werden.

Eins ärgert Barbara Hermle aber immer noch: "Was ich nicht mehr hören kann ist, dass die Menschen selbst schuld sind an ihrer Lage. Natürlich gibt es eine persönliche Verantwortung. Es gibt aber immer auch eine Geschichte, die dafür sorgt, dass man die Anforderungen der Gesellschaft nicht mehr erfüllen kann. Ich habe in den 20 Jahren, die ich in dem Bereich arbeite, sehr viele solcher Geschichten gehört. Es ist schrecklich, was manche Menschen durchlitten haben, auch schon in jungen Jahren. Das kann man sich einfach nicht vorstellen."

André und Stefan halten Vertrauen und Akzeptanz für unverzichtbar. Bildrechte: MDR/Grit Hasselmann

Akzeptanz und Vertrauen

Für André und Stefan war das Vertrauen, das sie bei Barbara Hermle gespürt haben, eine riesige Hilfe. Und inzwischen geben sie auch etwas zurück: André hat gerade gemeinsam mit seinem Arbeitgeber eine Spendenaktion organisiert und Stefan macht derzeit ein Praktikum bei der Weimarer Tafel. "Wir haben gesehen, wie schnell du plötzlich ganz unten landen kannst. Das kann wirklich jedem passieren. Es ist einfach wichtig, sich gegenseitig zu helfen", sagt André. Und Stefan nickt dazu.

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MDR (gh)

Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL | Nachrichten | 11. September 2022 | 22:10 Uhr

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