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Gesundheitswesen20 Jahre MVZ: Warum die Nachfolger der DDR-Polikliniken erfolgreich sind

13. Januar 2023, 15:09 Uhr

Vor knapp 20 Jahren wurde in Thüringen die Poliklinik-Idee neu belebt: Die ersten Medizinischen Versorgungszentren wurden gegründet. Mittlerweile gibt es 142 davon. Es ist eine Erfolgsgeschichte mit wunden Punkten.

von Antje Kirsten, MDR THÜRINGEN

Alfons Zitterbacke musste auch hin, weil er für die Mutter einen "Medizinschein" abholen sollte. Doch das schwierige Wort "Ambulatorium" fiel ihm nicht ein und so landete er zunächst in einem Lampenladen und dann gar auf dem Zahnarztstuhl.

Heute heißen Polikliniken meistens Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) - oder eben wie früher Poliklinik oder Polyklinik. Wie auch immer sich der ärztliche Schulterschluss nennt, er hat für Patienten den Vorteil der kurzen Wege. Im MVZ arbeiten mehrere Ärzte unter einem Dach. Bei einer Überweisung geht es bestenfalls nur eine Treppe höher oder tiefer.

Versorgungszentren bei Ärztemangel?

Nach Ansicht des Erfurter Arztes und Unternehmers Volker Kielstein sind diese Versorgungszentren die einzig richtige Antwort auf den Ärztemangel gerade in den ländlichen Regionen. "Wir haben optimale Arbeitsbedingungen für Ärzte und Ärztinnen. Nur so ist es überhaupt möglich, sie fürs Arbeiten außerhalb der großen Städte zu gewinnen. Wenn ein Arzt in eine kleinere Stadt wie Sömmerda zieht, helfen wir bei der Wohnungssuche, zahlen Buschzulage", beschreibt Volker Kielstein das Konzept. Seine MVZ betreuen allein in Thüringen 100.000 Patienten.

Für Medizinabsolventen sind die MVZ ein willkommener Start in den Berufsalltag. "Sie bieten das, was wir unter Work-Life-Balance verstehen", räumt auch Thüringens Gesundheitsministerin Heike Werner (Linke) ein. "Gerade junge Mediziner, die auch Familie haben wollen, können hier ihre Wochenstunden entsprechend eintakten, haben nicht das Risiko, sich mit viel Kapital eine eigene Praxis aufbauen zu müssen. Das scheuen viele Mediziner vor allem im Osten, weil ihnen hier auch die Kapitaldecke fehlt", schätzt die Ministerin ein.

In den Versorgungszentren wird den Ärzten die Bürokratie abgenommen. Auch damit punkten die Zentren. Unternehmer Kielstein dazu: "Die Ärzte und Ärztinnen können hier genau das machen, was sie studiert haben - nämlich Medizin. Viele junge Ärzte wollen keine Unternehmer sein, sie wollen Zeit haben, um Patienten zu betreuen".

Eine von Kielsteins Polykliniken - in Erfurt. Bildrechte: picture alliance/dpa | Martin Schutt

Gewinn steht im Vordergrund

Was bequem klingt, hat nach Ansicht von Annette Rommel, Geschäftsführerin der Kassenärztlichen Vereinigung, einen großen Nachteil. "Diese MVZ sind Unternehmen, die nicht nur mit Ärzten besetzt sind, sondern auch mit einer Verwaltung. Das alles muss bezahlt werden - aus dem Honorar der Ärzte. Und hier besteht die Gefahr, dass gerade in MVZ, die von Investoren getragen werden, nur der Gewinn zählt. Dann werden möglicherweise nur noch die Leistungen erbracht, die das meiste Geld bringen." Rommel ist selbst Ärztin und beobachtet das Geschehen sehr genau. Man könne nicht alle über einen Kamm scheren, dennoch warnt Rommel vor einer weiteren Ökonomisierung der Gesundheit.

Wobei auch die Kassenärztliche Vereinigung gern MVZ gründen würde, es per Gesetz aber nicht darf - noch nicht. Die meisten Versorgungszentren haben als Träger Krankenhäuser.

Gute Versorgung, aber anonymer

Gesundheitsministerin Werner zieht nach 20 Jahren MVZ eine positive Bilanz. "In Ostdeutschland erinnern sich viele an die früheren Polikliniken. Das ist vielen sehr vertraut. Patienten bekommen hier Versorgung aus einer Hand. Wenn Krankenhäuser und MVZ gut zusammenarbeiten, hat es den Effekt, dass Behandlungstage gut abgestimmt werden können."

Nachteil: Es wird unter Umständen anonymer, der Patient hat nicht mehr nur seinen Hausarzt als Ansprechpartner. Vorteil: die Zentren sind immer geöffnet, können auch samstags Sprechstunden anbieten. Ein Arzt in einer privaten Niederlassung könne das nicht leisten. Für Patienten könne es nur gut sein, wenn Ärzte unter einem Dach zusammenarbeiten, sich austauschen können. Kielstein hat seinen Versorgungszentren eine Akademie für Allgemeinmediziner angegliedert. Dort wird auf dem Fachgebiet geschult, aber auch zu Abrechnungsregularien der Kassenärztlichen Vereinigung.

Die Versorgungslücken auf dem Land schließen die MVZ nicht - wir brauchen einen Mix - aus Versorgungszentren und niedergelassenen Ärzten.

Heike Werner

Jeder fünfte Arzt in Thüringen arbeitet in einem MVZ

Kielstein ist auch auf dem flachen Land präsent. Er sagt, er sei genau dorthin gegangen, wo Versorgungsnotstände waren. Thüringens Gesundheitsministerin Heike Werner wendet aber ein. "Die Versorgungslücken auf dem Land schließen die MVZ nicht - wir brauchen einen Mix - aus Versorgungszentren und niedergelassenen Ärzten".

Auch deshalb will die Ministerin die Zahl der investorengetragenen MVZ begrenzen. Dazu habe die Gesundheitsministerkonferenz bereits einen entsprechenden Beschluss gefasst. "Wenn alle Neuzulassungen für Ärzte nur noch in MVZ erfolgen, fehlen uns die Stellen in den Niederlassungen."

In Thüringen arbeitet mittlerweile jeder fünfte Arzt, der an der vertragsärztlichen Versorgung teilnimmt, in einem MVZ. Das ist bundesweit der höchste Anteil.

MDR (ifl)

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Dieses Thema im Programm:MDR THÜRINGEN - Das Radio | Fazit | 13. Januar 2023 | 18:50 Uhr

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