Geburtshilfe Wie das Eichsfeld Klinikum die Kaiserschnitt-Rate drastisch senkte
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28. Mai 2023, 10:00 Uhr
Die Zahl der Kaiserschnitte steigt seit Jahrzehnten. Die Geburtsklinik des Eichsfeld Klinikums geht seit einigen Monaten einen anderen Weg. Die Ergebnisse sind verblüffend.
Dominique Hoffmann hatte sich fest vorgenommen, eine natürliche Geburt zu erleben. Sie war entschlossen, auf einen Kaiserschnitt zu verzichten, sich dem natürlichen Prozess zu stellen. Ohne Operation oder Narkose. Für sie stand fest: Eine Geburt ist ein schönes Ereignis, keine Krankheit.
Doch die Geburt ihrer Tochter stellte sie vor unerwartete Herausforderungen. Als vor zweieinhalb Monaten ihre Fruchtblase platzte, waren sie und ihr Partner noch entspannt. Sie packten die Sachen und begaben sich auf den anderthalbstündigen Weg von Clausthal-Zellerfeld in Niedersachsen zum Eichsfeld Klinikum in Heiligenstadt. Wegen der Empfehlung einer Bekannten wollte sie nämlich unbedingt dort entbinden.
Lange Tage ohne Fortschritte
Aber auch in den folgenden Tagen blieben die Wehen aus: "Als am Dienstag und Mittwoch immer noch keine Wehen einsetzten, bekam ich einen Wehencocktail", erzählt Dominique. Ihr Körper reagierte heftig. Ununterbrochene Wehenwellen jagten durch ihren Körper, sie verkrampfte, und der Muttermund öffnete sich nicht. Erst am Donnerstagabend brachte eine Periduralanästhesie (PDA) Entspannung.
Doch der Plan einer natürlichen Geburt geriet ins Wanken. Das Baby drehte sich nicht richtig. Die Ärzte sahen sich einer erschöpften Frau und einem gefährdeten Kind gegenüber. Der Kaiserschnitt schien unausweichlich. In der nächsten halben Stunde sollte es soweit sein.
Ich hatte keine Kraft mehr und war überzeugt, es nicht schaffen zu können.
Dominique war am Ende ihrer Kräfte und tief enttäuscht: "Es lief überhaupt nicht so, wie ich das wollte und ich war kurz vorm Aufgeben. Ich hatte keine Kraft mehr und war überzeugt, es nicht schaffen zu können. Doch dann sagte meine Hebamme: Nein, wir probieren jetzt alles."
Unterstützung durch zwei Hebammen
Dominique wechselte die Geburtspositionen, probierte Akupunktur und nahm homöopathische Mittel. Gleich zwei Hebammen unterstützten sie, massierten ihren Bauch. Und dann, endlich, geschah es: Das Baby rutschte ins Becken. Nicht perfekt, aber der Kaiserschnitt wurde abgesagt.
Ein Gynäkologe holte Dominiques Baby schlussendlich mit einer Saugglocke. Ein Mädchen. Sie heißt Lilia. "Ich bin mir sicher, in vielen anderen Krankenhäusern hätte ich in dieser Situation einen Kaiserschnitt bekommen", sagt sie heute.
Neue Geburtenstrategie im Eichsfeld-Klinikum
In der Heiligenstädter Geburtsklinik hat es seit vergangenem Jahr eine bemerkenswerte Veränderung gegeben: Die Zahl der Kaiserschnitte ist deutlich gefallen, von 38 Prozent auf 22 Prozent aller Geburten. Zum Vergleich: Der bundesweite Durchschnitt liegt bei 30,9 Prozent. Wurden im Eichsfeld Klinikum zuvor überdurchschnittlich viele Kaiserschnitte gemacht, liegt die Zahl nun deutlich unter dem deutschen Durchschnitt.
Zum Aufklappen: Kaiserschnitt - Vorteile und Nachteile
Vorteile eines Kaiserschnitts:
- Planbarkeit: Ein Kaiserschnitt kann im Voraus geplant werden, was es den Eltern ermöglicht, sich auf den genauen Geburtstermin vorzubereiten.
- Vermeidung von Geburtskomplikationen: Bei bestimmten medizinischen Bedingungen oder Komplikationen kann ein Kaiserschnitt sicherer für Mutter und Kind sein.
- Schmerzkontrolle: Während eines Kaiserschnitts wird die Mutter betäubt, was den Schmerz während der Geburt reduziert.
- Vermeidung von Geburtstrauma: Ein Kaiserschnitt kann in bestimmten Fällen Geburtstraumata vermeiden, die durch eine vaginale Geburt verursacht werden könnten.
Nachteile eines Kaiserschnitts:
- Erholungszeit: Die Erholungszeit nach einem Kaiserschnitt ist in der Regel länger als nach einer vaginalen Geburt.
- Risiko von Komplikationen: Ein Kaiserschnitt birgt das Risiko von Komplikationen wie Infektionen, Blutungen und Thrombosen.
- Auswirkungen auf zukünftige Schwangerschaften: Ein Kaiserschnitt kann das Risiko für Probleme in zukünftigen Schwangerschaften erhöhen, wie z.B. Plazenta-Probleme.
- Anpassungsstörungen beim Neugeborenen: Kinder, die per Kaiserschnitt geboren werden, können häufiger Anpassungsstörungen haben, da der natürliche Geburtsprozess umgangen wird.
- Risiko von Atemproblemen beim Neugeborenen: Babys, die per Kaiserschnitt geboren werden, haben ein höheres Risiko für Atemprobleme nach der Geburt.
Das liegt vor allem an Gudrun König und ihrem Hebammen-Team. Vor neun Monaten wurde sie Chefärztin der Gynäkologie und Geburtshilfe. König ist eine leidenschaftliche Befürworterin der natürlichen Geburt.
Während ihrer Zeit in Herzberg im Harz hatte sie dort die Kaiserschnittrate zwischenzeitlich auf neun Prozent gesenkt. "Ich lehne Kaiserschnitte nicht ab, solange sie medizinisch notwendig sind. Sie machen in bestimmten Situationen natürlich Sinn. Aber ich möchte Frauen unterstützen, eine natürliche Geburt zu erleben", sagt sie.
Obwohl Kaiserschnitte in bestimmten Situationen lebensrettend sind, bringen sie auch eine Reihe von Risiken mit sich: "Durch den Geburtsstress und das Durchpressen durch die Scheide entfaltet sich die Lunge der Neugeborenen besser, das Kind hat später einmal weniger Anpassungsstörungen. Dafür gibt es Daten", sagt König.
Für Mütter könne ein Kaiserschnitt das Risiko von Blutungsstörungen, Regelschmerzen und Schwierigkeiten bei zukünftigen Schwangerschaften erhöhen. Dazu erhöhe ein Kaiserschnitt das Thromboserisiko um 20 Prozent.
Je wohler sich die Schwangere fühlt, desto eher entscheidet sie sich für die natürliche Geburt.
Zeit und Aufklärungsarbeit
Frauen müssten in die Lage versetzt werden, eine informierte Entscheidung über die Art ihrer Geburt treffen zu können. Das koste Zeit und damit Geld. Gudrun König: "Kaiserschnitte sind planbar und damit nicht so kostenintensiv. Wir machen uns die Mühe, Frauen ausführlich aufzuklären und ins Gespräch zu kommen. Je wohler sich die Schwangere fühlt, desto eher entscheidet sie sich für die natürliche Geburt."
Die Chefärztin betont, dass der Erfolg, den sie in ihrer Arbeit erlebt hat, nur durch die Unterstützung eines "extrem motivierten, sehr gut ausgebildeten und engagierten Hebammen-Teams" möglich war.
Das sagt auch Dominique Hoffmann. Erst vor ein paar Tagen kehrte sie in die Geburtsklinik zurück, um ihren Hebammen Geschenke als Zeichen der Dankbarkeit zu überreichen.
MDR (gh)
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Das Fazit vom Tag | 28. Mai 2023 | 18:00 Uhr
Jan Will am 29.05.2023
@Dermbacher
Genau, was in klinischen Studien signifikant zur Gesundung beiträgt/heilt, sollte eingesetzt und finanziert werden. Homöopathie scheut bislang Studien. --- Und zu Chemotherapie oder sonstigen Medikamenten: Die werden eben genau erst nach erfolgreichen, klinischen Studien zugelassen.
Lila123 am 29.05.2023
Auf der einen Seite ist es natürlich gut, dass man eine natürliche Geburt anstrebt. Andererseits sollte man das Risiko für das Kind bei einer so langen, schwierigen Geburt auch nicht unterschätzen.
Eine Kollegin von mir hatte beispielsweise auch eine ähnlich komplizierte Geburt - der Kaiserschnitt wurde zu spät gemacht und das Kind hatte bereits einen Sauerstoffmangel erlitten - mit weitreichenden Folgen für die ganze Familie.
ElBuffo am 29.05.2023
Wenn ich mir das so anhöre, ist so eine natürliche Geburt extrem geschäftsschädigend. Also jedenfalls für die Leistungserbringer und auf längere Sicht.