Fetale Alkoholspektrum-StörungenWenn Alkohol in der Schwangerschaft das Baby schwer schädigt
Der Alkoholkonsum während der Schwangerschaft ist die häufigste Ursache für körperliche und geistige Schäden bei Neugeborenen. Experten schätzen, dass in Deutschland rund 10.000 Kinder pro Jahr betroffen sind. Frauen sollten sich darüber bewusst sein, dass bereits geringe Mengen Alkohol Gift für ihre Kinder sind.
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In Deutschland sind mindestens 850.000 Menschen durch Alkohol in der Schwangerschaft ihr Leben lang beeinträchtigt. Diese Schädigungen können den Körper, den Geist und die Psyche betreffen und sind vermeidbar. Man nennt sie Fetale Alkoholspektrumstörungen (FASD). Und immer noch wird jede Stunde allein in Deutschland mindestens ein Kind mit dieser vermeidbaren Behinderung geboren.
Zum Aufklappen: Wie viele Frauen trinken in der Schwangerschaft Alkohol?
Fast jede zehnte Frau weltweit trinkt in der Schwangerschaft Alkohol. In Deutschland sind es im Schnitt sogar 26 von 100 Frauen - also mehr als jede vierte. Das ist das Ergebnis der ersten weltweiten Studie zum Trinkverhalten in der Schwangerschaft und den gesundheitlichen Folgen für das Kind.
Svetlana Popova vom Centre of Addiction and Mental Health in Toronto und Kollegen haben Daten aus fast 400 Studien ausgewertet. Erfasst wurde jeglicher Alkoholkonsum von Schwangeren - egal in welcher Menge. Fälle, in denen die Frauen noch nicht von ihrer Schwangerschaft wussten, rechneten die Forscher, wenn möglich, heraus. Zudem werteten die Wissenschaftler aus, wie häufig Trinken in der Schwangerschaft zu schweren Gesundheitsschäden beim Kind führt. (Quelle: FASD Deutschland e.V.)
Anna V. aus Jena weiß, was es bedeutet, ein Kind mit FASD großzuziehen. "Sie war ganz viel krank, als sie klein war. Und sie war ganz zart. Uns wurde damals sogar vorgeworfen, dass wir sie nicht richtig ernähren."
Dabei ist die erste Zeit mit dem ersten Kind ohnehin schon schwer, auch wenn alles ganz normal läuft. Als Anna ihre Tochter kennenlernte, lebte das Mädchen in einer Pflegefamilie. Anfang 2010 konnte sie die Kleine dann adoptieren. "Anfangs habe ich mich da sehr überfordert gefühlt und musste mit einigen Panikattacken umgehen."
Relativ schnell, so erzählt die 48-jährige, war ihr dann klar, dass ihr Baby keine normale Entwicklung nimmt. Eine Diagnose allerdings gab es nicht, trotz vieler Arztbesuche.
Alles änderte sich, erzählt Anna V., als sie mit ihrem Mann eine Erziehungs-Schulung beim Jugendamt besuchte. Die Referentin erzählte dort von den Besonderheiten bei Kindern mit FASD. "Da habe ich meinen Mann angeguckt und hab gesagt: Das ist unser Kind. In die Richtung müssen wir schauen."
Diagnose zunächst große Erleichterung
An der Charité in Berlin bestätigte sich schließlich ihre Vermutung. Ihr Kind litt tatsächlich am sogenannten Fetalen Alkoholsyndrom, der Vollform der Spektrumstörung. Je nach Schwere können die Kinder leichte kognitive Störungen bis hin zu gravierenden Einschränkungen haben. Daher der Begriff Spektrumstörung.
Was ist mit kognitiv gemeint?Der Begriff kognitiv (vom lateinischen Wort cognoscere - wissen, erkennen) bezeichnet Funktionen des Menschen, die mit Wahrnehmung, Lernen, Erinnern, Denken und Wissen in Zusammenhang stehen. Sie beschreiben die geistigen Prozesse, die Signale aus der Umwelt wahrnehmen und verarbeiten können.
"Da war sie fünf und dreiviertel Jahre alt. Also, wir haben diese ganze Zeit ohne Diagnose durchgestanden. Wir haben so sehr an uns gezweifelt. Wir sind oft wirklich zerbrochen, weil wir gedacht haben, wir kriegen nichts hin." Eine riesige Erleichterung war das zunächst. Zu wissen, dass sie sich nicht nur eingebildet hatte, dass etwas nicht stimmt, dass sie nicht einfach ihr Kind falsch erzieht.
Doch diese Erleichterung verging schnell. Als sie nämlich mit dem Arzt die nächsten Schritte besprechen wollte. "Da hat er gesagt, es gibt keine Heilung. Das ist eine geistige Behinderung, die ihr Leben lang bleiben wird. Und das einzige Therapeutikum sind Sie als Eltern. Das war ziemlich hart", erinnert sich Anna.
Da hat er gesagt, es gibt keine Heilung. Das ist eine geistige Behinderung, die ihr Leben lang bleiben wird. Und das einzige Therapeutikum sind sie als Eltern. Das war ziemlich hart.
Anna V. | Mutter
Zumal es auch sehr wenige Möglichkeiten gibt, Hilfe und Unterstützung zu finden, erzählt sie. "Hier vor Ort gibt es, muss man sagen, de facto keine Hilfe. Also, da ist Thüringen ein schwarzes Loch." Anna und ihr Mann sind damals dem Verein FASD Deutschland beigetreten. Dort gibt es Austausch unter Betroffenen, aber auch Tagungen und Weiterbildungen.
Einschränkungen schon bei alltäglichen Verrichtungen
Langfristige Konzepte haben für Annas Tochter keine Bedeutung. Welche Konsequenzen ihr Handeln hat, kann sie oft nicht abschätzen. Erfahrungen oder Informationen zu verallgemeinern, ist ihr fremd.
Wenn die Sonne scheint, will die Kleine im T-Shirt nach draußen, egal, ob im Mai oder Februar. Und wenn sie abends ins Bad geht, um Zähne zu putzen, weiß sie nicht mehr, was sie da tun soll und warum. Auch die Zeit ist für FASD-Betroffene nicht einzuschätzen. Sie sind nicht pünktlich, erinnern sich nicht an feste Uhrzeiten wie den Schulbeginn.
Zum Aufklappen: Was sind Fetale Alkoholspektrumstörungen (FASD)?
Fetale Alkoholspektrumstörungen (FASD) ist der Oberbegriff für alle Schädigungen des Kindes, die durch Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft entsteht.
Die Diagnostik der FASD erfolgt nach der S 3 Leitlinie FASD (Stand Juni 2016):
- Wachstumsauffälligkeiten
- Faciale Auffälligkeiten
- ZNS (Zentrales Nervensystem) Auffälligkeiten
- Bestätigte oder nicht bestätigte Alkoholexposition
Die Diagnose FAS (Fetales Alkoholsyndrom) wird gestellt, wenn in den ersten drei der oben genannten Bereiche Auffälligkeiten vorliegen. Diese Diagnose, auch Vollbild genannt, kann auch gestellt werden, wenn keine genaue Alkoholanamnese (vierter Punkt) vorliegt.
Für die Diagnose pFAS (partielles Fetales Alkoholsyndrom) müssen sich in zwei der ersten drei oben genannten Bereiche Auffälligkeiten zeigen und eine Alkoholexposition in der Schwangerschaft vorliegen.
Alkoholbedingte neurologische Entwicklungsstörungen (ARND = Alcohol Related Neuro-developmental Disorders) werden nur bei gesicherter Alkoholexposition während der Schwangerschaft diagnostiziert. Die Dysfunktionen des Nervensystems, wie zum Beispiel eine Teilleistungsstörung, stehen im Vordergrund, da keine körperlichen Merkmale wie die typischen Gesichtsveränderungen oder Minderwuchs vorliegen. (Quelle: FASD Deutschland e.V.)
Unsichtbare Behinderung
Schlimm ist für Anna und ihre Tochter, dass man dem Mädchen die Behinderung häufig nicht ansieht. Experten sprechen auch von einer unsichtbaren Behinderung. Denn trotz ihrer Defizite verfügen FASD-Patienten über gute verbale Fähigkeiten und bestimmte Inselbegabungen.
"Sie orientieren sich an ihrem Umfeld, sprechen wie die Erwachsenen und jeder denkt, dass sie besonders weit entwickelt sind. Aber sie verstehen oft gar nicht, was sie da sagen", erzählt Anna. Damit erwecken sie bei ihrem Gegenüber ein falsches Bild ihrer Möglichkeiten. Schnell werden sie überschätzt und überfordert.
Immer wieder an Grenzen zu stoßen, Dinge nicht "hinzukriegen", macht die Betroffenen aber auch wütend. Da sie ihre Impulse jedoch nur schwer steuern können, ecken sie in der Gesellschaft oft an.
Für die Eltern hat das auch ganz praktische Konsequenzen: "Also wir haben schon auch versucht, sie mal stundenweise betreuen zu lassen. Meine Tochter kann sich gut anpassen. Aber wenn sie aus der Anpassung rauskommt und authentisch wird, dann wird es anstrengend, weil sie extreme Wutausbrüche haben kann, weil die Kinder keine Frustrationstoleranz haben." Aber dann wurde es eben doch zu anstrengend. Und so sind auch die Eltern in einer ständigen Überforderungssituation.
Umso wichtiger wäre eine Anlaufstelle. Die nächste ist in Leipzig, die soll eigentlich Mitteldeutschland abdecken. Aber dort konnte man Anna V. und ihr Kind nicht aufnehmen. "Die sind einfach total überlaufen."
Jedes Jahr kommen in Deutschland rund 10.000 Kinder mit Fetalen Alkoholspektrumstörungen zur Welt. Etwa 3.000 der Betroffenen leiden unter dem Fetalen Alkoholsyndrom (FAS), der schwersten Form, bei der Fehlbildungen des Skeletts, der Extremitäten und des Gesichts sowie Nierenschäden oder Herzfehler hinzukommen können. Explizit für Thüringen liegen dem Gesundheitsministerium keine Zahlen vor. FASD ist die häufigste geistige Behinderung. Und es ist 100-prozentig vermeidbar.
Gegenüber der leiblichen Mutter ihres Kindes hegt Anna keinen Groll. Sie vermutet, dass die selbst auch unter FASD leidet. Ihre Tochter weiß, wo ihre Krankheit herkommt, aber auch ihr hat Anna erklärt, dass das keine böse Absicht von ihrer "Bauchmama" war. Die hat bis zum siebten Monat gar nicht gewusst, dass sie schwanger war. "Wir reden da ganz offen drüber. Und ich habe gesagt, sie hat trotzdem gut für dich gesorgt. Schließlich hat sie uns ausgesucht."
Zum Aufklappen: Wanderausstellung "Wenn schwanger, dann Zero!"
Um junge Heranwachsende, Eltern und Fachkräfte für FASD zu sensibilisieren, wurde die Wanderausstellung mit dem Titel "Wenn schwanger, dann Zero!" entwickelt. Die digitale Ausstellung ist für Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren geeignet und kann von Schulen, Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und weiteren Interessierten genutzt werden. Die Ausstellung wurde vom FASD-Netzwerk Nordbayern entwickelt. Darüber hinaus stehen Unterrichtsmaterialien, Aufklärungsfilme und eine Befragung als Unterrichtsbox zur Verfügung. Vom 2. bis 13. September ist die Ausstellung in Apolda und vom 25. bis 29. November in Sömmerda zu sehen.
Kein Unterschichtenproblem
Glaubt man Experten, ist es keine Seltenheit, dass Menschen, die von FASD betroffen sind, irgendwann in ihrem Leben obdachlos, straffällig oder drogenabhängig werden, weil sie aus dem Kreislauf von Überschätzung, Überforderung und Scheitern nicht herauskommen.
Die Tatsache, dass diese Kinder häufig bei Pflege- oder Adoptiveltern leben, die nichts über den Alkoholkonsum der leiblichen Mutter wissen, machen die Diagnose zusätzlich schwierig. Nur etwa 20 Prozent der betroffenen Kinder leben in ihrer Herkunftsfamilie.
Schätzungen nach zählt FASD noch vor dem Down-Syndrom zu den häufigsten angeborenen Behinderungen. Es gibt Experten, die von 130.000 Kindern mit angeborenen Alkoholschäden pro Jahr in Deutschland sprechen - eine hohe Dunkelziffer eingerechnet. Denn "FASD ist kein Problem der Unterschicht", sagt Liane Menke vom Projekt "clean4us" an der Uniklinik Jena.
Auch in Unternehmerfamilien und Akademikerkreisen existiert das Problem. Gerade diese Mütter würden aber selten zugeben, in der Schwangerschaft zu trinken. Ihre Kinder bekommen dann häufig ihr Leben lang keine Diagnose, was zu körperlichen und psychischen Problemen führen kann.
Übrigens ist das Thema auch nicht auf Menschen mit regelmäßigem Alkoholmissbrauch beschränkt. Je nach Entwicklungsstadium kann tatsächlich ein Schluck schon großen Schaden anrichten.
Das Projekt "clean4us"
Mit "clean4us", dem Thüringer Versorgungsmodell für Suchtmittel gebrauchende Schwangere und junge Mütter, haben das Universitätsklinikum Jena und die Stadt Jena bereits 2018 ein Angebot entwickelt, um Frauen individuelle Hilfen für den Weg aus der Sucht zu ermöglichen. Seit 2020 wurden weit über 50 Frauen durch das Projekt erreicht. "Clean4us" bietet Unterstützung in Form von Koordination der einzelnen Hilfsangebote an, um zusammen mögliche Wege für eine gesunde Schwangerschaft und Entwicklung des Kindes zu ermöglichen.
Dementsprechend kann dieses Projekt auch hinsichtlich einer Vorbeugung von FASD sehr hilfreich sein. Hier kooperiert man mit Vertretern aus Medizin, Familienhilfe und Beratungsstellen. In einem unverbindlichen und (wenn gewünscht) anonymen Erstgespräch mit der Schwangeren werden die Unterstützungsbedarfe und die Teilnahmemodalitäten besprochen.
Bei Teilnahmeeinwilligung übernimmt die Koordinatorin in Rücksprache mit der Schwangeren die kurzfristige Terminplanung mit den entsprechend zu beteiligenden medizinischen und sozialen Akteurinnen und Akteuren. Das Ziel ist, individuelle Unterstützung aus "einer Hand" anzubieten.
Da kommen Frauen, die sagen, ihr Arzt habe gesagt, sie sollen nicht sofort aufhören, das wäre jetzt gefährlich. Das ist gelogen.
Prof. Dr.med. Ekkehard Schleußner | Klinik für Geburtsmedizin in Jena
Prof. Dr.med. Ekkehard Schleußner leitet die Klinik für Geburtsmedizin in Jena und ist wichtiger Teil des Projekts. Oft trifft er auf Schwangere, die sich Sorgen machen, weil sie getrunken haben, oder suchtkrank waren, bevor sie von der Schwangerschaft wussten. "Da kann man auf jeden Fall gut beraten. Man kann stationär entgiften, man kann aber auch an eine ambulante Entgiftung machen."
Mit einem Märchen will er aber unbedingt aufräumen: "Da kommen Frauen, die sagen, ihr Arzt habe gesagt, sie sollen nicht sofort aufhören, das wäre jetzt gefährlich. Das ist gelogen, es ist gelogen und es ist einfach falsch. Es gibt keinen Arzt, der das sagt. Man kann von jetzt auf gleich aufhören."
Wenn man eine richtige Suchterkrankung hat, dann muss das natürlich ärztlich begleitet werden, so der Mediziner weiter. Und er wünscht sich, dass hierzulande, wie in England oder den USA, auf den Alkoholflaschen das entsprechende Symbol Pflicht wäre.
Hoher Schaden durch Alkohol
Laut Thüringer Sozialministerium liegt in der Gesellschaft "eine weitgehend unkritische Einstellung zum Konsum von Alkohol" vor. Durchschnittlich werden pro Kopf der Bevölkerung demnach jährlich rund zehn Liter reinen Alkohols getrunken. 7,9 Millionen der 18- bis 64-jährigen Bevölkerung in Deutschland trinken Alkohol in "gesundheitlich riskanter Form".
Zudem wirken sich der pathologische Konsum, der Missbrauch und die Abhängigkeit von Alkohol deutlich auf das Gesundheitswesen aus. Entsprechende Folgeerkrankungen oder Therapien erzeugen oft um ein Vielfaches höheren Personal- und Kostenaufwand, als wirksame Präventionsprojekte.
Das ist das, was mir weh tut. Es ist so schade für diese Wesen, weil die so gar nichts dafür können.
Anna V. | Mutter
Das findet auch Anna. Aus ihrer Sicht müsste viel mehr getan werden, damit Schwangere keinen Alkohol trinken. "Die Einschränkungen, die dadurch entstehen, die sind so weitreichend und so schlimm. Und das ist das, was mir weh tut. Es ist so schade für diese Wesen, weil die so gar nichts dafür können."
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MDR (gh)
Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | exactly | 06. August 2024 | 10:00 Uhr
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