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Hörsaal besetztStudierende demonstrieren gegen Abschaffung des Lehrstuhls für Geschlechtergeschichte

03. Dezember 2022, 06:22 Uhr

Ab 2025 will die Jenaer Friedrich-Schiller-Universität den deutschlandweit einmaligen Lehrstuhl für Geschlechtergeschichte streichen. Studierenden haben dagegen eine Petition gestartet und demonstriert. Geholfen hat es bislang nichts. Nun sind die jungen Menschen auf eine radikalere Protestform ausgewichen und haben Jenas größten Hörsaal besetzt - auf unbestimmte Zeit.

von Olaf Nenninger, MDR THÜRINGEN

So wie es aussieht, werden sie eine Weile bleiben. Um die 50 Studierende halten seit Mittwochabend, den 30. November, den Hörsaal 1 am Jenaer Ernst-Abbe-Platz besetzt. Zwei Dutzend schlafen sogar dort. Der Hörsaal der Uni Jena ist für etwa 800 Menschen ausgelegt. Jetzt hängen Transparente mit Forderungen an den Wänden, Matratzen liegen dort, wo normalerweise Professorinnen und Professoren für ihre Vorlesungen stehen.

Die jungen Protestler sitzen in Grüppchen zusammen, diskutieren, arbeiten an Laptops. Zwei Pressesprecher erklären was hier gerade passiert: die Studierenden würden Strukturen bilden: Arbeitsgruppen für die Versorgung, die Infrastruktur oder die Verhandlungen mit der Universität.

Die Hauptforderung der Besetzer: Der Lehrstuhl für Geschlechtergeschichte, seit 2010 unter der Leitung von Professorin Gisela Mettele, darf nicht wegfallen. Mettele geht 2025 in den Ruhestand. Danach soll es keine Nachfolgerin, keinen Nachfolger geben. So der Plan der Uni. Ein Plan, der aus finanzieller Not heraus gefasst werden musste, sagt Professor Christoph Demmerling, Dekan der Philosophischen Fakultät.

Geschlechtergeschichte oder Mittellatein?

Voraus ging die Verpflichtung, die bisher extern finanzierte Junior-Professur "Digital Humanities" aus eigenen Mitteln zu bezahlen, und zudem der Wunsch, diese auch noch zu einer ordentlichen Professur aufzuwerten. Das kostet viel Geld. Heißt, an anderer Stelle muss gespart werden.

Zwei Streichkandidaten standen zur Wahl: Geschlechtergeschichte und Mittellatein. Der Fakultätsrat habe sich für ersteren entschieden, weil, wie Demmerling betont, Geschlechterthemen auch an anderen Professuren mitverhandelt und gelehrt werden.

Kritik an "undemokratischer und intransparenter" Entscheidung

Das reiche aber nicht aus, finden die Studierenden im Hörsaal 1. Es sei wichtig, dass es für die Geschichtswissenschaft mit Genderperspektive eine zentrale Institution gebe. Nur so könne sichergestellt werden, dass der Ansatz auch umfassend fortentwickelt werde. Zufrieden geben wollen sich die Studierenden mit Geschlechtergeschichte in zufällig abfallender Häppchenform nicht.

Zudem sei die Entscheidung gegen den Lehrstuhl Geschlechtergeschichte undemokratisch und intransparent gefallen. Eine nicht demokratisch legitimierte Kommission - besetzt mit Nicht-Historikern - habe eine Vorauswahl getroffen. Im Fakultätsrat, der die endgültige Entscheidung getroffen hat, hatten die Studierenden nur eine von 17 Stimmen. Sie wünschen sich nun einen deutlich basisdemokratischeren Mitbestimmungsprozess in derartigen Fällen.

Universität weist Vorwürfe zurück

Dekan Demmerling sieht das anders. Von undemokratisch könne keine Rede sein. Das Verfahren sei sehr "kleinteilig begutachtet" worden. Das Rechtsamt habe es ausgeleuchtet - die Strukturkommission dann eine Empfehlung ausgesprochen. Zuvor gab es an der Universität äußerst kontroverse Diskussionen zum Thema.

Gendern als politischer Spielball

Für die Studierenden ist die Streichung des Lehrstuhls für Geschlechtergeschichte auch mit einem "fatalen Signal" verbunden. Konservative und rechte Kräfte fordern immer wieder, dass die Genderforschung an den deutschen Hochschulen zurückgefahren werden muss. Gendergerechte Sprache wird als "ideologiegetrieben" bezeichnet.

Erst am 11. November brachten CDU und AfD einen Antrag im Thüringer Landtag gegen gendergerechte Sprache in öffentlichen Einrichtungen ein. Die Uni Jena verwahrte sich in einem Offenen Brief sofort gegen das Ansinnen der schwarzen und blauen Antragsteller. Die Entscheidung gegen den Lehrstuhl für Geschlechtergeschichte komme daher zur Unzeit, sei Wasser auf die Mühlen der AfD, ärgern sich die Jenaer Protestierenden.

Lehrstuhl-Inhaberin: "Geschichte ohne Gender ist unvollständig"

Auch die aktuelle Lehrstuhlinhaberin plädiert für eine Nachbesetzung und den Erhalt des Fachs an der Uni Jena. Gegenüber MDR THÜRINGEN betonte Mettele die Relevanz der Geschlechtergeschichte für die Geschichtswissenschaft. Das Geschlecht von Akteurinnen und Akteuren spiele eine zentrale Rolle bei der Analyse historischer Prozesse.

Nur auf diese Weise bekomme man ein Verständnis für die Gegenwart: "Geschichte, die Gender nicht mitdenkt, ist eine unvollständige Geschichtsschreibung", konstatiert Mettele. Lehrstühle, die sich mit Geschlechterrollen auseinandersetzten, hätten viel zur gesellschaftlichen Entwicklung beizutragen. Ihre Jenaer Studierenden und deren Sympathisantinnen und Sympathisanten zeigten nun, dass ihnen das nicht egal sei.

Geschichte, die Gender nicht mitdenkt, ist eine unvollständige Geschichtsschreibung.

Gisela Mettele | Professorin für Geschlechtergeschichte

Unmut über Proteste bei anderen Studierenden

Aber nicht alle Jenaer Studierenden sind mit der Besetzung des größten Hörsaals einverstanden. Laut einem Uni-Sprecher gebe es einigen Unmut unter den Kommilitoninnen und Kommilitonen. Vorlesungen anderer Fächer fielen entweder aus oder werden in kleinere Räume verlegt.

Das ist auch den Besetzern bewusst. Sie wollten keine Bildung verhindern, sagen sie. Aber sie sähen auch keine andere Möglichkeit, mehr Gehör zu finden. In den kommenden Tagen wollen sie mit der Uni verhandeln. Die Petition für den Erhalt des Lehrstuhls haben mittlerweile mehr als 2.700 Menschen unterschrieben.

MDR (rom)

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Dieses Thema im Programm:MDR THÜRINGEN | MDR THÜRINGEN JOURNAL | 01. Dezember 2022 | 19:00 Uhr

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