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Immer wieder gibt es Gespräche mit den Betreuerinnen in der WG. Bildrechte: MDR/Grit Hasselmann

Zuhause auf ZeitZwischen Trauma und Selbstständigkeit - Probleme in der Jugendhilfe

05. Februar 2023, 17:20 Uhr

Vernachlässigung, Missbrauch, überforderte Eltern - die Gründe, warum Kinder in Einrichtungen der Jugendhilfe leben, sind vielfältig. Die Betreuerinnen und Betreuer in den Wohngruppen versuchen, ihnen ein schönes Zuhause zu geben. Doch immer wieder kollidieren ihre pädagogischen Ansprüche mit der finanziellen Ausstattung. Die ersten Träger mussten schon aufgeben.

Leonardo lebt in Wohngruppen, seit er 13 Jahre alt ist. Damit ist er einer von fast 4.000 Kindern und Jugendlichen, die in Thüringen nicht bei ihren Eltern oder bei Pflegefamilien wohnen können. Die Gründe sind völlig unterschiedlich: Vernachlässigung, Missbrauch, Überforderung der Eltern, Krankheiten oder extreme Probleme in der Pubertät. Alles, was das Kindeswohl gefährden kann, führt die jungen Menschen in die stationäre Jugendhilfe.

Leonardo ist inzwischen 18, wird in der Einrichtung, wo er jetzt lebt, auf ein selbständiges Leben vorbereitet. Doch solche Plätze sind knapp und die jungen Menschen müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllen, wenn sie hier leben wollen: "Man muss auf jeden Fall eine gewisse Selbstständigkeit mitbringen, wenn man hierher will. Würden sich die Betreuer hier um jeden kümmern müssen, weil er allein nichts hinkriegt, dann funktioniert das einfach nicht. Aber ich glaube, dass man auch noch eine Menge lernen kann, wenn man hier ankommt", sagt er.

Derzeit geht Leonardo noch zur Schule, er hängt zwei Jahre hinterher. "Mein Ziel wäre es, erst mal Abitur zu machen, und danach vielleicht ein Studium, entweder was Digitales mit Medien oder Programmieren oder Journalismus." Sozialarbeiter will Leonardo auf keinen Fall werden: "Nein, da weiß ich viel zu genau, was auf mich zukommt!"

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Verschiedene Träger, verschiedene Ansprüche

Knapp 3.800 Plätze in den verschiedenen Einrichtungen gibt es laut Landesjugendamt im Freistaat. Betrieben werden die Objekte der teilstationären und stationären Jugendhilfe von etwa 170 Trägern. Neben den großen Trägern, die in der Liga der freien Wohlfahrtspflege zusammengeschlossen sind (Diakonie, Arbeiterwohlfahrt, Caritas, der Paritätische Wohlfahrtsverband, Deutsches Rotes Kreuz, Jüdische Landesgemeinde) agieren verschiedenste Vereine, gemeinnützige oder privat-gewerbliche Träger in diesen Bereichen.

Wir haben auch mit den Schulen Kontakt und mit den Ausbildungsbetrieben. Wir stehen da als Ansprechpartner zur Verfügung, wenn es Schwierigkeiten gibt.

Markus Förster | Sozialunternehmen Förster GmbH

Auch das Unternehmen von Markus Förster betreibt verschiedene davon. Seit 14 Jahren ist er selbst in dem Bereich tätig, jetzt ist er verantwortlich für verschiedene Wohngruppen, von Kleinkindern bis Jugendlichen wie Leonardo. Und das heißt nicht nur, ihnen einen Platz zum Leben zu geben und für Essen und Kleidung zu sorgen: "Wir haben auch mit den Schulen Kontakt und mit den Ausbildungsbetrieben. Wir stehen da als Ansprechpartner zur Verfügung, wenn es Schwierigkeiten gibt". Auch mit den Eltern wird zusammengearbeitet und mit dem Jugendamt.

Finanzielle Lage ist schwierig

Wieviel Geld die Träger für ihre Wohngruppen bekommen, muss individuell mit dem jeweiligen Jugendamt verhandelt werden. Zwar gibt es einen Rahmenvertrag zwischen dem Thüringischen Landkreistag und dem Gemeinde- und Städtebund Thüringen auf der einen Seite und den in der Liga der Freien Wohlfahrtspflege in Thüringen zusammengeschlossenen Spitzenverbänden auf der anderen Seite. Der allerdings stammt aus dem Jahr 1999. Unter der Beteiligung des Landesjugendamtes wurde er auf Grundlage des § 78 f SGB VIII geschlossen und regelt nur grundsätzliche Dinge.

Wieviel pro Kind pro Tag für Essen ausgegeben wird oder für Kleidung, wie hoch die Zuschüsse zur Klassenfahrt ausfallen oder was das neue Fahrrad kosten darf, muss Jahr für Jahr neu verhandelt werden. Entsprechend sind diese Beträge in den verschiedenen Städten und Landkreisen in Thüringen sehr unterschiedlich.

Für Geburtstags - und Weihnachtsgeschenke stehen beispielsweise etwa 25 Euro zur Verfügung, für Kleidung zwischen 35 und 45 Euro. Der Betrag für Essen pro Tag variiert laut Landesjugendamt derzeit zwischen 5,90 Euro und 8,40 Euro. Gerade jetzt, wo fast überall das Schulessen teurer geworden ist, kann das schnell zum Problem werden.

Größtes Problem: Personalmangel

Cornelia Lauterbach arbeitet als Teamleiterin in einer WG in Ostthüringen. Seit 2006 arbeitet sie in der Jugendhilfe und auch wenn das ursprünglich gar nicht ihr Plan war, kann sie sich heute nichts anderes mehr vorstellen, sagt sie. "Ich finde es wahnsinnig sinnstiftend und habe auch oft genug Fälle gehabt, wo ich eine Wirksamkeit gespürt habe. Und manchmal, wenn man Jahre später Leute trifft, und die sagen, wieviel sie von dir gelernt haben, ist das etwas, was ich wirklich erfüllend finde."

Cornelia Lauterbach kümmert sich mit ihrem Team um Jugendliche ab 16 Jahren. Bildrechte: MDR/Grit Hasselmann

Und trotzdem ist es zur Zeit sehr schwer, Betreuerinnen und Betreuer zu finden. Eigentlich würden viele Träger gerne neue Wohngruppen eröffnen, stattdessen waren sogar schon einige gezwungen, Gruppen aus Personalmangel zu schließen oder ganz aufzugeben. Laut Landesjugendamt sind die Plätze im Freistaat "gut ausgelastet", teilweise gibt es sogar Unterbringungsschwierigkeiten. Allein in Erfurt können momentan 40 Plätze wegen Personalmangels nicht belegt werden.

Dazu beobachtet man mit Sorge, dass immer jüngere Kinder in die Wohngruppen kommen, weil auch Pflegefamilien fehlen, in denen die Kleinsten sonst untergebracht werden.

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Seelische Verletzungen heilen langsam

Markus Förster versucht, das alles von seinen Mitarbeitenden und vor allem von den Kindern und Jugendlichen fern zu halten. "Man darf nicht vergessen, dass wir ihnen hier vor allem ein Zuhause bieten wollen. Viele kommen mit schweren Traumata zu uns und auch der Einzug in eine Einrichtung kann wieder ein neues Trauma sein."

Immer wieder erleben diese Kinder, dass Beziehungen abbrechen. "Das geht manchmal so weit", sagt Förster, "dass die Jugendlichen Erwachsene gar nicht mehr als verlässliche Personen wahrnehmen können, weil sie einfach von jedem Erwachsenen, den sie bisher erlebt haben, enttäuscht worden sind."

Netzwerke spielen hier eine große Rolle.

In seinem Unternehmen versucht man, den Dienstplan auf die Kinder abzustellen, soweit das möglich ist. Dass eben beispielsweise der Nachtdienst, der die Kinder ins Bett bringt, sie auch morgens wieder weckt und da ist, bis sie zur Schule gehen.

Außerdem gibt es im Unternehmen einen Psychologen, der bei Bedarf die Kinder und Jugendlichen begleitet. "Er arbeitet aber auch mit den Teams, gibt bei psychischen Auffälligkeiten oder sozialen Störungen bei Kindern und Jugendlichen den Kolleinnen und Kollegen noch einmal Handwerkszeug mit".

Hier im Büro schläft der Nachtdienst, denn die Kinder und Jugendlichen sind nie allein. Bildrechte: MDR/Grit Hasselmann

Und wenn man in der WG nicht weiterkommt, gibt es auch spezialisierte Therapeuten, die für Kinder und Jugendliche ausgebildet sind. Darüber hinaus gibt es Trauma-Pädagogen, die auch dazu beitragen, die traumatischen Erlebnisse dieser Kinder zu bearbeiten. "Und am Ende, wenn alle Professionen und alle am Kind beteiligten Personen zusammenarbeiten, wird es ein rundes Ganzes", sagt Markus Förster.

Viele offene Baustellen bleiben

Wenn aber ein Kind mehrere Wochen im Krankenhaus therapeutisch behandelt werden muss, werden den Trägern die Personalkosten gekürzt. Das verschärft die schwierige finanzielle Lage. Denn betreut werden muss es ja trotzdem, sagt Förster. "Die Wäsche muss gewaschen werden, die Betreuer wollen zu den Besuchszeiten da sein und die Elternarbeit läuft ja auch weiter." Das Problem ist dem Landesjugendamt bekannt, im Mai soll mit allen Beteiligten bundesweit darüber geredet werden.

Über die Folgen der Energiepreissteigerung und der Lebenshaltungskosten will Förster überhaupt noch nicht nachdenken. Diese Kosten sind bei den ausgehandelten Sätzen natürlich nicht einkalkuliert. Ein Sprecher des Landesjugendamtes sagt dazu: "Die Träger rufen daher die zuständigen Jugendämter zu Anpassung der Entgelte auf. Die Jugendämter reagieren hierauf sehr unterschiedlich." Allerdings hat der Landtag ein Sondervermögen bereitgestellt, in dem auch Geld für die Jugendhilfe vorgesehen ist.

Die Freizeitplanung ist schwer in Zeiten knapper Kassen. Bildrechte: MDR/Grit Hasselmann

Nach dem Auszug steht man oft allein da

Laut Statistik verlassen junge Erwachsene mit durchschnittlich knapp 24 Jahren ihre Familien. Die jungen Menschen aus den Einrichtungen der Erziehungshilfe sind bisher in der Regel mit 18 Jahren aus der Jugendhilfe ausgeschieden. Oft ist dann aber die Ausbildung noch nicht angeschlossen oder sie sind noch nicht so weit gefestigt, dass sie alleine klarkommen können.

Diesem Problem wurde mit der Novellierung des SGB VIII 2021 Rechnung getragen. Diese Novellierung des Gesetzes räumt den jungen Volljährigen einen Rechtsanspruch für Hilfen bis zum 21. Lebensjahr ein.

Allerdings muss auch das von den Trägern bei den zuständigen Jugendämtern beantragt werden. Zahlen, wie oft das geschieht und wie oft es abgelehnt wird, existieren nicht. Deshalb will das Landesjugendamt die Umsetzung in der Praxis "in näherer Zukunft" betrachten und bewerten.

Bei Leonardo hat es funktioniert. Er kann seine Schule fertig machen, vielleicht sogar studieren. "Und wenn ich mich nicht gerade mit den Betreuern streite, habe ich keine konkreten Pläne, hier auszuziehen." Aber danach ist er, wie viele andere junge Menschen aus der Jugendhilfe, auf sich gestellt.

Sie können nicht zu Weihnachten in ihre Wohngruppe fahren, bei Liebeskummer oder wichtigen Entscheidungen im Leben nicht einfach ihre ehemaligen Betreuer anrufen. Umso wichtiger ist es, dass sie bei ihrem Auszug auf das Leben vorbereitet sind und sich zutrauen, das auch alleine zu meistern.

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MDR (gh)

Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | Exakt | 31. August 2022 | 20:15 Uhr

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