Bildung Kurz vor Schulstart: Ukrainische Lehrerin findet aus Bürokratie-Dschungel hinaus

26. August 2022, 07:20 Uhr

Knapp 20 ukrainische Schüler werden am ersten Schultag am Gymnasium in Hermsdorf nun doch nicht ohne Lehrerin dasitzen. Seit Monaten ist klar, dass der Schulleiter sie gerne als Lehrerin an der Schule hätte, seit Wochen kümmert sie sich um die Dokumente. Doch bis zum Schluss sah es so aus, dass sie nicht pünktlich starten kann. Wie sich nach unserem Bericht plötzlich doch ein Weg durch den dichten Bürokratie-Dschungel auftat.

Isabelle Fleck
Bildrechte: MDR/Flo Hossi

Anmerkung der Redaktion vom 26. August:

Kurz nach unserer Berichterstattung vom 20. August kam Bewegung in den Fall. Lehrerin Iuliia Zahdko sagt MDR THÜRINGEN, sie kann den Arbeitsvertrag nun schneller unterschreiben als gedacht. Grund war wohl, dass Bildungsminister Helmut Holter (Linke) nach unserer Anfrage noch einmal selbst eingegriffen hat.

Noch ist es ruhig am Staatlichen Holzland-Gymnasium Hermsdorf im Saale-Holzland-Kreis. Die Sekretärinnen arbeiten schon, der Schulleiter ist gerade von einer Dienstberatung in Gera zurückgekommen.

Auf seinem Schreibtisch liegen massenhaft Akten. Es sind unter anderem die Anmeldungen von ukrainischen Schülern, die am Gymnasium lernen wollen. Etwa 20 werden es bis zum Schulstart sein, vielleicht kommen noch einige dazu.

Formulare und Dokumente für Lehrerin aus Ukraine schwer zu beschaffen

Und es sind die Unterlagen von Iuliia Zhadko. Unzählige Dokumente hat die ukrainische Lehrerin schon für den Schulstart besorgt. Sie hat Glück, dass ihre Eltern ihr einige Unterlagen aus der Ukraine schicken konnten, dass das Haus noch steht und Papiere intakt sind.

Sie hat Dokumente beantragt und eine Tingeltangel-Tour hinter sich, die selbst manchen bürokratieerprobten Thüringer auf eine harte Probe gestellt hätte. Iuliia Zhadko sagt, sie hat "sehr sehr viele Seiten und Formulare ausgefüllt" und sich gewundert, "wie lange alles hier dauert".

Wir dachten immer, Deutschland ist sehr entwickelt. Doch mit den Papieren und Unterlagen - es sind zu viele Briefe. In fünf Monaten habe ich zwei Ordner voll. In der Ukraine ging das schneller.

Iuliia Zhadko

Sie zeigt ihr Telefon. Darauf ein offizielles Programm, das viele Ukrainer nutzen. Hier sind alle wichtigen Unterlagen drin: Führerschein, Reisepass, Geburtsurkunde, Impfzertifikat gegen Corona - nur eben keine amtlich beglaubigte Übersetzung der Masernimpfung oder des ukrainischen Strafregisters. Und das wird gleich noch wichtig.

In der Ukraine hatte Iuliia Zhadko zehn Jahre lang an der Volkshochschule Deutsch und Englisch unterrichtet. Danach war sie sechs Jahre selbstständig, hat Privatunterricht gegeben, Übersetzungen gemacht und zum Beispiel gedolmetscht, wenn die OSZE Wahlbeobachter in die Ukraine geschickt hat.

Russischlehrer für ukrainische Kinder

Für Schulleiter Thomas Löffler ein Glücksfall. Im vergangenen Schuljahr hatte er sieben Schüler aus der Ukraine. Ein Mädchen hat von seiner Bibliothek aus Online-Unterricht in der Ukraine gemacht und so das ukrainische Abitur abgelegt. Sie und die anderen wurden von einer Russischlehrerin betreut.

Die meisten waren froh, dass sie sich mit ihr verständigen konnten. Andere Eltern, erzählt Löffler, hätten das abgelehnt, dass ihre Kinder russisch sprechen sollen. Löffler sagt, das müsse er respektieren. Er habe früher auch mit seinen Eltern über Flucht und Krieg gesprochen, selbst Vertriebene. Es sei eine schwierige Situation. Bei der Anmeldung der Schüler müsse er die Mütter etwa fragen, wo der Vater des Kindes ist und ob sich beide das Sorgerecht teilen.

Wo ist der Vater, muss ich fragen. Wenn die Antwort dann lautet: An der Front - da schluckt man erstmal. Oder wenn ich frage, wo sie herkommen: Mariupol, Charkiw - da hat man sofort Bilder im Kopf.

Schulleiter Thomas Löffler

Glücksfall: Ukrainische Lehrerin, die deutsch spricht

Nun hat er also für die ukrainischen Schüler eine ukrainische Lehrerin, die ukrainisch spricht, in Deutsch und Englisch unterrichtet hat und unterrichten will. Löffler spricht von einem "Glücksfall". Aber ganz glücklich guckt er nicht. Denn hinter ihm, der Lehrerin, dem Schulamt, dem Bildungsministerium liegen anstrengende Wochen.

Damit die Lehrerin ihren Arbeitsvertrag unterschreiben und anfangen kann zu arbeiten, fehlen noch eine amtlich beglaubigte Übersetzung der Masernschutzimpfung, ein Auszug aus dem ukrainischen Strafregister - übersetzt und beglaubigt für 100 Euro pro Seite - und das deutsche Führungszeugnis.

Löffler kann das verstehen. Das seien die Regeln. Das Schulamt tue, was es könne - aber es fehle an Personal, an "Lotsen", an Flexibilität.

Iuliia Zhadko sei auf dem Amt sogar gefragt worden: "Woher weiß ich, dass Sie keine Schwerverbrecherin sind?" Der Schulleiter konnte es kaum glauben.

Behördenirrsinn - auch wenn sich alle bemühen

Alle Beteiligten, auch das Schulamt, seien wirklich bemüht. Aber man stoße ganz klar an "sächliche und personelle Grenzen", sagte Löffler. So wurde beispielsweise die Stelle erst Anfang Juli ausgeschrieben, das Bewerbungsgespräch war zwei Wochen später, dann kriegte die Lehrerin viel Post.

Sie müssen das, das, das, das, das, das und das nachweisen. Und dann ging der Behördenirrsinn los. Da ist keine Flexibilität. Das System ist so. Man muss versuchen, Wege zu finden, dieses System zu durchlaufen - vielleicht mit einem 'Lotsen'.

Schulleiter Thomas Löffler

Löffler erzählt, dass es bestimmte Unterlagen nur auf Anmeldung gibt, dass das falsche Zeugnis aus der Ukraine kam, dass das Schulamt dann gefragt werden musste, wie damit umgegangen wird. Er sagt, dass sich alle anstrengen, es hinzubekommen. Es klingt wie eine Entdeckungstour behördlicher (Irr?)-Wege. Es gehe hier um eine Lehrerin, die befristet für ein Jahr angestellt werden soll.

Da gehen Tage, Wochen ins Land. Das Schuljahr beginnt. Und das Ergebnis ist: Sie kann nicht an der Vorbereitungswoche teilnehmen und der Arbeitsvertrag wird erst am ersten Schultag unterschrieben. Die Schule darf sie deshalb erst am zweiten Schultag betreten.

Schulleiter Thomas Löffler

Unterlagen können nachgereicht werden

Auf den Fall angesprochen, sagte Bildungsminister Helmut Holter (Die Linke) im MDR THÜRINGEN-Interview, er müsse sich den Einzelfall anschauen. Aber wenn jemand "glaubhaft versichert und vielleicht Zeugnisse hat, die noch nicht übersetzt sind, wer in der Ukraine schon als Lehrerin oder Lehrer gearbeitet hat, der kann über diesen Weg in unser System. Die Voraussetzung ist, dass diese Nachweise gebracht werden. Aber davon gehe ich aus."

Er spricht davon, dass Thüringen "noch niederschwelliger werden" muss, damit "diese Frauen und Männer auch in unser Schulsystem kommen" können. Eine Erleichterung sei, dass die Deutschlehrerin keinen C1-Sprachniveau-Nachweis bringen müsse.

Wenn jemand als Lehrerin beispielsweise in der Ukraine gearbeitet hat, dann kann man davon ausgehen, dass es erstens den Abschluss gibt und zweitens auch ein Führungszeugnis vorgelegen hat.

Bildungsminister Helmut Holter

Dass die beglaubigte Übersetzung der Masern-Impfung schwierig zu beschaffen sei, weiß Holter. Doch "wenn erst einmal glaubhaft gemacht wird, dass die Impfung erfolgt ist, dann sollte das ausreichen. Aber dann muss es beigebracht werden. Die Ukraine ist digital bestens aufgestellt. Man kann dann von der Poliklinik oder vom Arzt diesen Impfnachweis nachreichen."

Wir müssen einfach unkomplizierter werden.

Bildungsminister Helmut Holter

Auf der Regierungsmedienkonferenz am 25. August hat MDR THÜRINGEN Bildungsminister Helmut Holter (Linke) erneut auf den Fall angesprochen. Er erklärte: "In dem Fall habe ich mich eingemischt und konkret nachgefragt. Der Vertrag ist unterschrieben worden und die Kollegin eingestellt worden. Das meinte ich mit ‚flexibel‘ - Wir brauchen jeden Lehrer und das ist der Beweis, wie es gehen kann."

Intervention des Bildungsministers bringt den Erfolg

Holter hatte die Kollegen offenbar nochmal auf die Linie aufmerksam gemacht, die er so erklärt: "Wenn wir Lehrer aus der Ukraine haben, die dort an einer Schule gearbeitet haben - dann können wir davon ausgehen, dass sie eine Ausbildung, Erfahrung und ein Führungszeugnis haben. Wir können sie einstellen und die Dokumente werden nachgereicht. Das kann später erfolgen."

Iuliia Zhadko hatte zunächst erfahren, dass sie ihren Arbeitsvertrag erst Mitte kommender Woche per Post erhalten soll. Einen Termin zur Unterschrift bekam sie in der Woche zuvor nicht mehr. Erst am ersten Schultag wäre zunächst wieder einer frei gewesen. Sie wäre also einen Tag zu spät zum Unterricht gekommen. Doch nach der Intervention des Ministers kann die Ukrainerin nun pünktlich als Lehrerin starten.

Auch Schulleiter Thomas Löffler ist nun froh, dass Iuliia Zhadko pünktlich beginnen kann. Sie hat nun sogar noch einige Tage der Vorbereitungswoche geschafft. "Ich nehme an Konferenzen teil und treffe die Kollegen. Es ist alles neu. Ich bin sicher, dass ich es schaffe. Nächste Woche beginnt das Schuljahr - es klappt." Iuliia Zhadko scheint erleichtert. "Die Frau im Schulamt war sehr nett. Wir haben schon alles schnell unterschrieben. Meine Beglaubigung reiche ich nach."

Iuliias Geschichte war ein Beispiel von vielen. Ein Termin nur ein paar Tage früher, bewirkt für sie aber viel und vielleicht hilft diese Erfahrung, dass andere Lehrer, denen es ähnlich geht, es leichter haben.

MDR (ifl)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Fazit vom Tag | 19. August 2022 | 18:10 Uhr

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