TraditionAlkohol und alte Bräuche: Die neue Generation der Thüringer Kirmesgesellschaften
Für viele Thüringer Orte ist die Kirmes der Höhepunkt des Jahres. Damit die Tradition weiterlebt, braucht es junge Leute und viele Gäste. Dafür rühren die Gesellschaften in sozialen Medien ordentlich die Werbetrommel. Dort erfolgreich zu sein scheint, wer sich abhebt und dem Alkohol frönt.
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Zwei kleine, pinke Mikrofone hält Joline Hamsch in der Hand. Normalerweise trifft sich die Kirmesgesellschaft in dem Gemeindehaus in Haarhausen im Ilm-Kreis zur Tanzprobe. Heute aber ist wieder Drehtag - für die Instagram-Videos. Dafür hat sich die 24-Jährige, die in einer Erfurter Werbeagentur arbeitet, Fragen ausgedacht, die die Kirmesburschen und -mädchen spontan beantworten müssen.
Mit dem Traktor durchs Dorf
Im vergangenen Jahr haben die Haarhäuser ihre Kirmespärchen vorgestellt. Das mache jede Gesellschaft mittlerweile so, heißt es. Entstanden sind kurze Videos, in denen die jungen Leute mit dem Traktor durchs Dorf fahren, aus einem Stiefel trinken oder auf dem Moped anrollen. Letzteres wurde knapp 150.000 Mal angeschaut.
Vor allem das mit der Simme lief gut, scheint so ein Dorfding zu sein.
Joline Hamsch | Kirmesgesellschaft Haarhausen
"Als wir fertig waren, sind die Zahlen so in die Höhe geschnellt - dann hatten die Videos megaviele Aufrufe und wir haben 500 Follower dazu bekommen", sagt sie, "vor allem das mit der Simme lief gut, scheint so ein Dorfding zu sein."
Es sei aber schwer, immer alle pärchenweise zusammenzutrommeln. Deswegen sollte in diesem Jahr jeder einzeln vor die Kamera. Routiniert treten die Frauen und Männer vor die Kamera und geben Antwort. Die Jungs scheinen sich wohler zu fühlen als ihre Tanzpartnerinnen.
Joline sagt, das liege daran, dass sie sich schon länger kennen, zum Teil miteinander aufgewachsen seien. Die Mädchen wechseln öfter mal, weil sie nicht immer aus dem Ort kommen. Wichtig sei nur, dass einer pro Paar aus Haarhausen stammt - eine Tradition.
Der Instagram-Account der Kirmesgesellschaft Haarhausen zeigt bunte Bilder der letzten Kirmes und die neuen Videos: Wer schmeißt die wildeste Hausparty? Wer ist immer am betrunkensten? Wer trinkt welches Getränk am liebsten? Natürlich geht es um Alkoholisches.
"Es geht schon viel ums Trinken, ja", sagt Joline Hamsch, sie selbst trinke aber kaum Alkohol. In Haarhausen gibt es keine Trachten oder Kirmestänze, dafür Disko und Feiern am Abend, außerdem eine Kirmes für die Kinder. Während die Gesellschaft die letzten Videos zum Thema "Wer ist das beste Team im Bier-Pong?" dreht, bauen die Burschen den Tisch für das besagte Trinkspiel auf, bei dem Bälle in mit Bier gefüllte Becher geworfen werden. "Das müssen wir jetzt ausfechten." Später am Abend will die Kirmesgesellschaft noch nach Mühlberg weiterziehen. Ein Muss für alle aus der Umgebung, heißt es.
Hochprofessionelle Videos kommen nicht gut an, die Leute wollen das echte Leben.
Joline Hamsch, Kirmesgesellschaft Haarhausen
Es gehe bei den Videos darum, Persönlichkeit zu zeigen und Menschen aus der Umgebung auf die Kirmes aufmerksam zu machen, so Hamsch. Inspiration dafür gebe es kaum, obwohl viele Vereine längst Social Media für sich entdeckt hätten. Es reiche aber längst nicht mehr, bloß Fotos und Programme hochzuladen. Aber es dürfe auch nicht zu gut aussehen. "Hochprofessionelle Videos kommen nicht gut an, die Leute wollen das echte Leben."
Dorfgemeinschaft: "Wir sind wie eine kleine Familie"
Und dieses echte Leben, das spielt sich für die jungen Menschen in Haarhausen ab Ende August vor allem bei der Kirmes ab. "Wir sind wie eine kleine Familie", heißt es von den Burschen. Und das müsse erhalten bleiben, weil viele, die weggezogen sind, spätestens zur Kirmes wiederherkommen.
Aber es sollen eben alle hier im Ort erreicht werden. "Wir drucken sogar noch Flyer und Plakate, was auch nicht mehr viele machen", sagt Max, Jolines Freund. Erst im vergangenen Jahr habe man erstmals auch den Freitag zum Tanzabend gemacht und deshalb müsse er stark beworben werden. Die viralen Videos hätten geholfen, auf das Event aufmerksam zu machen. Vor allem bei anderen Kirmesgesellschaften.
Freitagabend für die Jugend in Thüringer Dörfern
Andernorts hängt der Freitagabend in den Seilen: Es langweile die Gäste, immer die gleichen Bands zu sehen, sagt der Steinbacher Traditions- und Kirmesverein im Wartburgkreis. Dafür suche man dort für den Freitag noch Lösungen. In Bielen (Nordhausen) gibt es seit zehn Jahren eine "Club Night" und die locke weniger die Dorfbewohner, sondern alle aus dem Umkreis, die einfach Lust auf Party haben. Den Fokus auf die jungen Leute legen am Freitag zum Beispiel auch Großobringen im Weimarer Land oder Sachsenbrunn im Kreis Hildburghausen.
Um Nachwuchs machen sich die Haarhausener wenig Gedanken. So eine Kirmes verbinde mehrere Generationen und es rücke immer mal jemand nach. Der jüngste Kirmesbursche ist Johannes Güttich mit 15 Jahren, Philipp Bosecker ist mit 32 Jahren der älteste. Eine Obergrenze gebe es in Haarhausen nicht. An diesem Abend schaut auch ein Kirmespärchen vorbei, das gerade ein Baby bekommen hat. "Kirmesbursche 2031", scherzen die Männer.
Dass es wieder viele Jugendliche gibt, die an den Bräuchen teilnehmen, beobachtet auch Tino Etzold aus Zimmern. Im Umkreis Bad Langensalza organisiert er Events. Und die jungen Leute machen zwar teilweise Dinge anders und probieren sich aus mit neuen Bands und DJs. Aber auch das laufe gut. Man dürfe nur nicht erwarten, dass ein 100-Seelen-Ort jeden Abend 300 Gäste anlockt.
Junge Menschen wollen wieder Kirmes machen
Viele Besucher am Kirmeswochenende und die Tradition für junge Menschen attraktiv machen möchte auch die Kirmes Dorndorf im Wartburgkreis. Marlon Franke ist zuständig für die Dorndorfer in den sozialen Medien. Auf TikTok hätten sie innerhalb von einem Jahr so viele Menschen erreicht, dass sich sogar einige Jugendliche meldeten, um selbst mitzumachen. Das liege nicht zuletzt an den aufwendigen Videos, die produziert werden.
"Das war erst mal eine Schnapsidee, aber ich hab‘ es dann wirklich ernst gemeint", sagt Marlon Franke. Ein Filmtrailer für die Kirmes sollte es vor einem Jahr sein. Die anderen Kirmesmitglieder seien erst mal skeptisch gewesen. Mit ein paar von ihnen habe er es einfach ausprobiert. "Ich habe noch keine Kirmes gesehen, die Videos in der Qualität macht wie wir."
Ich habe noch keine Kirmes gesehen, die Videos in der Qualität macht wie wir.
Marlon Franke | Kirmesgesellschaft Dorndorf
Das Ergebnis war ein 3,5-minütiges Video. Jeder habe die Dorndorfer darauf angesprochen: beim Einkaufen, auf der Arbeit und andere Kirmesgesellschaften. In Konkurrenz stünde man mit denen aber nicht, sagt der 20-Jährige. "Ich habe noch keine Kirmes gesehen, die Videos in der Qualität macht wie wir."
Mehr als eine halbe Million Mal wurde eines der Videos auf TikTok angeschaut. "Mit solchen Zahlen haben wir nicht gerechnet. "Für andere ist das vielleicht nicht viel, aber für uns als Kirmes schon." Eine Nutzerin schreibt auf TikTok: "Die beste Werbung für eine Kirmes, die ich je gesehen habe." Und diese Aufmerksamkeit hätte den Dorndorfern zur letzten Kirmes auch mehr Besucher eingebracht, so Franke. Bald 30 Arbeitsstunden habe es gedauert bis zum Hochladen, so Franke. Natürlich ehrenamtlich. Er arbeitet eigentlich als Klempner.
Feiern und Alkohol im Fokus
In fast allen Videos geht es, ähnlich wie in Haarhausen, in irgendeiner Weise ums Feiern und um Alkohol. Franke sagt, würde er den Alkoholkonsum aus dem Fokus nehmen, dann hätte er weniger Ideen und die Videos seien nicht so witzig. "Zu einer Kirmes gehören die Traditionen und auch, mal ein Bier oder mehr zu trinken."
Das Ministerium für Bildung, Jugend und Sport teilte MDR THÜRINGEN auf Anfrage mit, dass Kirmes in Thüringen einen wichtigen Beitrag zur Verwurzelung junger Menschen in ihrer Heimat leistet, als Form der Begegnung und des Kennenlernens von Brauchtum. Dass Vereine in sozialen Medien ihre Arbeit vorstellen, sei möglicherweise sogar Anreiz, sich einzubringen.
Besonders kritisch zu sehen ist laut Ministerium, wenn beispielsweise die Arbeit im Verein missbraucht wird, um extremistisches Gedankengut zu verbreiten. Vorsicht gelte auch, wenn entgegen dem Jugendschutz der Konsum von Drogen, Alkohol und Zigaretten "verherrlichend" dargestellt wird.
In einem der letzten Videos stellen die Dorndorfer eine Schokoriegel-Werbung nach. Nur, dass in Dorndorf das schlecht gelaunte Kirmesmädchen mit einem Schluck Bier zum entspannten Burschen wird. Durch die Parodien hätten auch Jugendliche aus der Umgebung mitbekommen, dass nicht alles an der Tradition nur steif sein muss, sagt der 20-jährige Franke: "Eine Kirmes belebt das Dorf und das sollte erhalten werden. Da kommen alle zusammen. Dafür braucht es die jungen Leute."
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MDR (jn)
Dieses Thema im Programm:MDR THÜRINGEN - Das Radio | Vormittag | 02. November 2024 | 11:00 Uhr
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