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CDU-Innenpolitiker Raymond Walk ist Vorsitzender des Untersuchungsausschusses. Bildrechte: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Martin Schutt

Thüringer LandtagUntersuchungsausschuss "Politische Gewalt" fordert tausende Akten an

01. Juni 2022, 13:00 Uhr

Der Landtag soll klären, wie sich politisch motivierte Gewaltkriminalität in Thüringen entwickelt hat und was die Behörden dagegen tun. Dafür lassen sich die Abgeordneten riesige Aktenberge kommen. Worum geht es genau?

von Bastian Wierzioch, MDR THÜRINGEN

Ministerien, Verfassungsschutz, Polizeistellen, Amts- und Landgerichte sowie Staatsanwaltschaften sollen dem Untersuchungsausschuss "Politische Gewalt" im Thüringer Landtag das komplette Aktenmaterial zur politischen Kriminalität der Jahre 2011 bis 2021 zur Verfügung stellen. So geht es aus Beweisanträgen der beteiligten Landtagsfraktionen hervor, die MDR THÜRINGEN einsehen konnte.

Konkret geht es um Ermittlungsakten, Unterlagen über Strafverfahren, Observationsberichte, Vorgangsakten zu Personen als Quellen, Akten über Extremisten und Gruppierungen oder Unterlagen zu Finanzermittlungen, Durchsuchungen und Waffenfunden. Grob geschätzt könnte sich das angeforderte Material (in Papierform sowie digital durchsuchbar) auf mehr als 10.000 Akten mit mehr als einer Million Seiten belaufen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist allerdings fraglich, ob die Abgeordneten auch tatsächlich alles erhalten, was sie sich wünschen. Unter anderem könnten Gründe der Geheimhaltung oder laufende Ermittlungsverfahren dagegen sprechen.

Welchen Auftrag hat der Ausschuss?

Der Parlamentarische Untersuchungsausschuss trägt den Titel "Politische Gewalt: Umfang, Strukturen und politisch-gesellschaftliches Umfeld politisch motivierter Gewaltkriminalität in Thüringen und Maßnahmen zu ihrer Eindämmung". Er soll klären, wie sich die politisch motivierte Kriminalität in Thüringen in den vergangenen zehn Jahren entwickelt hat und wie die Thüringer Behörden mit diesen Entwicklungen umgegangen sind. In der Hauptsache wird es dabei um Rechtsextremismus sowie um Linksradikale gehen. Religiös motivierte Kriminalität und radikale Querdenker dürften vermutlich Nebenrollen spielen.

Radikale Querdenker dürften im Untersuchungsausschus weniger eine Rolle spielen. (Archivbild) Bildrechte: MDR/Peter Podjavorsek

Wer sitzt im Ausschuss?

Der elfköpfige Ausschuss setzt sich aus Abgeordneten der rot-rot-grünen Regierungskoalition sowie der oppositionellen Fraktionen von AfD und CDU zusammen. Eingesetzt wurde das Gremium auf Betreiben der CDU, die damit eines ihrer Minderheitenrechte als Oppositionspartei wahrnimmt. Ausschussvorsitzender ist der Abgeordnete Raymond Walk, ein ehemaliger Polizist, der für einen harten sicherheitspolitischen Kurs steht. Was der Ausschuss genau herausfinden soll, lässt sich in dem dazugehörigen Einsetzungsbeschluss nachlesen, der Walks Handschrift trägt.

Insgesamt 14 Einzelfragen soll nachgegangen werden: So soll unter anderem untersucht werden, wie viele Opfer politischer Gewalt die Behörden in den vergangenen zehn Jahren offiziell gezählt haben. Darüber hinaus wird gefragt, ob es "ein ausgeprägtes Dunkelfeld rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt" gebe, für das "die Einordung von Straftaten durch die Thüringer Polizei und eine mangelnde Strafverfolgung ursächlich" seien. Die These, wonach mangelhafte Polizeiarbeit für besagtes Dunkelfeld verantwortlich sei, wird von zahlreichen Politikern und Extremismus-Experten seit Jahrzehnten vertreten - bisher unwiderlegt.

Zudem möchten die Abgeordneten wissen, welche Auswirkungen der Verzicht von V-Personen hätte oder ob die Thüringer Sicherheitsbehörden in der Vergangenheit angemessen ausgestattet waren. Radikalen Linken sind in dem Beschluss drei Fragen gewidmet. Unter anderem wird gefragt, ob "linksextreme Gewalt eine neue Stufe" erreicht habe, und ob es in Thüringen "linksterroristische Ansätze" gebe. Von Rechtsterrorismus ist im Einsetzungsbeschluss hingegen keine Rede. Dies hatte für Kritik seitens der Linksfraktion gesorgt, die das CDU-geprägte Untersuchungs-Design bis heute als "unausgewogen und einseitig" kritisiert.

Akten und Sachverständige

Für ihr Aufklärungsprogramm laden die Abgeordneten sachverständige Zeugen vor - wie beispielsweise die CDU zur ersten Arbeitssitzung am Dienstag den Direktor des Thüringer Landeskriminalamtes. Jens Kehr soll zum Auftakt ein Lagebild zu politisch motivierten Kriminalität liefern. Zudem benötigt die CDU offenbar sehr viele Akten für die Untersuchungsarbeit.

Die Fraktion beantragte "Akten sowie polizeiliche Vorgänge, Verfahrensvorgänge und dazugehörige Unterlagen" zu sämtlichen "Ermittlungs- und Strafverfahren im Bereich der politisch motivierten Gewaltkriminalität in Thüringen seit 2011" sowie Unterlagen zu Observationen, verdeckten Überwachungsmaßnahmen und zum Einsatz menschlicher Quellen.

Dagegen fällt der Beweisantrag der AfD deutlich schmaler aus. Deren Ausschuss-Mitglieder fordern Material zu insgesamt 20 "herausragenden mutmaßlich linksextremistisch motivierten Straftaten" der vergangenen zehn Jahre an. Darunter Unterlagen zu Brandanschlägen. 2021 hatte es in Thüringen in mehreren Objekten gebrannt, die von der extrem rechten Szene genutzt wurden. In diesen wie in weiteren von der AfD angefragten Fällen dauern die Ermittlungen noch an.

Daher ist anzunehmen, dass die AfD-Vertreter mit den Unterlagen erst nach deren Abschluss rechnen können. Als Sachverständige lädt die AfD unter anderem eine Verfassungsschützerin aus Baden-Württemberg, den Chemnitzer Politologen Eckehardt Jesse sowie den Geschäftsführer des extrem rechten "Instituts für Staatspolitik" in Sachsen-Anhalt vor, das vom Verfassungsschutz beobachtet wird.

Linksfraktion kritisiert "Extremismus-Theorie"

Rot-Rot-Grün lädt als Sachverständige vor allem Experten für die extreme Rechte in den Ausschuss ein. Zur ersten Arbeitssitzung am Dienstag soll Julika Bürgin von der Hochschule Darmstadt zur sogenannten "Extremismus-Theorie" befragt werden. Was auf einen ersten Blick wie akademisches Klein-Klein aussehen könnte, beinhaltet wiederum Kritik der Linksfraktion am Untersuchungs-Design der CDU. Den Linken zufolge sei diese Theorie bis heute "Arbeitsgrundlage für Polizei und Verfassungsschutzbehörden" in Thüringen. Dabei führe ihre Anwendung zu einer "Gleichsetzung von 'Rechts' und 'Links' und damit zu einer Verharmlosung, teils gar Negierung rechter Gewalt". Dies sei fatal.

Aktenmaterial ordert die Regierungs-Koalition zu mehreren Dutzend Strafverfahren und Ermittlungen. Dabei handele es sich um eine Auswahl "besonders herausstehender Gewalt- und Straftaten". Bei einigen Vorfällen sei die politische Motivation der Täter von Behörden verneint worden. Zudem interessiert sich Rot-Rot-Grün für insgesamt 38 Personen und Gruppierungen aus dem extrem rechten Spektrum wie Neue Stärke, Turonen, Knockout 51 oder Arische Bruderschaft.

Der Ausschuss interessiert sich insbesondere für Personen und Gruppen aus dem extrem rechten Spektrum. Bildrechte: imago/Christian Schroth

Rechtsrock und NSU

Bei diesem Aktenberg allerdings belässt es Rot-Rot-Grün bei Weitem nicht. Die Ausschussmitglieder fordern zudem "sämtliche Unterlagen und Akten, welche seit 2011 in Zusammenhang mit Rechtsrock-Veranstaltungen" angefallen sind. Hierbei geht es aus Sicht der Antragsteller auch um den "Verdacht der Geldwäsche sowie der Finanzierung terroristischer Strukturen". Und noch mehr als das: Zusätzlich fordert die Regierungsfraktion sämtliche Unterlagen und Akten aus dem vergangenen NSU-Untersuchungsausschuss.

Dieser Aktenbestand befindet sich bereits im Landtag. Das übrige Material muss nun gescannt, vervielfältigt, transportiert und zuvor vor allem gesichtet werden, um der Verschlusssachen-Anweisung des Verfassungsschutzes nachzukommen. Soll heißen: Je nach Höhe des Geheimhaltungsstatus muss das Material auf unterschiedliche Weise zur Verfügung gestellt werden, etwa versehen mit digitalen Wasserzeichen oder für die Lektüre in eigens gesicherten Räumen des Landtags. Zuständig für die Aktenlieferungen sind das Thüringer Innen- und Justizministerium.

Auf MDR THÜRINGEN-Anfrage zu dem damit verbunden logistischen, organisatorischen, zeitlichen und personellen Aufwand teilte das Justizministerium mit: "Die gewünschten Verfahrensakten müssen zunächst nach Beschuldigtennamen oder Aktenzeichen individualisiert worden sein. Sodann müssen die jeweils zuständigen aktenverwahrenden Stellen (Staatsanwaltschaften und bei noch laufenden Verfahren auch Gerichte) um Mitwirkung ersucht werden."

Ein Sprecher des Innenministerium sagte dazu: "Sichtung und Prüfung machen umfangreiche Arbeiten und Abstimmungen erforderlich, genauer Umfang, Personenzahl und Zeit können zur Zeit nicht beantwortet werden." Von einem "erheblichem Aufwand" spricht in diesem Zusammenhang die Landtagsverwaltung: "Für die Abgeordneten müssen ausreichend Leseplätze in eigens dafür eingerichteten Räumen vorgehalten werden. Die Einsichtnahme muss wiederum durch die Landtagsverwaltung personell abgesichert werden." Zudem könnten Stahlschränke und Tresore zur ordnungsgemäßen Verwahrung der Unterlagen erforderlich sein. Die Arbeit des Untersuchungsausschusses soll bis Ende 2023 andauern. Rund 20 Arbeits-Sitzungen im Landtag sind dafür bisher vorgesehen.

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MDR (jml)

Dieses Thema im Programm:MDR THÜRINGEN - Das Radio | Fazit vom Tag | 31. Mai 2022 | 18:00 Uhr

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