1981: Reisebericht im "Stern"

Ein Jahr später reiste Vogel nach Nordhausen, Halle, Torgau und Cottbus. Auf diese Reise bereitete sich der Ministerpräsident intensiv vor. Von seiner Staatskanzlei ließ er sich einen dicken Band mit Artikeln und Aufsätzen zur DDR-Kirchenpolitik zusammenstellen. Nach seiner Rückkehr nach Mainz zeigte sich Vogel geschockt von seinen Entdeckungen: Historischen Bauten von internationalem Range drohe in der DDR zunehmend der Verfall. Wenn nicht sofort umfassend geholfen werde, bestehe kaum Hoffnung, alte Stadtkerne zu erhalten. Als Beispiel nannte Vogel den Dom zu Halle. Aus der Bundesrepublik sei individuelle und institutionelle Hilfe erforderlich. In einer offiziellen Pressemitteilung der Staatskanzlei ließ Vogel verbreiten, dass junge Menschen "ungehinderter als früher ihre Meinung äußerten". Für sie sei es "besonders bedrückend", dass "keinerlei Chance sähen", jemals die Bundesrepublik zu besuchen.

"Keine ganz normale Reise"

Im Frühjahr 1982 berichtete Vogel einem großen bundesdeutschen Publikum von seinen jüngsten DDR-Eindrücken: Im "Reise Journal" der Illustrierten "Stern" beschrieb er frei von jeder Polemik "Keine ganz normale Reise". Der lebendige Bericht vereint subjektive DDR-Eindrücke und kulturhistorisches Wissen. Der Ministerpräsident verriet, dass er den Trip nach Osten ganz normal in einem Frankfurter Reisebüro gebucht habe. Natürlich sei ihm klar gewesen, dass die "zuständigen" DDR-Behörden von seinem Kommen wüssten und man "überall auf uns vorbereitet" sei. Spätere registrierte er auch die "steten diskreten DDR-Begleiter". Die Reiseroute führte Vogel zunächst mit seinem Mercedes-Dienstwagen ins Eichsfeld. Dort besuchte die Gruppe in Worbis einen Gottesdienst. Dann ging es weiter in die triste Innenstadt von Nordhausen. "Wo die Altstadt erhalten blieb, ist der Zerfall weit fortgeschritten, in Halberstadt ist er fast unaufhaltsam. Selbst die Stützen, die dort alte Fachwerkfassaden vor dem Einsturz bewahren sollen, sind morsch".

Ein paar rote Lappen an einer Schnur sollen die Passanten vor herabstürzenden Brocken schützen. Hier und dort Gardinen vor den Fenstern, ein Anzeichen, dass in den Häusern noch Menschen wohnen. Wenn diese Stadtteile eines Tages abgebrochen werden müssen, dann wird eine Stadt wie Halle ihre Urbanität, ihre Funktion als ein Stück europäischer Kultur verloren haben.

Bernhard Vogel 1982 im "Stern

Die Westbesucher machten auch ihre Erfahrungen mit der DDR-Gastronomie: Erst nach längerem Suchen habe die Reisegruppe eine HO-Gaststätte mit einem Mittagsangebot gefunden. Die Portionen seien reichlich gewesen. In diesem Zusammenhang erinnerte sich Vogel an eine frühere Reise nach Dresden. Im dortigen "Interhotel" sei die Speisekarte groß gewesen, "doch der Ober empfahl dann allen Gästen die gleichen Gerichte: Es gab nichts anderes." Vogel empfindet in dem Nordhäuser Gasthaus "das Gefühl des lieblosen Abgefertigtwerdens." Bei der Bedienung fehle das Interesse, das persönliche Engagement. "Und so decken sich Tristesse und Langeweile auch über diesen Esssaal in Nordhausen - wie ein Schleier, der auch über den Häusern liegt, denen die Farbe fehlt".

Moder, Schmutz und Taubenkot in der Kirche

Vogel erinnerte sich in dem Zeitschriftenartikel auch an einen gescheiterten Frisör-Besuch in Halle. Zwar sei das Geschäft am Montagmorgen geöffnet gewesen, aber er habe keinen Termin gehabt. Vogel inspizierte in Halle einen Buchladen und widmete sich der Zeitungslektüre. Laut einem Stasi-Bericht besorgte er sich die "Berliner Zeitung" und das Hallesche SED-Blatt "Freiheit". Vogels Fazit: "Zeitungen gibt es keine, die sich zu lesen lohnen." In der Bücherstube "Gutenberg" kaufte sich der Ministerpräsident die Erzberger-Biografie von Wolfgang Runge. Seine Begleiter nahmen sich laut Stasi-Bericht noch die "Politische Ökonomie des Kapitalismus" und eine Schmuckausgabe des "Kommunistischen Manifestes" mit. Auch in Halle bot sich dem Gast ein Bild des Verfalls. Zwar seien einige historische Gebäude in einem guten Zustand, aber er sieht auch Stadtteile in einem "erbarmungswürdigen Zustand". Im "Stern" schrieb Vogel: "In den Dachrinnen wachsen Gras und kleine Bäume, die Stockwerke sind teilweise in sich zusammengesunken. Wie lange mögen Außenwände altehrwürdiger Bürgerhäuser noch Wind und Wetter standhalten?" Der Dom habe ein "Bild des Grauens" geboten. Sein Zustand sei erschreckend. "So etwa dürfte es nach dem 30-jährigen Krieg in deutschen Kirchen ausgesehen haben." "Es fehlen uns die Worte!", schrieb er angesichts von Moder, Schmutz und Taubenkot in das Besucherbuch.

Wodka unter den Augen der Stasi

Anschließend sei die Gruppe nach Torgau weitergereist. Dort habe sich schnell herumgesprochen, dass Vogel in der Stadt sei. Von der Elbe sei es dann nach Cottbus weitergegangen. Während der Ministerpräsident auch hier zerfallene Bürgerhäuser und Villen entdeckte und feststellte, dass das Stadttheater morsch sei, nutze die Stasi die Gelegenheit, um die kleine Reisegruppe immer wieder heimlich zu fotografieren. Auch sonst ließ der Geheimdienst Vogel nicht aus den Augen und notierte jede Kleinigkeit: Die Reisenden hätten zum Abendessen im Hotel zwei Flaschen Wodka geleert. Die Zeche insgesamt: 161 DDR-Mark.

Vogel bemerkte von der Überwachung offenbar nichts. Er hatte einen Blick für die Landschaft und die Menschen. Im verwilderten Schlossgarten von Branitz beobachtete Vogel einen Mann beim Mähen: "Der einsame Schnitter mit seiner Sense und seinem Schleifstein, der den Versuch unternimmt, den Park zu erhalten, wirkt in der Abenddämmerung fast wie ein Symbol." Zum Abschluss der Reise unternahmen die Westdeutschen eine Kahnfahrt im Spreewald. Angesichts der schönen Landschaft seien die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen Deutschland und Deutschland verblasst, so Vogel rückblickend.

Während der Reise, so Vogel, habe es immer wieder Gespräche mit DDR-Bürgern gegeben: zufällige und absichtliche. Zwei Themen hätten die Gespräche bestimmt: die Situation in Polen und die fehlenden Reisemöglichkeiten. "Ich glaube nicht", schrieb Vogel, "dass diese Leute alle unbedingt wegwollten. Sie wollten nur mal dorthin, wo sie nicht hindürfen."

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