Das Gebäude der Freien Waldorfschule Weimar von außen
Schwere Vorwürfe gegen die Waldorfschule Weimar werden laut: Es geht um seelische und physische Gewalt. Bildrechte: MDR/Grit Hasselmann

Gewalt gegen Kinder Schwere Vorwürfe gegen Waldorfschule in Weimar

06. Mai 2021, 12:28 Uhr

Die Vorwürfe gegen die Waldorfschule Weimar wiegen schwer. Ab 2005 soll es hier zu seelischer und physischer Gewalt gegen Kinder gekommen sein. Und das über fast fünfzehn Jahre hinweg. Vorkommnisse, die bis heute nicht aufgearbeitet wurden.

Paul Klinke besuchte die Waldorfschule in Weimar von 2003 bis 2016. Er ist ein Betroffener, als Zehnjähriger bekommt er von einem Lehrer eine Ohrfeige. Seinen Eltern erzählt er damals nichts von der Ohrfeige, er hält das für normal – heute wirft er der Schule vor, solche Übergriffe totgeschwiegen zu haben: "Ich finde es schlimm, dass es da so ein großes Drumherum gibt. Also da muss es viele Mitwisser geben, dass niemand unter den Lehrern sagt: So, der fliegt wenigstens mal aus der Schule oder wird suspendiert, ehe diese Vorwürfe aufgeklärt sind."

Physische und seelische Gewalt

Sein Vater, Bernd Klinke, ist Musiker, spielt mehrere Instrumente. Er schickte seine beiden Söhne auf die Weimarer Waldorfschule. Sein jüngster Sohn erzählt ihm dann, dass ihm ein Lehrer mit dem Knie in den Oberschenkel gestoßen habe. Bernd Klinke sucht das Gespräch: "Der Lehrer war da völlig uneinsichtig und ich habe ihn darauf aufmerksam gemacht, dass er das nächste Mal eine Anzeige zu erwarten und keine Bedingungen zu stellen hat. Der hat sich einfach an Recht und Gesetz zu halten."

Bernd Klinke erfährt, dass derselbe Lehrer drei Jahre zuvor seinen älteren Sohn Paul geohrfeigt hat. Was er nicht ahnt: seine Söhne sind nicht die einzigen Kinder, die in der Waldorfschule Weimar physischer und seelischer Gewalt ausgesetzt sind.

Keine Einzelfälle

Eltern, die das Gespräch mit der Schule suchen, werden nach eigener Darstellung immer wieder vertröstet, oft abgewiesen oder es wird ihnen einfach nicht geglaubt. Doch 2019 unterzeichnen 37 Eltern einen offenen Brief, dort heißt es unter anderem:

Wir wünschen, dass die uns bekannten übergriffigen Lehrer*innen zuerst und zeitnah von ihren Positionen in der Selbstverwaltung entbunden werden. (…) Daraus resultiert die rückhaltlose Aufklärung arbeitsrechtlicher Verfehlungen, notfalls auch mit der Konsequenz, sich von den betreffenden Kollegen trennen zu müssen.

offener Elternbrief (2019)

FAKT-Nachforschungen in Weimar

Das FAKT-Team telefoniert mit betroffenen Eltern und ehemaligen Schülerinnen. Die Betroffenen werfen insgesamt elf Pädagogen Fehlverhalten vor. Bärbel Fiedler hat den offenen Brief mitunterzeichnet – die Reaktion von Schule und Trägerverein macht sie noch heute fassungslos. Das Erste, was passiert sei, wären Anrufe von Mitgliedern des Vorstandes an einzelne Unterzeichnerinnen des Briefes gewesen, sagt sie: "Ob sie denn wüssten, was sie da unterschrieben hätten – dass Lehrer entlassen werden sollten? Das war die erste Reaktion auf diesen Brief."

Ein Dialog kommt nicht zustande. Stattdessen kündigt der Trägerverein im April 2020 einigen der Unterzeichnern die Schulverträge. Deren Kinder müssen die Schule verlassen. Auf telefonische Nachfrage bekommt FAKT zunächst keine Antworten. Später wird schriftlich mitgeteilt, die Kündigungen einiger Schulverträge im Nachgang des offenen Briefes hätten ganz andere Gründe. Außerdem hätten Schule und Trägerverein sich längst ausreichend mit den Vorwürfen auseinandergesetzt. Weiter heißt es:

Der Verein verwehrt sich ausdrücklich gegen Vorwürfe einiger weniger Eltern, die die öffentliche Entschuldigung durch den Verein und das gesamte Kollegium der Schule fordert und damit sowohl den Verein als auch die Schule (…) diskreditiert und gleichzeitig bewusst und gewollt den Schulbetrieb störend versucht, zu beschädigen.

Waldorfschule Weimar

Problembewusstsein: Fehlanzeige?

Henning Kullak-Ublick vom Vorstand des Bundes der Freien Waldorfschulen sieht das Problem der Waldschule Weimar in einem fehlenden Problembewusstsein. Es hätten sich in Weimar Strukturen etabliert, die weniger mit Transparenz als mit informellen Hierarchien zu tun hätten. Man habe der Schule gesagt, dass sich das dringend ändern müsse – ansonsten drohe ein Ausschluss aus dem Bund der Freien Waldorfschulen.

Seit 2003 ist in Thüringen für jede Schule eine Schulkonferenz vorgeschrieben, die Schülerinnen, Schüler, Eltern und Lehrerinnen und Lehrer Mitsprache ermöglichen soll. In Weimar wurden diese Vorgaben nicht umgesetzt. Auf die Frage, wie das möglich sei, antwortet das Thüringer Bildungsministerium:

"Derzeit führt das Schulamt eine schulaufsichtliche Prüfung durch. Diese soll zum einen bestimmte Ende 2019 aufgekommene Vorwürfe aufklären, (…) als auch dazu führen, dass die Schule organisatorisch zu einer rechtskonformen Organisation gelangt."

Vorkomnisse vollständig aufarbeiten

Ende Mai soll der Prüfbericht dem Bildungsausschuss im Thüringer Landtag vorliegen. Vivien Sänger und Michael Hasenbeck gehören zu der Elterninitiative, die die Vorkommnisse aufarbeiten möchte und auf Rücknahme der Kündigungen der Schulverträge drängt. Sie hoffen, dass der Druck aus der Politik und vom Bund der Freien Waldorfschulen Wirkung zeigt. 

"Die Schule ist aus sich selbst heraus, glaube ich, nicht mehr reformierbar. Es bestehen für mich ernstliche Zweifel, ob die Schule geeignet ist oder die der Vereinsvorstand unter Schulträger geeignet sind, die Schule verantwortlich im schulrechtlichen Sinn zu führen", sagt Michael Hasenbeck und erklärt weiter: "Und das Tragische an der Stelle ist, weder ich noch andere sind angetreten, um diese Schule zu gefährden. Die Gefährder sitzen in dem Vorstand und dem der Geschäftsführung und bei den Eltern, die wegschauen, weil ihre Kinder nicht betroffen sind."

Quelle: FAKT

Dieses Thema im Programm: Das Erste | FAKT | 04. Mai 2021 | 21:45 Uhr

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