Ein Bürgermeister am Schreibtisch
Seit 2011 im Amt: Bürgermeister Michael Reinz an seinem Schreibtisch im Treffurter Rathaus. Bildrechte: MDR/Ruth Breer

35 Jahre Mauerfall Vom Grenzer zum Bürgermeister - ein besonderer Lebensweg

09. November 2024, 07:00 Uhr

Die Erinnerung an die frühere innerdeutsche Grenze wird im früheren Sperrgebiet hochgehalten, auch in Treffurt im nördlichen Wartburgkreis. Bürgermeister Michael Reinz (parteilos) hat schon zu mehreren Mauerfall-Jahrestagen gemeinsam mit seinen Kollegen aus hessischen und thüringischen Nachbargemeinden Feste und Feiern organisiert, auch in diesem Jahr. Vor 35 Jahren gehörte er selbst zu den Grenzsoldaten in Treffurt.

Es gibt nicht mehr viele sichtbare Spuren der einstigen Grenze. Das "Blaue Wunder" ist eines: die Brücke über die Werra zwischen Treffurt und Heldra diente einst als Sperrwerk, Rechen im Wasser sollten Menschen davon abhalten, über den Fluss zu fliehen. Michael Reinz deutet auf das rechte Ufer: "Dort stand einst ein großer Beobachtungsturm, ein B-Turm mit Posten, um das ständig abzusichern, mit einem großen Scheinwerfer drauf."

Eine Wanderkarte
Früher gefährlich, heute nur noch kurios: Großburschla in Thüringen und das hessische Heldra ragen jeweils in das andere Bundesland hinein. Bildrechte: MDR/Ruth Breer

Der Turm wurde 1990 abgerissen, die Brücke blieb. Über sie verläuft heute ein Premium-Wanderweg. Eine Infotafel erklärt, wie einst die Sperranlagen aufgebaut waren. Und wie kompliziert die Grenze verläuft: sowohl das thüringische Großburschla wie auch das hessische Heldra liegen in Landzipfeln ineinander verschlungenen an der Werra.

Hundelaufanlagen und Signaldraht

Michael Reinz kennt den Grenzverlauf gut. Nicht nur, weil er schon seit bald 50 Jahren in Treffurt lebt und dort in dritter Amtszeit Bürgermeister ist. Er hat diese Grenze einst kontrolliert. Nur einen recht kurzen Zeitraum, zwischen Sommer und November 1989.

Aber er kann den Aufbau der Sperren immer noch anschaulich beschreiben, die Hundelaufanlagen mit den kaukasischen Schäferhunden, die nur unregelmäßig gefüttert wurden, der Signaldraht, der auch bei Wildwechsel Alarm auslöste und für Verunsicherung sorgte, was den zuständigen Posten wohl erwartete.

Für den Studienplatz zur Armee

Im Alter von sechs Jahren zog Reinz mit der Familie ins Sperrgebiet nach Treffurt. Sie hätten mit der Grenze gelebt, erzählt er, dort sei einfach Schluss gewesen. Man kam nicht dahin, wohin man blicken konnte. Das Leben sei trotzdem unbeschwert gewesen, sorgenfrei. Weil er Tierarzt werden wollte, sei klar gewesen: für den Studienplatz musste er länger zur Armee. Er entschied sich für eine vierjährige Dienstzeit. Das habe die Chancen auf den Studienplatz erhöht, sagt Reinz, und einen heimatnahen Einsatzort gesichert.

Ein Bürgermeister in der Natur
Auf dem einstigen Kolonnenweg - heute ist er ein Wanderweg. Bildrechte: MDR/Ruth Breer

Nach einem Jahr an Hochschule für Grenztruppen in Suhl kam er tatsächlich zurück nach Treffurt. Dort hatte er bereits als Jugendlicher erlebt, wie Grenzer arbeiteten. Von der Schule aus gab es Kontakt zur Kaserne, in der Freizeit habe man die Soldaten in der Disco auf dem Normannstein getroffen. Auch habe ihn die "naturnahe Aufgabenstellung" gefallen, sagt Michael Reinz.

Statt als Zugführer von der Führungsstelle aus die Posten zu lenken, sei er lieber die Grenze abgelaufen, um den Sechs-Meter-Streifen und die Posten vor Ort zu kontrollieren.

Nicht auf Menschen geschossen

Wenn der Signaldraht Alarm auslöste, da sei da schon "ein bisschen flaues Gefühl" gewesen, sagt er. "Man hat ja nie mit richtigem Grenzdurchbruch gerechnet, man wusste schon: naja, es ist wohl doch Wild – aber es hätte genauso anders kommen können." Und der Schießbefehl? "Ja, wir hatten die Schusswaffe dabei", sagt Reinz mit Nachdruck, "und gegen einen Menschen hätte ich sie nicht angewendet."

Ja, wir hatten die Schusswaffe dabei. Und gegen einen Menschen hätte ich sie nicht angewendet.

MichaelReinz

Die Friedensgebete und Demonstrationen im Sommer und Herbst 1989 hat er als Grenzsoldat aufmerksam verfolgt. Es sei "immer kribbeliger" geworden, sagt Reinz. Er ist froh, dass die Grenztruppen damals nicht zur Verteidigung eingesetzt wurden.

Um den 9. November herum habe sein Hauptinteresse dem Fußball gegolten. Er spielte selbst in der ersten Mannschaft, die an der Tabellenspitze lag, und wollte einen Kollegen aus der Eisenacher Kaserne für Treffurt gewinnen. Auf dem Weg dorthin am 10. November fielen ihm die vielen Autos auf, die Richtung Westen unterwegs waren.

Rufe "Macht die Grenze auf"

Nach dem 9. November drängten auch die Menschen im Sperrgebiet darauf, dass sich dort die Grenzen öffneten. Bis Treffurt habe man die Großburschlaer rufen hören "Macht die Grenze auf", erinnert sich Reinz. Das geschah dann am 13. November. In diesen Tagen hätten sie sich als Grenzsoldaten in einem besonderen Spannungsfeld befunden, erzählt er: "Wie reagieren wir? Ist es wirklich so, dass die Grenzen offenbleiben – oder wird das Ganze dann doch vielleicht wieder zurückgedreht?"

Ein Bürgermeister in der Natur
Eine Infotafel erklärt den besonderen Grenzverlauf und die frühere Funktion des Fluss-Sperrwerks. Bildrechte: MDR/Ruth Breer

Er selbst sei erst zwei-drei Wochen später mit zwei Freunden im Trabant über die Grenze nach Hessen gefahren – allerdings nicht über die Kontrollstelle in Treffurt. "Es war ja die Frage: Was passiert, wenn Du als Mitglied der Grenztruppen dorthin fährst? Das war immer noch eine sehr vage Angelegenheit."

Reinz selbst wurde dann auch an der Kontrollstelle in Treffurt eingesetzt. Es habe keine Anfeindungen gegeben, sagt er. Die Menschen seien alle froh gewesen, ungehindert von Ost nach West oder von West nach Ost zu gehen und hätten sich "ihr Stempelchen abgeholt".

Bankkaufmann statt Tierarzt

Schnell war auch das Verhältnis zu den Kollegen vom Bundesgrenzschutz freundschaftlich, sagt Reinz. Seine letzten Wochen bei den Grenztruppen hat er damit verbracht, Grenzzäune abzubauen und Stacheldraht aufzurollen.

Ein Bürgermeister vor einer Fußgängerbrücke
Das "blaue Wunder" - als Sperrwerk in der Werra sollte die Konstruktion Flüchtende aufhalten. Bildrechte: MDR/Ruth Breer

Im Juni 1990 endete sein Dienst vorzeitig. Der Studienplatz in Leipzig war weg. Er musste sich umorientieren und bekam einen Ausbildungsplatz als Bankkaufmann in Eschwege, der erste Thüringer Azubi dort. Gerade ausgelernt, ging es wieder zurück nach Treffurt, wo er die Filialleitung der Bank übernahm – von 1993 bis 2011.

Als parteiloser Einzelkandidat wurde Michael Reinz im Mai 2011 zum Bürgermeister gewählt, zweimal bestätigten ihn die Treffurter im Amt. Er hat mittlerweile ein Diplom als Verwaltungsbetriebswirt. Hinter seinem Schreibtisch im schmucken Fachwerk-Rathaus hängen Zeugnisse seiner Laufleidenschaft, T-Shirts, Medaillen und Urkunden. Reinz ist ein Marathon-Mann, für einen Bürgermeister vermutlich ein sehr passender Sport.

Menschen vor einem Ortseingang
Werbung für eine gemeinsame Veranstaltung: den Tag des Mauerfalls am 9.11. begehen die hessisch-thüringischen Nachbarorte in diesem Jahr gemeinsam in Großburschla. Bildrechte: MDR/Ruth Breer


Zusammenarbeit über die Grenze hinweg

Die Grenze beschäftigt ihn tatsächlich immer noch. Die Randlage und die verschlungene Grenzführung haben ihn und seinen Kollegen der hessischen Nachbarstadt Wanfried, Wilhelm Gebhardt (CDU) zusammengebracht.

Beide Bürgermeister verfolgen mittlerweile eine Reihe von gemeinsamen Projekten. Sie möchten eine grenzüberschreitende Bereichsfeuerwehr einrichten, beteiligen sich an einer Bürgerenergie-Genossenschaft zur Nahwärmeversorgung hessischer und thüringischer Ortsteile.

Das Abwasser von Großburschla könnte viel einfacher in Wanfried geklärt werden. Und gemeinsam mit Wanfried und der thüringischen Nachbargemeinde Südeichsfeld möchte Treffurt den Unstrut-Werra-Radweg von Heyerode bis Heldra erneuern.

Zwei Männer nebeneinander
Besonders eng arbeitet Michael Reinz mit seinem Bürgermeister-Kollegen im hessischen Wanfried, Wilhelm Gebhard ('CDU, links) zusammen. Bildrechte: MDR/Ruth Breer

Doch einfach ist das weder mit der länderübergreifenden Genehmigung noch mit der Finanzierung, sagt Reinz. Geld aus Thüringen dürfe nicht in Hessen verbaut werden und umgekehrt. Da sei die Landesgrenze "hinderlich, manchmal auch nervig".

Der Bürgermeister hofft auf eine bessere Regelung, um solche übergreifenden Projekte einfacher umsetzen zu können. Denn eigentlich läuft es sehr gut miteinander – hüben und drüben an der einstigen Grenze, die sich vor 35 Jahren öffnete.

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Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Fazit | 09. November 2024 | 18:00 Uhr

16 Kommentare

Thommi Tulpe vor 3 Wochen

Außerdem: Wenn ich mich recht erinnere, galt das mit der Möglichkeit des sogenannten Bausoldaten für Menschen, die wegen ihres Glaubens Waffen und Gewalt ablehnten - Christen z.B. . Ich war nie gläubig.
Natürlich hätte ich von meiner 3-Jahre-Verpflichtung vor Ablehnung des Fahneneides zurücktreten können. In dem Fall sagte man aber sofort sehr eindeutig: Dann ziehen wir Sie nicht zum Dienst, wann Sie es wollen. Sie werden dann zum Dienst verpflichtet, wann wir (wir = die uns Regierenden und Kontrollierenden) es wollen. Das bedeutete in der Regel, dass man wartete, bis man eine Familie gründete, Vater wurde. Diese Tatsache war in solchen Fällen zumindest bei den meisten Eingezogenen auch bekannt.

Thommi Tulpe vor 3 Wochen

"Was man sich damit aber verbaute war eine höhere Ausbildung."
Sie sagen es: So ich mit "Durchhaltevermögen" den Armeedienst verweigert hätte, wäre letztendlich das Ergebnis für mich das selbe gewesen wie das Prädikat "politisch labil", was man mir irgendwann anhing. "Durchhaltevermögen" kostet Zeit. Und ich wollte selbst im Alter von 19 Jahren keine Zeit verschwenden.
Ich sehe meine Armeezeit nicht völlig als verlorene Zeit an. Zumindest lernte man viel an Menschenkenntnis. Und das hat mir Zeit meines Lebens genützt.

Freies Moria vor 3 Wochen

Nach 35 Jahren ist so ziemlich alles verjährt aber hier gibt es offenbar Leute, die darauf noch rumhacken müssen.
Das würde ich sogar für berechtigt halten, aber nur dann wenn man sich ja über die jetzige unveränderte Einstellung und nicht die damaligen Entscheidungen beschwert.
Viel wichtiger als solcher Kleinkram ist, was wirklich getan wird.
Darauf sollte man schauen, und nicht auf das was gesagt wird.
Dann würde man auch gescheite Entscheidungen in Bundes- und Landespolitik bekommen.
Mindestes in Treffurt haben die Wähler das offenbar begriffen - kein Wunder dass man in Berlin auf die Provinz schimpft.

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