Analyse Thüringer Wohnungsmarkt: Warum es weniger Neubauten gibt
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09. Juni 2023, 14:55 Uhr
Wohnungsmangel trotz Leerstand: In Thüringen sinkt die Zahl der Neubauten stark. Nicht nur teure Kredite und hohe Materialkosten sind die Gründe dafür. Dabei werden nicht nur mehr, sondern auch andere Wohnungen benötigt.
In Thüringen ist die Zahl der Genehmigungen für neue Wohnungen seit Jahresbeginn im Vergleich zum Vorjahr deutlich gesunken. Die Zahl der Aufträge für die Thüringer Wohnungsbau-Industrie ging ebenfalls im Vergleich zum Vorjahr stark zurück.
Die Gründe dafür sind vielfältig und reichen von hohen Materialkosten über überbordende Bürokratie bis hin zu den Flüchtlingen aus der Ukraine, die Wohnungen benötigen. Dazu kommt, dass die Entwicklungen zwischen ländlichem Raum und größeren Städten sehr unterschiedlich sind. Die Landespolitik reagiert darauf unter anderem mit einem umstrukturierten Förderprogramm für den sozialen Wohnungsbau.
Thüringer Wohnungsbau-Quote unter Bundesschnitt
Mit dem Antritt der Ampelregierung wurde auch das Versprechen von 400.000 neuen Wohnungen pro Jahr abgegeben. Dass dieses Ziel nach 2022 auch 2023 nicht erreicht wird, dürfte inzwischen allen Beteiligten klar sein. 2022 sind deutschlandweit 295.275 Wohnungen entstanden, 4.046 davon in Thüringen.
Nach Angaben des Thüringer Landesamtes für Statistik (TLS) entspricht dies einem Rückgang von 8,1 Prozent gegenüber dem Jahr 2021. Bei der Zahl neu gebauter Wohnungen gehörte Thüringen damit zu den Schlusslichtern. Nur Bremen und das Saarland bauten noch weniger Wohnungen. Aufgrund der geringeren Bevölkerungsdichte in Thüringen ist die geringe Zahl an Neubauten teilweise erklärbar. Doch kommen in Thüringen schon seit Jahren weniger neu gebaute Wohnungen je 1.000 Einwohner als im Bundesschnitt.
Genehmigungen brechen zum Jahresbeginn um fast die Hälfte ein
Auch in Zukunft könnte sich der Trend der vergangenen Jahre in Thüringen fortsetzen. Im ersten Quartal 2023 wurden 830 neue Wohnungen genehmigt. Die Zahl sank somit um 42,9 Prozent gegenüber dem Vorjahresquartal. Nach dem Statistischen Bundesamt lässt sich die Zahl der Baugenehmigungen als frühzeitiger Indikator für die zukünftige Bauaktivität nutzen. Daraus lässt sich ableiten, dass wahrscheinlich auch in Zukunft weniger gebaut wird.
Schlechte Bedingungen für Wohnungsbau
Die Ursachen dieser Entwicklung sind vielfältig. Der Hauptgeschäftsführer des Bauindustrieverbandes Hessen-Thüringen, Burkhard Siebert, führt die Stagnation beim Wohnungsbau auf deutlich schlechtere Rahmenbedingungen in den vergangenen Jahren zurück.
Steigende Zinsen würden Kredite zur Baufinanzierung teurer und damit unattraktiv machen. Die Thüringer Sparkassen gaben auf Nachfrage dazu an, dass sie 2022 weniger Geld für Baukredite zugesagt haben. Bisher sei 2023 sogar ein deutlicher Rückgang spürbar gewesen. In den Jahren zuvor war das Volumen für Darlehenszusagen allerdings kontinuierlich gewachsen.
Laut dem Bauindustrieverband sind dazu die Baukosten durch erhöhte Materialpreise signifikant gestiegen. Auch die Daten des Statistischen Bundesamtes zeigen, dass nahezu alle Baumaterialien im Jahresschnitt 2022 teurer waren als 2021. Vor allem Materialien, die energieintensiv hergestellt müssen, waren betroffen. Stabstahl wurde 40,4 Prozent teurer, Flachglas sogar 49,3 Prozent. Insgesamt verteuerte sich der Neubau von Wohngebäuden um 16,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Auch Bauaufträge brechen massiv ein
Deshalb habe sich die Auftragslage deutlich verschlechtert, wie der Bauindustrieverband Hessen-Thüringen mitteilt. Im März 2023 seien in Thüringen Aufträge in Höhe 18,6 Millionen Euro eingegangen, 43,7 Prozent weniger als im März 2022. Aktuell würden nach Verbandsangaben noch erhebliche Kapazitäten für Bauvorhaben bestehen. Die Bauindustrie stünde für neue Projekte also bereit.
Die Gründe für den Stau am Bau
Der häufig vermittelte Eindruck, es würden Wohnungen vor allem deshalb nicht gebaut, weil die Bauunternehmen ausgelastet und Baumaterialien nicht verfügbar seien, ist falsch. Gerade das für den Wohnungsbau nötige Material ist wieder ausreichend verfügbar. Und das Personal fehlt eher in den Baubehörden, weshalb die Genehmigungs- und Planungsprozesse oft nur langsam vorankommen.
Hohe Materialkosten und teurere Finanzierungen sind für den Rückgang von Neubauten verantwortlich. Auch längere Planungs- und Genehmigungsverfahren sind ein Hemmnis. Eine Studie der Arbeitsgemeinschaft für zeitgemäßes Bauen aus dem Jahr 2023 zeigte, dass die Brutto-Bauzeit im Bau für bezahlbaren Wohnraum seit 2014 stetig anstieg.
Dauerte die Phase der Projektierung, Planung, Genehmigung und Submission damals noch zwölf Monate, waren es 2022 bereits 24 Monate. Von der Planung bis zur Fertigstellung werden pro Projekt insgesamt fast 55 Monate benötigt, also mehr als viereinhalb Jahre.
Abseits von ökonomischen Faktoren ist vor allem der demografische Wandel für die zukünftigen Entwicklungen auf dem Thüringer Wohnungsmarkt entscheidend. Laut dem Verband Thüringer Wohungs- und Immobilienwirtschaft (VTW) spielt dieser für Wohnungsunternehmen bei der Einschätzung der künftigen Nachfragentwicklung eine herausragende Rolle.
Prognosen des Thüringer Landesamtes für Statistik zeigen: Bis 2042 werden nur die Regionen Erfurt, Jena und Weimar wachsen. Neben dem Bevölkerungsrückgang ändert sich auch die Altersstruktur. Das Durchschnittsalter steigt und lag 2021 bei 47,6 Jahren. Thüringen ist damit das zweitälteste Bundesland nach Sachsen-Anhalt.
Hohe Nachfrage in der Stadt, hoher Leerstand auf dem Land
Der Bevölkerungsschwund der vergangenen Jahre ist bereits jetzt auf dem Thüringer Wohnungsmarkt spürbar. Der Verband Thüringer Wohnungs- und Immobilienwirtschaft gab an, dass seine Mitgliedsunternehmen 2021 thüringenweit einen Leerstand von neun Prozent hatten. Das entspricht rund 28.830 Wohnungen. Dabei existiert ein starkes Land-Stadt-Gefälle.
In den drei Regionen mit positiver Bevölkerungsprognose - Erfurt, Weimar und Jena - lag der Leerstand lediglich bei vier Prozent. Auch dort gibt es Wohnungen, die trotz hoher Nachfrage leer stehen. Doch handelt es sich dabei meist um Wohnungen in Plattenbaugebieten. In anderen Regionen Thüringens ist die Nachfrage dagegen deutlich geringer. Der Leerstand lag dort bei elf Prozent. Einige dieser leeren Wohnungen werden in Zukunft zurückgebaut oder abgerissen.
Zahl der Sozialwohnungen in Thüringen sinkt weiter
Auf MDR THÜRINGEN-Anfrage zur aktuellen Wohnungsmarktsituation teilte das zuständige Thüringer Ministerium für Infrastruktur und Landwirtschaft mit, dass auch Thüringen einem bundesweiten Negativtrend folgt: Die Zahl öffentlich geförderter Wohnungen ist rückläufig. Jedes Jahr fallen mehr Sozialwohnungen weg, als neue gebaut werden. 2022 wurden nur 139 Sozialwohnungen geschaffen. Allein 2023 werden dagegen voraussichtlich 1.217 Sozialwohnungen wegfallen. 2024 sollen es 736 Wohnungen sein.
Problematisch sei dies in den städtischen Regionen Erfurt, Weimar und Jena. Dort bestehe der größte Bedarf an Sozialwohnungen. Die Situation sei aber nicht mit anderen Großstädten zu vergleichen. In den übrigen Regionen Thüringens bestehe dagegen ein geringerer Bedarf an Sozialwohnungen. Ministeriumsprecherin Konstanze Gerling-Zedler bezeichnete die Wohnungssituation im bundesweiten Vergleich daher insgesamt als eher entspannt.
Ländlicher Raum benötigt mehr barrierefreie Wohnungen
Umgekehrt hieß es aus dem Ministerium, dass eine geringere Nachfrage in ländlichen Regionen nicht bedeute, dass dort keine neuen Wohnungen gebaut werden müssen. Im Gegenteil, denn trotz hohem Leerstand würden neue Wohnungen benötigt - und zwar vor allem barrierefreie. Mit dem demografischen Wandel in Thüringen steige auch der Bedarf an senioren- und behindertengerechten Wohnungen. Dieser Meinung ist auch der Verband Thüringer Wohnungs- und Immobilienwirtschaft und plädiert für den Neubau barrierefreier Wohnungen.
Neue Förderrichtlinie soll Wohnungsbau ankurbeln
Um den verschlechterten Rahmenbedingungen zu trotzen und den Anforderungen des Thüringer Wohnungsmarktes gerecht zu werden, hat Thüringens Bauministerin Susanna Karawanskij (Linke) im Mai 2023 eine überarbeitete Förderrichtlinie für den sozialen Wohnungsbau vorgestellt. Sie löst das bisherige "Innenstadtstabilisierungsprogramm" ab. Dabei wurden die bisher getrennten Richtlinien für den Neubau und die Modernisierung zusammengefasst.
Die neue Richtlinie soll die unterschiedlichen Bedarfe der Städte und des ländlichen Raumes differenziert berücksichtigen. Damit rückt besonders der ländliche Raum Thüringens ins Blickfeld. Neubauten sollen da entstehen, wo es hohe Bedarfe gibt. Zusätzlich sollen gestiegene Baukosten besser berücksichtigt werden.
Zuletzt wurden 2022 über das "Innenstadtstabilisierungsprogramm" 337 neue Wohnungen mit 35 Millionen Euro gefördert. Für 2023 stellt die Landesregierung einen Finanzrahmen von circa 70 Millionen Euro bereit. Aus Sicht des Verband Thüringer Wohnungs- und Immobilienwirtschaft ist dies nicht ausreichend. Jährlich sei eine Investition von 150 Millionen Euro für die Wohnraumförderung nötig.
Ukraine-Krieg mischt Marktsituation auf
Bisher ist in Thüringen von einem Bedarf von 40.000 Wohnungen bis 2030 ausgegangen worden. Das geht aus dem zweiten Thüringer Wohnungsmarktbericht hervor. Bei der aktuellen Bauquote ist dieses Ziel realistisch. Allerdings stammt der Bericht aus dem Jahr 2018 und wird nur in größeren Zeitabständen veröffentlicht, um langfristige Entwicklungen widerzuspiegeln.
Das bedeutet auch, dass der Einfluss von Geflüchteten gar nicht berücksichtigt wurde. Gerade im Rahmen des Krieges in der Ukraine kam es zu einer größeren Fluchtbewegung nach Deutschland. 38.000 geflüchtete Menschen hat Thüringen 2022 aufgenommen. Die Auswirkungen der Zuwanderung auf den Thüringer Wohnungsmarkt sind deshalb unklar.
Auf Nachfrage gab das Thüringer Ministerium für Infrastruktur und Landwirtschaft an, dass die nächste Veröffentlichung des Berichts erst 2025 geplant sei. Eine aktuellere Prognose, wie viele Wohnungen in Thüringen tatsächlich fehlen, gibt es nicht.
Gleichzeitig geht man im Ministerium davon aus, dass die Fluchtbewegungen eine weiter steigende Nachfrage nach Wohnraum auslöst. Wie der Verband Thüringer Wohnungs- und Immobilienwirtschaft mitteilte, mache sich die Fluchtbewegung durch eine sinkende Leerstandquote bemerkbar.
Inwiefern sich die Situation entwickeln wird, bleibt abzuwarten. Es könne niemand wissen, wie viele Geflüchtete kommen und bleiben. Vor allem für den ländlichen Raum könne die Unterbringung von Geflüchteten auch Chancen für Entwicklung bieten.
MDR (dhl)
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN | MDR THÜRINGEN JOURNAL | 07. Juni 2023 | 19:00 Uhr
Erichs Rache am 09.06.2023
Liebe @MDR-Redaktion,
ich bin voll IM Thema!
Der "Thüringer Wohnungsmarkt und die sinkende Anzahl an Neubau-Genehmigungen" hat sehr wohl etwas mit der "Altersentwicklung unserer Gesellschaft" zu tun.
Was sich Bundes- und Landesregierungen mit ihrer total verkorksten, weil reaktionären "Familienpolitik" leisten ... geht gar nicht mehr!
MDR-Team am 09.06.2023
@Erichs Rache: Bitte besinnen Sie sich ab jetzt auf das Thema des Artikels. In dieser Kommentarspalte soll es um den Thüringer Wohnungsmarkt und die sinkende Anzahl an Neubau-Genehmigungen gehen und nicht um den Sozialstaat und Kritik daran im Allgemeinen.
Beste Grüße
die MDR THÜRINGEN-Onlineredaktion
Erichs Rache am 09.06.2023
@Thommi Tulpe
"soziale Wohltaten" ???
"Politik machen, bedeutet, den Leuten so viel Angst einzujagen, dass ihnen jede Lösung recht ist" (angeblich W. Weidner)
"Wenn die Angst regiert, kann man die Sozialsysteme umbauen, wie es Schröder mit seiner Agenda 2010 getan hat, also den Kündigungsschutz lockern, den Arbeitnehmern mehr Sozialabgaben aufbrummen, die Arbeitslosenunterstützung kürzen. "Wir müssen anerkennen und aussprechen, dass die Altersentwicklung unserer Gesellschaft, wenn wir jetzt nichts ändern, schon zu unseren Lebzeiten dazu führen würde, dass unsere vorbildlichen Systeme der Gesundheitsversorgung und Alterssicherung nicht mehr bezahlbar wären", sagte Schröder 2003, um die Agenda 2010 durchzudrücken!
Wenn die Angst regiert, kann man die Lebensarbeitszeit erhöhen, wie es die Große Koalition 2006 getan hat. Man kann die Leute dazu anhalten/zwingen mit Riester/Rürup privat (!) vorzusorgen, wovon vor allem Versicherungen profitiert haben!
Noch Fragen, Kienzle? :-)??