Eurovision Song Contest Ukraine beim ESC: Ein Stück Hoffnung in Zeiten des Krieges

14. Mai 2022, 06:08 Uhr

Die Ukraine ist diesmal klarer Favorit beim Eurovision Song Contest. Politisiert ist der Wettbewerb seit Jahren und die Band Kalush hatte schon vor der ESC-Teilnahme einen Hit, sozusagen einen "Kriegssoundtrack" geliefert.

Mann vor Flagge
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

So wie die Ukrainer momentan auf Vieles verzichten müssen, wird es in diesem Jahr auch keine ausgelassenen Kneipenrunden beim Eurovision Song Contest-Schauen geben. Die ukrainische Band Kalush Orchestra, der Ethno-Ableger der erfolgreichen Rap-Gruppe Kalush, geht am Samstag mit ihrem Hit "Stefania" als klarer Favorit ins Finale des ESC. Zu sehen sein wird der ESC aber nicht wie sonst auf dem Hauptsender, denn der zeigt im Moment nur den TV-Marathon "Gemeinsame Nachrichten". Zu diesem gemeinsamen Nachrichten-Dauerprogramm hatten sich die größten Fernsehsender schon zu Beginn des großen Krieges zusammengetan. Der ESC läuft stattdessen auf dem Kultursender des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, aber Sperrstunden und drohende Bombenalarme machen das gemeinsame Feiern auswärts unmöglich.

In Zeiten des russischen Angriffskrieges hat die ukrainische Gesellschaft eben viele andere Sorgen. So brauchte die nur aus Männern bestehende Band beispielsweise aufgrund des Kriegsrechts eine Sondergenehmigung, um für die Zeit des ESC überhaupt ins italienische Turin ausreisen zu dürfen. Trotzdem steigt nach Kalushs souveränem Halbfinale-Auftritt die Vorfreude auf den Samstag und auf den wahrscheinlichen Sieg. Sätze wie "Erst der Sieg beim ESC, dann der Sieg gegen Putin" sind gerade in den sozialen Netzwerken nicht zu übersehen.

Für die Ukraine war der ESC stets von großer Bedeutung und fast durchgängig eine Erfolgsstory. 2004 und 2016 haben die ukrainischen Teilnehmer den Wettbewerb gewonnen und im letzten Jahr belegte die Band Go_A mit ihrem Mix aus Electronic Dance Music und Folk den soliden fünften Rang. Als der Eurovision Song Contest 2017 zum letzten Mal in Kiew stattfand, war das ein riesiges Volksfest, das zum Teil an die Fußball-EM 2012 erinnerte.

ESC in der Ukraine selten unpolitisch

Traditionell ist der ESC in der Ukraine wie in vielen Ländern Osteuropas aber auch stark politisch aufgeladen. Da die Regeln des ESC jedoch explizite politische Botschaften verbieten, musste beispielsweise 2005 der Song "Razom nas bahato" ("Gemeinsam sind wir viele") des ukrainischen Duos Greenjolly vor dem Wettbewerb umgedichtet werden. Die Originalversion war 2004 die inoffizielle Hymne der Orangenen Revolution und eine direkte Unterstützung für den einstigen Präsidenten Juschtschenko.

Politisch aufgeladen waren auch spätere Wettbewerbe. Zwei Jahre nach der russischen Annexion der Krim gewann 2016 die krimtatarische Sängerin Jamala den Wettbewerb. In ihrem ergreifenden Lied "1944" sang sie über die Deportation ihres Volkes von der Halbinsel in der Stalin-Zeit. Im folgenden Jahr gab es beim ESC in Kiew dann einen Streit über die Teilnahme der russischen Sängerin Julia Samojlowa. Sie war nachweislich über Russland auf die Krim gereist, was nach ukrainischer Gesetzgebung aber verboten ist und in der Regel mit einer Einreisesperre bestraft wird. Und so verboten die ukrainischen Behörden Samojlowa auch die Einreise in die Ukraine, Russland zog anschließend seine Teilnahme zurück.

Spannend geht es in der Ukraine aber auch schon bei den nationalen Vorentscheiden zu. Und das einerseits musikalisch – die nationalen Wettbewerbe gehören zu den wichtigsten Unterhaltungsevents des Jahres – andererseits aber auch politisch. So gewann 2019 die Sängerin Maruv den Vorentscheid in einem harten Konkurrenzkampf. Doch schon während des nationalen Ausscheids gab es eine Diskussion über Maruvs Konzerte in Russland, denn Auftritte ukrainischer Künstler in Russland waren nicht allen in der Ukraine recht. Teile der Gesellschaft sowie der für den ESC zuständige öffentlich-rechtliche Sender waren allerdings der Ansicht, es sei Privatsache der Sängerin, wo sie touren würde, beim ESC vertrete sie jedoch ihr Land. Nach heftigen öffentlichen Auseinandersetzungen nahm die Ukraine am Ende gar nicht am ESC 2019 teil. Wegen Maruvs Ausschluss lehnten auch ihre Konkurrenten ab, dabei zu sein.

Ukrainischer Rap im Zeichen des Krieges

Und auch 2022 kam es nur wenige Tage vor dem Beginn des großen Krieges wieder zu einem Skandal. Denn der eigentliche Gewinner des Vorentscheids war nicht Kalush Orchestra, der Ethno-Ableger der erfolgreichen Rap-Gruppe Kalush, sondern die Rapperin Alina Pash. Allerdings stellte sich heraus, dass sie nach der Krim-Annexion die Halbinsel von Russland aus kommend besucht hatte – und wurde deswegen disqualifiziert. Kalush legt mit dem diesjährigen Wettbewerbssong "Stefania" ein Lied vor, dass sich auch ohne ESC-Bezug vorher schon zum Top-Hit entwickelt hatte. Die gelungene Mischung aus Rap und ukrainischem Folk belegt schon seit Monaten vordere Plätze in den Charts und ist der Mutter des Frontmanns gewidmet.

Ein anderes Lied von Kalush, "Dodomu" ("Nach Hause") von 2021, gilt inzwischen sogar als DER Song dieses Krieges und wird besonders von ukrainischen Soldaten viel gehört. Gerade für sie ist das Motiv der Heimkehr im Moment sehr bewegend, aber auch für viele andere Ukrainer, die ihr Zuhause verlassen mussten. Kalush, eine erst 2019 gegründete Band, stieg schon vor der großangelegten russischen Invasion zur A-Prominenz auf und steht zudem für einen wichtigen Kulturwandel. Während die Charts noch vor kurzem von russischen Rappern dominiert wurden, haben ihnen Künstler wie die ukrainische Rapperin Alyona Alyona und eben Kalush in den letzten Jahren massive Konkurrenz gemacht. Nach Kriegsbeginn sind nun russische Songs von der Spitze der Charts fast völlig verschwunden.

Kalush ist sehr beliebt und ihr Song "Stefania" kann sich auch musikalisch sehen lassen. Deswegen gehen die meisten Ukrainer davon aus, dass der Favoritenstatus der Ukraine beim ESC nur zum Teil damit zu tun hat, dass sich ihr Land mitten im Krieg befindet. Gleichzeitig ist der Wunsch groß, dass der Eurovision Song Contest im nächsten Jahr wieder in einer friedlichen Ukraine stattfinden kann. Ob die Sicherheitslage das im Falle eines ukrainischen Sieges tatsächlich zulassen würde, lässt sich im Moment allerdings nicht einschätzen.

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 10. Mai 2022 | 08:25 Uhr

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