Mischa, ein Schuhputzer aus Tbilissi sitzt vor dem Bahnhof mit zwei Bürsten in der Hand
Mischa sitzt vor dem Hauptbahnhof von Tbilissi und wartet auf Kundschaft Bildrechte: Giorgi Janelidze/MDR

Ende einer Ära Georgien: Der letzte Schuhputzer von Tbilissi

01. Juni 2023, 08:16 Uhr

Bis vor rund 20 Jahren gehörten sie noch fest zum Stadtbild der georgischen Hauptstadt: Die Schuhputzer. Heute ist der Beruf fast ausgestorben. Doch am Hauptbahnhof von Tbilissi sorgt Mischa Akopov auch heute noch unerschütterlich für sauberes Schuhwerk. Ein gepflegtes Erscheinungsbild ist ein Spiegelbild der Seele, sagt er.

"Man schaut dem Menschen zuerst auf die Schuhe und danach in Augen." Diese Redewendung hat sich Mischa Akopov zu eigen gemacht – und sorgt dafür, dass zumindest die Schuhe seiner Kunden einen guten Eindruck machen. Tagein, tagaus sitzt der 74-Jährige auf seinem abgewetzten Stuhl neben dem Eingang des Hauptbahnhofes von Tbilissi, vor sich den erhöhten Sitz für die Kundschaft, neben sich die Schraubgläser mit handgemachter Schuhcreme, wie es unter georgischen Schuhputzern Tradition ist. Sein wichtigstes Werkzeug sind aber seine ebenfalls handgemachten Bürsten: die etwas festere aus Schweineborsten und die weichere aus Pferdehaar. Beide hat er von einem inzwischen verstorbenen Kollegen geschenkt bekommen. Zwei georgische Lari – umgerechnet rund 80 Cent – kostet es, sich von Mischa die Schuhe auf Hochglanz bringen zu lassen, doch er lässt beim Preis durchaus mit sich reden.

Zwei Hände mit Handbürsten putzen einen Lederschuh
30 Jahre Erfahrung: Routiniert geht Mischa seiner Arbeit nach. Bildrechte: Giorgi Janelidze/MDR

Seit fast 30 Jahren macht Mischa diesen Job – und für viele ist er von seinem Stammplatz am Hauptbahnhof nicht mehr wegzudenken. Dabei hatte er früher einen ganz anderen Beruf: Er war Lkw-Fahrer. Doch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden viele Werke, Fabriken und andere industrielle Infrastruktur stillgelegt. Mischa hatte keine Waren mehr zu transportieren und musste sich etwas Neues suchen. Seitdem arbeitet er als Schuhputzer – und ist der festen Überzeugung, dass ein Mensch mit gepflegten Schuhen auch ein gepflegtes Privatleben hat.

Eine Lehre musste er nicht machen. Schuhputzer ist kein Beruf, der irgendwo unterrichtet wird. Neulinge schauen den erfahreneren Putzern zu – und beginnen irgendwann selbst mit der Arbeit.

Die Geschichten der Kunden

Jeden Tag kommt Mischa bei der Arbeit mit seinen Kunden ins Gespräch, hört sich ihre Geschichten an – und hat über die Jahre Vorlieben entwickelt: "Ich mag es nicht, wenn die Kunden über ihre Probleme sprechen, es macht mich traurig und meinen Tag kaputt. Ich mag freundliche Kunden, die über ihre guten Taten sprechen und stolz darauf sind", erzählt Mischa.

Mischa putzt einem Kunden die Schuhe
Beim Putzen hört sich Mischa die Geschichten seiner Kunden an. Bildrechte: Giorgi Janelidze/MDR

Hin und wieder sitzt dann auch jemand vor ihm, der wirklich etwas zu erzählen hat. Der berühmte Fußballer Vladimer "Vova" Gutsaev etwa, der mit Dynamo Tbilissi im Jahr 1981 den Europapokal der Pokalsieger gewann, war einer seiner Stammkunden. "Der hat mir immer über seine Erfolge und Auslandsreisen erzählt. Es hat immer Spaß gemacht, mit ihm zu reden", erinnert sich Mischa. Und wird ein bisschen nostalgisch: "In seiner Zeit, auch früher, in den 60-70ern, sind die Fußballfans bei uns mit geputzten Schuhen, Anzügen und Krawatten ins Stadion gegangen. Das alles gehörte zu Stadtkultur."

Teil der Alltagskultur von Tbilissi

Auch die Schuhputzer waren lange Zeit ein fester Bestandteil der Alltagskultur von Tbilissi. Um die vorvergangene Jahrhundertwende hätten auf fast jeder Straße Schuhputzer - die sogenannten "Metschisten" - gesessen, bei denen die Kundschaft Schlange stand, sagt der stellvertretende Direktor der georgischen Nationalbibliothek, Mirian Khositashvili: "Der Beruf ist mit der Zeit so populär geworden, dass fast jeder zweite Bürger, der bei einem Putzer vorbeikam, sich bei ihm hingesetzt hat und sich die Schuhe putzen ließ, bevor er zu Arbeit ging. Es gibt mehrere Quellen, die darauf deuten, dass es oft vorkam, wenn man am Tag gelangweilt oder nichts zu tun hatte, aus Gewohnheit oder dem Ritual zuliebe sich bei den Metschisten hingesetzt hat, um sich die ledernen Schuhe polieren zu lassen", sagt der promovierte Ethnologe.

Mirian Khositashvili, Doktor für Ethnologie, stellvertrettender Direktor der Nationalbibliothek Georgiens
Früher waren die Schuhputzer wichtige Nachrichtenbörsen, sagt der Ethnologe Mirian Khositashvili. Bildrechte: Giorgi Janelidze/MDR

Das hatte in Zeiten, in denen es noch kein Smartphone gab, noch einen anderen Effekt, so Khositashvili: "Diese Menschen (die Schuhputzer –d. Red.) haben immer unheimlich viele Informationen von ihren Kunden gesammelt.  Mit ihnen zu kommunizieren war eine sehr angenehme und praktische Sache: Sie waren die Ersten, die tägliche Stadtnachrichten erhalten haben."

Ein aussterbender Beruf

Doch die Zeiten ändern sich und mit ihnen der Bekleidungsstil. Lederschuhe sind aus der Mode gekommen. Das lässt den Bedarf nach den Diensten eines Schuhputzers sinken. Der Beruf wird in fünf bis zehn Jahren ganz ausgestorben sein, ist der Ethnologe überzeugt: "Es gibt nur noch ein paar Putzer in der Stadt, aber sie haben mehr symbolische Funktion".

Schuhputzwagen mit Stuhl
Mischas Arbeitsplatz vor dem Hauptbahnof von Tbilissi. Bildrechte: Giorgi Janelidze/MDR

Am Hauptbahnhof hat Mischa Akopov eine ganz ähnliche Beobachtung gemacht. Als er vor 30 Jahren anfing, gab es alleine am Hauptbahnhof rund 20 Schuhputzer, bei denen die Menschen Schlange standen: "Früher haben sich auch Studenten hingesetzt, um mit geputzten Lederschuhe zu Uni zu gehen. Es kamen auch die Schüler der höheren Klassen. Aber jetzt tragen sie alle teure Sportschuhe, es gibt kein Bedarf für Lederschuhe. Die Sportschuhe trage sogar ich, da sie sehr bequem sind."

Oft sitzt der 74-Jährige stundenlang untätig herum, weil niemand seine Dienste benötigt. Und so finden seine guten Schuhbürsten immer seltener Verwendung bis sie, wenn er sich irgendwann zur Ruhe setzt, gar nichts mehr zu tun bekommen. Der Gedanke erfüllt Mischa mit Wehmut: "Diese Bürsten sind 40 Jahre alt und hatten vier oder fünf Besitzer, alle sind tot. Ich habe sie geschenkt bekommen und bin jetzt der letzte Inhaber. Ich kann es an niemanden weitergeben. Wem soll ich die Bürsten schenken, wer braucht sie?! Wenn ich gehe, gehen sie auch."

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