Polen Von fliegenden Schlesiern und laufenden Fahrgästen

08. Mai 2019, 09:52 Uhr

"Das war der absolute Tiefpunkt", sagt Jürgen Murach resignierend. Er ist in der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung für die Verkehrspolitik zuständig. Seit vielen Jahren kümmert sich der Eisenbahnenthusiast auch um die Bahnverbindungen nach Polen. Aber viele gibt es davon nicht mehr. Am 14. Dezember 2014 – dem Tiefpunkt – stellte die Deutsche Bahn alle Direktverbindungen nach Wrocław, dem ehemaligen Breslau, ein. Fünf Fernzüge verkehrten danach noch täglich zwischen Deutschland und Polen. "Alle auf der Strecke Warschau-Berlin. Weniger waren es seit dem Mauerfall nie", sagt Murach.

Geografisch bilden die beiden Staaten mittlerweile das Zentrum Europas, auf den Schienen verläuft zwischen ihnen jedoch eine unsichtbare Grenze. Die gab es nicht immer.

Im Nazi-Express nach Breslau

Die dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts: Die Nationalsozialisten treiben ihre Kriegspläne systematisch voran und investieren dabei auch in den technischen Fortschritt. Der zeigt sich besonders auf der Schiene. Schon seit 1933 verkehrt zwischen Berlin und Hamburg mit dem "fliegenden Hamburger" der erste Stromlinienzug der Welt. Er war auch der schnellste.

Ähnliches wünscht sich die Reichsbahn für die deutschen Ostgebiete. Und so entwickelt der Hersteller Linke-Hofmann in Breslau in Anlehnung an das Hamburger Vorbild einen "fliegenden Schlesier". Am 15. Mai 1936 befährt der violette Schnellzug erstmals die Strecke Beuthen-Breslau-Berlin. Die knapp 350 Kilometer zwischen der schlesischen Metropole Breslau und der deutschen Hauptstadt legt er dabei in zwei Stunden und 45 Minuten zurück. Höchstgeschwindigkeit: 160 Kilometer pro Stunde. Doch bereits 1939, kurz vor dem deutschen Überfall auf Polen wird die Verbindung wieder eingestellt.

Gekappte Schienen an der Grenze

Jürgen Murrach und Modell des Berliner Hauptbahnbahnhofes
Jürgen Murach Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Die Grenze verläuft seit Kriegsende entlang der Oder und Neiße. Schlesien und Wrocław gehören fortan zur Volksrepublik Polen. "Da gab es große Einschnitte", sagt Jürgen Murach. 1946 demontiert die Rote Armee alle Zufahrtsgleise nach Polen. Später hätten auch "die sozialistischen Freunde die Strecken im Grenzgebiet zurückgebaut. Aus strategischen Gründen". Die Züge des "Fliegenden Schlesiers" gehören ab 1945 ebenfalls der Volksrepublik. Sie fahren nach dem Krieg noch einige Jahre internationale  Strecken, etwa nach Wien oder Prag. 1973 werden die Züge außer Dienst gestellt.

Mit der Mauer fällt auch die Sowjetunion. Und so nehmen die unabhängige Republik Polen und die wiedervereinte Bundesrepublik bereits 1992 mit dem Berlin-Warszawa-Express eine direkte Verbindung zwischen den beiden Hauptstädten auf. In den folgenden zwei Jahrzehnten wird sie mehrfach modernisiert. In mittlerweile fünfeinhalb Stunden legt der Zug die 550 Kilometer zurück. Das sei aber eine Ausnahme, sagt Murach: "Sowohl in Berlin als auch in Warschau lagen die Prioritäten nach der politischen Wende auf nationalen Strecken." In die grenznahe Infrastruktur habe es kaum Investitionen gegeben.

Zwei Lokwechsel auf 350 Kilometern

Die Folgen zeigen sich auch auf der wieder eingeführten Strecke Berlin-Wrocław. Krieg, Grenzverschiebung und Fremdherrschaft haben die ehemalige Expressstrecke arg gebeutelt. Marode Gleise und Abschnitte ohne Oberleitung ließen die Fahrtzeit auf vier Stunden anschwellen. Wegen der fehlenden Elektrifizierung muss in Cottbus eine Diesellokomotive angekoppelt werden, hinter der Grenze übernimmt dann eine polnische E-Lok. Mit dem Auto oder Bus ist man wesentlich schneller.

Beiderseits der Grenze kursieren teils abenteuerlichen Geschichten über die Reisen mit dem "EC Wawel". Wer nicht musste, meidet ihn. Bis eben zu jenem historischen Tiefpunkt im Dezember 2014, als die Verbindung komplett eingestellt wird. Fortan erreicht man Wrocław von Berlin aus per Bahn nur über Umwege und muss häufig umsteigen. Die Fahrt dauert fünfeinhalb Stunden, doppelt so lange wie vor 80 Jahren.

Zu Fuß über die Grenze

Grenzübergreifende Zugverbindungen seien hochkompliziert, erklärt Jürgen Murach. Mit den Bundesländern, Wojewodschaften, Bahnunternehmen, Verkehrsministerien und Bahnaufsichtsbehörden seien fast ein dutzend Akteure beteiligt. Und besonders das deutsche Eisenbahnbundesamt bremse den Bahnverkehr regelmäßig wieder aus.

So erließ das Amt zwischenzeitlich eine Regelung, der zufolge Züge nur in deutsche Bahnhöfe einfahren dürfen, wenn sie über ein bestimmtes Sicherheitssystem verfügen. Im Alltag von Reisenden und Pendlern zwischen Schlesien und Sachsen hieß das: die polnische Regionalbahn hielt in Zgorzelec, kurz vor der deutschen Grenze. Die Fahrgäste liefen dann zu Fuß 600 Meter über die Grenzbrücke bis in den Bahnhof Görlitz. Dort stiegen sie dann in eine deutsche Regionalbahn.

(ah, sb)


Über dieses Thema berichtet der MDR auch im: MDR AKTUELL RADIO | 08. Mai 2019 | 06:09 Uhr

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